Vorwort
125 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei in Brasilien (1888) erscheint es den
Autoren an der Zeit ein kleines einführendes Lexikon herauszugeben – das
Ergebnis einer über 30jährigen Forschungstätigkeit -, das eine Übersicht über
den gegenwärtigen Stand der Forschung der Afrobrasilianistik gibt. Es handelt
sich um das erste Lexikon im deutschsprachigen Raum, möglicherweise aber
auch weltweit. Das Lexikon liefert eine Art Bestandsaufnahme der Erkenntnisse
der Afrobrasilianistik in wissenschaftshistorischer Beleuchtung und soll Anregungen für weitere Studien geben, sowie die internationale Vernetzung, insbesondere der europäischen und brasilianischen Afrobrasilianisten vorantreiben.
Afrobrasilianistik wird hier nicht aus einer einzigen Perspektive zum Beispiel
der Religionswissenschaft, der Sprachwissenschaft oder (Sklaverei-)Geschichte
heraus betrieben, sondern die Autoren versuchen eine interdisziplinäre und
vielfältige Sicht zu wagen. Wir befassen uns mit den Afrobrasilianerinnen nicht
nur aus einer akademischen »Elfenbeinturm-Perspektive« heraus, sondern betrachten auch Alltagsphänomene und die afrobrasilianische Lebenswirklichkeit
in Vergangenheit und Gegenwart. Somit kann dieses Lexikon auch als Prolegomena zu einer afrobrasilianische Anthropologie verstanden werden.
Zur Afrobrasilianistik liegt weit zerstreut bereits eine !Bibliografie von
mehreren Tausend Titeln vor. Die Literaturhinweise werden im vorliegenden
Lexikon bei jedem Stichwort nach Erscheinungsjahr wissenschschaftshistorisch
aufgeführt. Bei der Auswahl der Literatur haben wir uns auf die wichtigsten
Literaturquellen, die oftmals ebenfalls weiterführende Literaturhinweise enthalten, beschränkt. Die angeführte ältere Literatur ist zwar oftmals hinsichtlich
ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse und gesellschaftlichen Bewertung überholt. Sie ist aber dennoch von wissenschaftshistorischem Interesse und und
großer Bedeutung für das Verständnis des sozialen und kulturellen Wandels der
brasilianischen Gesellschaft. Die meisten der aufgeführten Werke befinden sich
in der Privatbibliothek der Autoren.
Beide Autoren haben unterschiedliche Stichworte bearbeitet, manchmal
stellen die Stichworte jedoch auch eine Gemeinschaftsleistung dar. Die Autorin,
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Vorwort
geboren in Niterûi, ist Sozialpsychologin, Pädagogin, Afrobrasilianistin und
Psychotherapeutin und der Autor ist Anthropologe/Ethnologe, Psychologe,
Wissenschaftshistoriker und Brasilianist, der über zwölf Jahre in Brasilien zugebracht hat.
Wir verwenden oftmals die männliche Form, gemeint sind aber im Allgemeinen immer beide Geschlechter. Grundkenntnisse des Brasil-Portugiesischen
werden teilweise vorausgesetzt.
Ein Lexikon ist so etwas wie eine »ewige Aufgabe«, denn es gibt nie eine
allerletzte Fassung. Alle Benutzer werden daher um kritische Hinweise und
Vorschläge gebeten, die in künftigen, korrigierten und erweiteren Auflagen
berücksichtigt werden können.
Wir danken InayÞ Behring Soares für die Hilfe bei der Literaturbeschaffung,
sowie Frau Susanne Franzkeit und Frau Ruth Vachek vom V& R unipress Verlag
für die freundliche und kompetente Betreuung.
Chirly dos Santos-Stubbe & Hannes Stubbe
Niterûi & Mannheim, 23. August 2013
Internationaler Gedenktag an Sklavenhandel und Abolition
Einführung
Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik – Grundprobleme
und Tendenzen der Forschung
Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, Wissenschaftsgeschichte zu schreiben.
Wissenschaftsgeschichte kann sich auf eine chronologische summarische Darstellung des Forschungsgeschehens, der Methoden und Theorien beschränken,
ohne eine Einbettung in ihre zeitgeschichtlichen, ökonomischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen zu versuchen. Sie kann aber auch »ideologisch« gefärbt sein, indem sie alle solche Forschungstendenzen ausläßt, die mit
der vertretenen Ideologie des Historikers nicht in Einklang stehen, und
schließlich kann sie als Ideengeschichte oder Sozialgeschichte dargestellt werden. Schließlich ist es möglich, eine Geschichte der Wissenschaftsgeschichte
eines Landes zu schreiben (vgl. Garcia et al., 1980), in der sich der Wandel der
Gesellschaft und des Selbstverständnisses der Wissenschaftler widerspiegelt.
Thomas Kuhn (1962) hat im Hinblick auf die Physik zwei Typen der wissenschaftlichen Entwicklung unterschieden: den normalen, ständig wachsenden,
sich stetig perfektionierenden Duktus und den revolutionären, nicht kumulativen Umbruch, wo die Gedankenfragmente sich immer wieder neu zusammensetzen und Denkmuster offenbar werden, wie sie nie zuvor sichtbar waren.
Aus vielen Aspekten erst ergibt das Ganze einen Sinn, der aus den isolierten
Teilen nicht ersichtlich war. Es genügt nicht, die Strömungen in ihre Elemente zu
zerlegen; revolutionäre Verhältnisse haben in der Wissenschaftsgeschichte eine
ganzheitliche Struktur und liefern ein System von Generalisierungen, als deren
Prüfstein uns z. B. die wissenschaftliche Sprache dienen kann. Hier zeigt sich
aber zugleich deren janusköpfiger Charakter, weil sich mit jeder wissenschaftlichen Sprache auch unabdingbar verbunden unser Wissen über die Natur
verändert. Karl Jaspers hat bereits in seiner »Allgemeinen Psychopathologie«
davor gewarnt, daß die »Veränderung des Jargons« (1913) nicht schon als
Fortschritt der Erkenntnis gelten könne.
8
Einführung
Die Wissenschaftsgeschichte Brasiliens, als eines Landes der sog. Dritten
Welt, macht besonders eindringlich die Bedeutung ökonomischer, gesellschaftlicher, kultureller und politischer Faktoren für die Entwicklung der Wissenschaften deutlich. Garcia (1980) unterscheidet im Hinblick auf die Naturwissenschaften für die brasilianische Neuzeit drei wissenschaftsgeschichtliche
bedeutsame Phasen:
1. Von der Mitte des 19. Jh.s bis ca. 1940
2. Von den 40er Jahren bis Mitte der 60er Jahre des 20. Jh.s
3. Die Jetztzeit
In die erste Phase fallen vor allem Biographien von Naturwissenschaftlern, etwa
die »InvestigaÅþes histûricas e scient†ficas sobre o Museu Imperial e Nacional«
(1870) seines Direktors Ladislau Neto (1837 – 1898). Das im Jahre 1818 gegründete Museu Nacional in Rio de Janeiro ist eine der ältesten naturwissenschaftlichen Institutionen Brasiliens (1818: »Museu Real«, später nach der
Unabhängigkeit Brasiliens im Jahre 1822: »Museu Nacional e Imperial«; seit
1892 in der Quinta da Boa Vista untergebracht, einem ehemaligen Kaiserpalast).
Auch die Schrift »The present state of science in Brazil« (1883) des englischen
Geologen Orville A. Derby (1851 – 1915) stellt einen wichtigen Beitrag zur
Wissenschafts-geschichte der Geologie und Paläontologie in Brasilien dar und
macht zugleich die politische und ökonomische Bedeutung der Engländer in
Brasilien deutlich (vgl. z. B. Handelsvertrag von Methuen, 1703; Rippy, 1959;
Furtado, 1975). Auch in der deutschsprachigen (!Reise-) Literatur zu Brasilien
finden sich in dieser Epoche vielfältige Angaben zur Geschichte der Botanik,
Zoologie, Geologie, Ethnographie und Medizin (vgl. Cannstatt, 1967; Rescher,
1979; Stubbe, 1982, 1987; Oberacker, 1985). 1912 hält der bedeutende afrobrasilianische Psychiater Juliano Moreira (1873 – 1933) einen vielbeachteten Vortrag über »O progresso das ciÞncias no Brasil«, worin er die Frage diskutiert, ob
der Brasilianer dem Wesen nach oder durch Unbildung unfähig zur Wissenschaft sei. Anhand der wissenschaftlichen Leistungen brasilianischer Gelehrter
in den verschiedenen Wissenschaftszweigen wie Naturgeschichte, Mathematik,
Geologie, Mineralogie, Paläontologie, Ethnographie und Medizin weist Moreira
nach, daß in Brasilien eine wissenschaftliche Mentalität vorhanden ist: »Vejamos se nos v‚rios ramos da ciÞncia temos dado prova de n¼o se ter esgotado no
paiz a seiva que produziu t¼o poderosa mentalidade.« (Moreira, 1912: 38).
Moreira hebt auch zu Recht die wissenschafts-stimulierende Rolle der Holländer
in Brasilien (vgl. seine Schrift »Marcgrave e Piso«, 1917; zu Piso, der als einer der
Begründer der Tropenmedizin gelten kann, vgl. Piso, 1981; Pereira, 1980) und
die kastrierende der Portugiesen hervor. Klar erkannt wird von ihm auch die für
die Wissenschaftsgeschichte Brasiliens entscheidende Zäsur der Ankunft des
portugiesischen Königs Jo¼o VI. in Rio de Janeiro im Jahre 1808 und der damit
Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik
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verbundenen Öffnung des Landes für Wissenschaft und Handel. Moreira betont
darüberhinaus die außerordentliche Bedeutung der wissenschaftlichen Institutionen, wie der »Academia de Sciencias e de Historia Nacional« (gegr. 1771),
der »Academia Militar« (gegr. 1810), die gleich nach der Ankunft des o.g. Königs
Jo¼o VI. gegründet wurde, oder dem »Instituto Histûrico e Geographico Brazileiro« (gegr. 1838), der »Escola Central« (gegr. 1858), die im Jahre 1874 in
»Escola Polytechnica« umbenannt wurde, sowie der Museen: »Museu Nacional«
(gegr. 1818); »Museu de Histûria Natural« (gegr. 1891) in S¼o Paulo, »Museu
Emilio Goeldi« in Bel¦m (gegr. 1894) (vgl CiÞncia e Cultura, 35 (12), 1983: 1965 –
1972), »Jardim Bot–nico« (gegr. 1834) in Rio de Janeiro und die von Oswaldo
Cruz gegründete Forschungseinrichtung »Manguinhos« (gegr. 1903) (vgl. Stephan, 1976). Besonders gewürdigt werden von Moreira die wissenschaftlichen
Leistungen des Universalgenies Jos¦ Bonifacio de Andrada e Silva (1763 – 1838),
des »Patriarca da IndependÞncia do Brasil«, der während seiner Reisen durch
alle wichtigen Forschungszentren Europas der damaligen Zeit auch einige Monate zusammen mit Alexander von Humboldt in Freiberg an der Bergakademie
studierte. Jos¦ Bonifacios Bedeutung für Brasilien liegt sowohl im politischen
und legislativen Bereich (z. B. Gesetzesvorschläge zur Aufhebung der Sklaverei,
Indianerschutzgesetze, Verfassungs-entwurf), als auch im wissenschaftlichen
Bereich insbesondere auf den Gebieten der Geologie (1. geologische Karte
Brasiliens) und Mineralogie (4 neue Spezies: Petalith, Espudumenio, Kryolith,
Escapolith). (zu J. Bonifacio vgl. Silva Costa, 1974; Tarqu†nio de Sousa, 1974; zu
Moreira: vgl. Litaiff, 1982; Passos, 1975; Lopes, 2006:92; Stubbe, 2011:21 – 23).
1922 erscheint Rodolfo Garcia’s zweibändiger »Diccion‚rio Histûrico, Geogr‚fico e Ethnogr‚fico«, in dem besonders ausführlich die Geschichte der Forschungsreisen in Brasilien, aber auch z. B. die Geschichte der Medizin oder die
Ethnografie, sowie alle wichtigen Brasilien betreffenden Aspekte dargestellt
werden (vgl. auch Gusinde, 1946; Schaden, 1953; Azevedo, 1955; Baldus, 1954ff;
Becher, 1988; Stubbe, 2007:35 – 58; Kümin, 2007).
Die zweite Phase der brasilianischen Wissenschaftshistoriographie setzt mit
dem Erscheinen des epochemachenden Werkes »A cultura brasileira« (1943) von
Fernando de Azevedo (1894 – 1974) ein, als eine Konsequenz der geistigen Unruhe der brasilianischen Intelligenz, die seit den 20er und 30er Jahren datiert,
aber auch der jüngst geschaffenen Universitäten (insbesondere Philosophischen
Fakultäten) und der ersten großen Industrialisierungswelle im Lande. Schließlich macht sich hier vor allem der Einfluß der französischen Sozialwissenschaftler wie Claude L¦vi-Strauss und Roger Bastide bemerkbar. Zu den Innovationen dieses Buches von Azevedo gehört nicht nur die bis heute gültige
Periodisierung der brasilianischen Kulturentwicklung, sondern vor allem die
Diskussion der Frage nach den Ursachen des wissenschaftlich-kulturellen Zurückbleibens Brasiliens. Nelson Werneck Sodr¦ liefert 1945 mit seinem »O que se
10
Einführung
deve ler para conhecer o Brasil« eine Pionierleistung auf dem Gebiet der Brasilianistik, die durch reiche !Bibliografien und nach Fachgebieten gegliederte
Kritiken gekennzeichnet ist, so daß es sich noch heute unter Berücksichtigung
der zeitgeschichtlich bedingten Sicht des Autors als gute Einführung eignet. 1955 erscheint das erste Standardwerk über die wissenschaftliche Kultur
Brasiliens: »As ciÞncias no Brasil« (1954/55), das Fernando de Azevedo mit den
führenden Fachgelehrten Brasiliens herausgibt. Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich bei diesem zweibändigen Werk um deskriptive Wissenschaftsgeschichte, die vor allem den wissenschaftlichen Fortschritt Brasiliens dokumentieren will.
Die letzte und jüngste Phase der Wissenschaftsgeschichte Brasiliens ist durch
einen rapiden Aufbau der wissenschaftlichen und universitären Einrichtungen,
den hohen Bedarf an wissenschaftlichen Fachkräften, aber auch durch instabile
politische und ökonomische Verhältnisse gekennzeichnet. Ende der 60er Jahre
erfolgt eine Universitätsreform, in deren Zuge auch der Wissenschaftsgeschichte
eine größere Bedeutung zugemessen wird. Die ersten Dissertationen und Monographien über die brasilianische Wissenschaftshistoriographie werden verfaßt (vgl. Baldus, 1954ff; Garcia, 1980, Ferri & Motoyama, 1979ff; Stephan, 1976;
CorrÞa, 1987; Stubbe, 1987). Eine »Sociedade Brasileira de Histûria da CiÞncia«
wird gegründet (vgl. Stubbe, 2001:27 – 31; 2007:35 – 58).
Auch die Geschichte der !Afrobrasilianistik läßt sich grob in verschiedene
Phasen einteilen (vgl. Renato MendonÅas dreistufige Einteilung in seinem
Vorwort zu den »Culturas negras« von A. Ramos). In Anlehnung an MendonÅa
teilen wir die Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik idealtypisch in fünf
Abschnitte ein:
1. Die Prä-Nina Rodrigues Phase der frühen Kolonialzeit und spezifisch des
19. Jh.s bis zur Abolition im Jahre 1888 (vgl. !Reiseberichte)
2. Die Phase des Nina Rodrigues (1862 – 1906) ab ca. 1890
3. Die Post-Nina Rodrigues Phase (ab 1906) seiner Schule als Übergangsphase
z. B. O. Vianna
4. Die 30er Jahre bilden ebenfalls eine Zäsur mit ihren neuen methodischen und
theoretischen Ansätzen wie sie sich z. B. in den Werken von G. Freyre, M.
Querino und A. Ramos, aber auch in den »Congressos Afro-Brasileiros«
manifestieren.
5. Ab der 40-er Jahre befassen sich Historiker, Sozialwissenschaftler (mit sozialwissenschaftlichen Methoden), Wirtschaftswissenschaftler, Humanwissenschaftler etc. wie z. B. R. Bastide, Fl. Fernandes, T. de Azevedo, D. Pierson,
O. Nogueira, Ch. Wagley, O. Ianni, H. Klein, F. H. Cardoso, Th. Skidmore, A.
do Nascimento u.v.a.m. mit den Afrobrasilianern. Auch in anderen Wissenschaften wächst nun stetig das Interesse an afrobrasilianistischen Themen
(vgl. auch Barros Laraia, 1979).
Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik
11
Bereits in der Kolonialzeit (1500 – 1822) gab es Studien über die Afrobrasilianer
und die !Sklaverei. Eine wichtige Rolle spielt z. B. das Werk »Cultura e opulÞncia do Brasil por suas drogas e minas« (1711) des Jesuitenpaters Andr¦ Jo¼o
Antonil (1649 – 1716), das auf einer 25jährigen Erfahrung in Brasilien basiert.
Wichtig sind vor allem seine Ausführungen über die Sklavenarbeit in den »engenhos de aÅucar« (Zucker) und den »minas« (Gold), den damaligen ökonomischen Grundlagen der kolonialen portugiesischen Wirtschaft (vgl. Furtado,
1975; Azevedo, 1978; Mota, 2004:55 – 73). Die portugiesische Kolonialverwaltung betrieb in Brasilien von Anfang an u. a. durch eine gezielte Mischungspolitik bzgl. der ethnischen Herkunft der Sklaven, eine Art »glottocidia«, einen
Sprachenmord, an den indigenen und afrikanischen !Sprachen. Dennoch gab
es auch einige rühmliche Ausnahmen wie z. B. die Grammatik der agolanischen
Sprache des Jesuitenpaters Pedro Dias: »Arte da lingua de Angola, oefericida a
virgem senhora N. do Rosario, M¼y & Senhora dos mesmos pretos …« (Lisboa,
1697), die jedoch der teilweise gewaltsamen katholischen !Missionierung der
Sklaven dienen sollte. Auch in den Werken der Reisenden und Künstler des
19. Jh.s wie z. B. Langsdorff, Spix & Martius, Rugendas, Debret, Baron von
Eschwege, Koster etc. finden sich ebenfalls wichtige Informationen und aufschlussreiche Abbildungen über den afrobrasilianischen Sklavenalltag (vor
allem jedoch in den Städten!) (vgl. z. B. Berger, 1964; Manizer, 1967; Rescher,
1979; Augel, 1980; Stubbe, 1992) (!Ikonografie der Sklaverei !Reiseberichte)
Die eigentliche systematische, akademische Afrobrasilianistik beginnt in
Brasilien jedoch erst mit Nina Rodrigues. Wer war Raymundo Nina Rodrigues?
Nina Rodrigues wurde am 4. Dezember 1862 in Vargem Grande im Estado do
Maranh¼o als Sohn eines »Coronels« geboren und starb am 17. Juli 1906 im
»Nouvel Hotel« in Paris. Seine medizinische Ausbildung erhielt er an der »Faculdade de Medicina do Rio de Janeiro«, die er am 10. Februar 1888 – im Jahr der
Sklavenbefreiung! – mit einer Dissertation über »Das amyotrophias de origem
periph¦rica« abschloß. Er wurde 1891 »Professor Adjunto de Clinica Medicina
Legal e Toxicologia« und 1895 »Cat¦dratico de Medicina Legal« an der »Faculdade de Medicina da Bahia«. Seine wissenschaftliche Produktion umfaßt zwischen 1886 und 1906 ca. 51 Arbeiten vor allem aus den Gebieten der Allgemeinen
Kriminal-Anthropologie, sowie Rechtsmedizinische Studien, die oftmals mit
psychiatrischen Aspekten verbunden sind. Die vorherrschende Thematik bildeten für Nina Rodrigues jedoch vor allem die Afrobrasilianer (!»negros«),
ihre Religiosität, Sitten und Gebräuche (vgl. A. Peixoto in: Nina Rodrigues, s.a.;
S:17 – 22). Nina Rodrigues gilt auch als Gründer der »Escola M¦dico-Legal
Brasileira«. Das »Instituto de Medicina Legal da Bahia« in Salvador wurde später
nach ihm »Instituto Nina Rodrigues« benannt und sein Name wurde in das
Portal eingraviert (vgl. Blake, 1902:118 f; Uchúa, 1981:78; Stubbe, 1987:124 f,
1994, 1998; Santos Filho, 1980:117; Lins e Silva, 1945; Nina Rodrigues, 1939;
12
Einführung
Peixoto in: Nina Rodrigues, o. J., S:10ff). Das Interesse Nina Rodrigues für
Kollektivphänomene begann mit der Beobachtung und Beschreibung einer
choreaformen »Abasie-Astasie-Epidemie«, die seit dem Jahre 1877 in Maranh¼o
und seit 1882 in Bahia grassierte. Er interpretierte die Epidemie in Maranh¼o als
Kollektiv-Hysterie und trennte sie differentialdiagnostisch von Beri-Beri. Mit
den !»Canudos« und Antúnio Conselheiro kam Nina Rodrigues durch folgende kuriose Geschichte in Berührung: Nachdem der Chef des Sanitätsdienstes
des letzten Expeditionskorps gegen die »Canudos« Dr. Miranda Curio und andere Ärzte den Leichnam Antúnio Conselheiro’s exhumiert und fotographiert
hatten und zu dem Entschluß gelangt waren, daß eine Autopsie wegen ihres
starken Verwesungszustandes nicht mehr möglich wäre, befahl der BrigadeGeneral Jo¼o da Silva Barbosa den Ärzten die Enthauptung Antúnio Conselheiros, gleichsam als Siegespreis! Die Kopftrophäe schickte man danach an die
»Faculdade de Medicina da Bahia«, wo er von Nina Rodrigues nach allen Regeln
der damaligen anthropologischen Wissenschaft untersucht wurde (vgl. Moniz,
1987:256; Nina Rodrigues, 1939:130). Die europäischen und us-amerikanischen
Rassenideologien der damaligen Zeit zeigten im Denken Nina Rodrigues einen
starken Widerhall. Hierbei sollten wir uns auch daran erinnern, daß einer der
bedeutendsten europäischen Rassentheoretiker Arthur de Gobineau (1816 –
1882) in den Jahren 1869/70 französischer Botschafter in Brasilien gewesen ist
und intensiv mit Kaiser Dom Pedro II korrespondierte (Raeders, 1997; Gobineau, 1990). Gobineau charakterisiert z. B. die damalige brasilianische Bevölkerung folgendermaßen: »nenhum brasileiro ¦ de sangue puro, as combinaÅþes
dos casamentos entre brancos, ind†genas e negros multiplicaram-se a tal ponto,
que os matrizes da carnażo s¼o infflmeros, e tudo isso produziu, nas classes
baixas e nas altas uma degenerescÞncia do mais triste aspecto.« (zit. nach Raeders, 1997:39) Vorher, in den Jahren 1865/66, hatte bereits der amer.-schweizer.
Naturforscher Louis Agassis (1807 – 1873), von dem ebenfalls eine sehr einflussreiche Rassenlehre stammt, in Brasilien eine 15-monatige Expedition
durchgeführt (vgl. Gould, 1999:39 – 48; !Reiseberichte). Thomas Skidmore
(1976:75) bezeichnet Nina Rodrigues als den »principal doutrinador racista da
sua ¦poca«. Dies wird nicht nur durch Nina Rodrigues Studien über die Afrobrasilianer (posthum: Os africanos no Brasil, 1932; O animismo fetichista dos
negros baianos, 1935) bestätigt, sondern auch in seiner Beurteilung der !
»mestiÅos« (vgl. »Os mestiÅos brasileiros«, 1890) und !jagunÅos. Raimundo
Nina Rodrigues hatte, europäischen evolutionistischen, sozial-darwinistischen
(vgl. Gumplovicz: Der Rassenkampf, 1883; Euclides da Cunha, 1994:7; Stubbe,
1998), massenpsychologischen und (kriminal-) psychopathologischen Konzeptionen verhaftet, die Afrobrasilianer, »†ndios« und »mestiÅos« im negativen
Sinne stereotypisiert, ihre biologische Inferiorität herausgestellt und dabei die
Hoffnung gehegt: »Os negros existentes se diluir¼o na populażo e ester‚ tudo
Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik
13
terminado« (Rodrigues, 1945: 46). Die !»jagunÅos« (nordestino, caipira, capanga, fan‚tico de A. Conselheiro, etc.) des Sert¼o sind für ihn ein »produto t¼o
mestiÅo no physico que reproduz os caracteres anthropologicos combinados das
raÅas de que prov¦m, quanto hybrido nas suas manifestaÅþes soci¼es que representam a fus¼o quasi inviavel de civilizaÅþes muito desigu¼es« (Nina Rodrigues, 1939:64). Für Nina Rodrigues verkörpert der »jagunÅo« in sich die unbezähmbare Natur des »wilden †ndio« mit seinem Drang zum Herumschweifen,
seiner großen Widerstandskraft gegenüber physischen Leiden und seinem
kriegerischen Sinn. Sein »espirito« ist »infantil e inculto«. Es handelt sich bei den
»jagunÅos« um »raÅas inferiores«, für die er die Degenerationshypothese (degenerescencia de mestiÅagem, ein Ergebnis der »Rassenmischung«) zugrundelegt. Die »degenerescencia da mestiÅagem« ist für Nina Rodrigues die eigentliche
Ursache sozialer Nichtangepaßtheit. Seine anthropologische Position basiert
hauptsächlich auf dem biologischen (»rassischen«) Determinismus und dem
Rassenfatalismus (vgl. Lins e Silva, 1945:86). Auch Antúnio Conselheiro, der
Anführer der !»Canudos«, ist für Nina Rodrigues ein solches »individuo degenerado« (s.oben). Hier hat nun die Psychiatrie ihre Funktion zu erfüllen.
Nina Rodrigues hat sich auch als einer der ersten über die !Kunst der
Afrobrasilianer geäußert: »Nina Rodrigues, m¦dico baiano, pela primeira vez
divulga algumas peÅas de candombl¦s da Bahia no seu trabalho ›As belas artes
dos colonos pretos no Brasil‹ (Revista Kosmos, Rio de Janeiro, vol.1, n8 8, agosto
de 1904), o que ¦ repetido e ampliado nos livros O animismo feticista dos negros
baianos (1928) e Os africanos no Brasil (1932). As peÅas apresentadas em fotografias preto-e-branco exibem algumas esculturas em madeira e ferramentas
rituais em bronze e lat¼o, atestando de forma curiosa os fetiches dos negros.
Estando os objetos fora de seus contextos – locais sagrados -, distantes dos seus
fabricantes e dos usu‚rios, e sem ter preocupażo cultural e sim m¦dica, Nina
Rodrigues enfrentou questþes muito mais raciais e f†sicas do que problem‚tica
do fundo social e econúmico, orientando neste sentido muitos trabalhos e alguns
at¦ bem recentes …« schreibt Raul Lody (2003:24 f).
Hatte Raimundo Nina Rodrigues, evolutionistischen, sozialdarwinistischen,
massenpsycho-logischen und psychopathologischen Konzeptionen verhaftet,
die Afrobrasilianer im negativen Sinne stereotypisiert, ihre biologische Inferiorität herausgestellt und dabei die Hoffnung gehegt: »Os negros existentes se
diluir¼o na populażo e ester‚ tudo terminado« (Rodrigues, 1945:46), so propagierte Oliveira Vianna (1883 – 1951) später in seinem Werk »Evolużo do povo
brasileiro« (1923) den »Arier-Mythos« und setzte auf das »branquecimento«,
d. h. die »Arisierung« der brasilianischen Bevölkerung. Er schreibt im Hinblick
auf die europäische Einwanderung: »Esse admir‚vel movimento imigratûrio
n¼o concorre apenas para aumentar rapidamente, em nosso pa†s, o coeficiente
da massa ariana pura; mas tamb¦m cruzando e recruzando-se com a populażo
14
Einführung
mestiÅa, contribui para elevar, com rapidez, o teor ariano do nosso sangue«
(Vianna, 1956:175).
Manuel Querino (1851 – 1923), selbst Afrobrasilianer und Aktivist, publizierte im Jahre 1916 »A raÅa africana e seus costumes« und im Jahre 1918 »O
colono preto como fator de civilizażo«, die 1938 nach seinem Tode unter dem
Titel »Costumes africanos no Brasil« erschienen. Seine aus der Praxis entstandenen, heute klassischen, ethnografischen Studien führte er gegen Ende des 19.
und zu Beginn des 20. Jhs. in Bahia durch.
Mit Arthur Ramos de Araujo Pereira (1903 – 1949) hat sich wieder ein
Psychiater mit der afrobrasilianischen Problematik beschäftigt. Der bedeutende
afrobrasilianische Künstler und Politiker Abdias Nascimento (1978) wies später
mit einer gewissen Ironie darauf hin, daß es anfänglich Psychiater und Kriminalanthropologen waren, die sich der Afrobrasilianer »annahmen«. So wurde
das »Fremde« zum »psychopathologisch Auffälligen«. Die Ethno-psychoanalytikerin Maya Nadig (1992:50) spricht in diesem Zusammenhang von einer
»Psychopathologisierung des Fremden« und erkennt darin einen Abwehrmechanismus, ein zentrales Thema der modernen Transkulturellen Psychiatrie und
Ethnopsychoanalyse.
Arthur Ramos’ insgesamt 458 Titel umfassende Bibliographie enthält psychologische, ethnopsychoanalytische, psychiatrische, soziologische, religionswissenschaftliche und folkloristische Studien. Hervorzuheben sind hier besonders die »Estudos de Psican‚lise« (1931), »O negro brasileiro« (1934), »Introdużo — psychologia social« (1936), »As culturas negras no Novo Mundo«
(1937), »Introdużo — antropologia brasileira« (1948/49, 2 vol.s) und die
»Estudos de Folklore« (1952, posthum). Dieses überaus reichhaltige Gesamtwerk Arthur Ramos’ ist für jeden Psychoanalyse-Historiker, Sozialpsychologen,
Ethnologen und (Afro-) Brasilianisten noch heute eine wahre heuristische
Fundgrube. Im Jahre 1941 gründete Ramos die »Sociedade Brasileira de Antropologia e Etnologia«. Später leitete er bis zu seinem Tode die sozialwissenschaftliche Abteilung der UNESCO in Paris. In der frühen Geschichte der
(Ethno-)Psychoanalyse und Afrobrasilianistik in Brasilien (vgl. Stubbe, 1997,
2011) kommt Arthur Ramos eine hervorragende Rolle zu, die hier chronologisch
dargestellt werden soll:
*1926 Von Arthur Ramos de Araujo Pereira(1903 – 1949) wird die 1925 abgeschlossene medizinische Doktorarbeit »Primitivo e loucura« publiziert. Sie
wird mit dem Alfredo Brito-Preis ausgezeichnet und in französischen, nordamerikanischen und argentinischen Fachzeitschriften besprochen. Auch Sigmund Freud schreibt einen Lobesbrief an ihn. Ramos zitiert in seiner Arbeit
nicht nur Freud, Jones, Spielrein, Regis, Hesnard u. a., sondern vor allem
Schilder und Ferenczi. Ramos übt in zwei Punkten Kritik an Sigmund Freud: die
Überbetonung der Sexualsymbolik und die Anwendung der Psychologie des
Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik
15
Individuums auf die Psychologie der »Primitiven« (vgl. Perestrello, 1986:204;
Gusm¼o, 1974:29; Stubbe, 1987, 1997).
*1932 Es erscheint von Arthur Ramos »O mito de Yemanj‚ em suas raizes
inconscientes«.
!Yemanj‚, eine Art afrobrasilianische Meeresgöttin, spielt im religiösen
Alltag Brasiliens und den sykretistischen Kulten bis heute eine hervorragende
Rolle (vgl. Unterste, 1973; Oliveira et al., 1986).
*1934 Arthur Ramos (Rio de Janeiro) publiziert ein einflußreiches Werk der
Afrobrasilianistik »O negro brasileiro« (vgl. Ramos, 1934, 1934; Gusmao, 1974;
Leite, 1983; Stubbe, 1987; D. Ribeiro, 1985:798).
*1935 In seinem Werk »O Folklore Negro do Brasil. Demopsychologia e
Psychoanalyse« gibt er eine (ethno-)psychoanalytische Interpretation der
afrobrasilianischen !»Folklore«. In diesem Jahr unterzeichnen Roquette Pinto,
Arthur Ramos und Gilberto Freyre und andere Intellektuelle das »Manifesto
Antinazista« und üben Kritik an den Rassentheorien in Deutschland (vgl.
Ramos, 1935; D. Ribeiro, 1985:804,806)
*1936 Ramos (Rio de Janeiro) veröffentlicht eine »Introdużo — psychologia
social« (!Sozialpsychologie). In diesem Jahr veröffentlicht er auch *»O desenho infantil e sua significażo psychanalytica« in der »Rev. Med. da Bahia«
(fevr., N8 2), eine psychoanlytische Interpretation von Kinderzeichnungen (vgl.
Stubbe, 1997)
*1937 organisiert er zusammen mit dem Volkskundler Edson Carneiro den
»II. Congresso Afro-Brasileiro« (vgl. Stubbe, 1987; D. Ribeiro, 1985:886)
*1938 Arthur Ramos publiziert eine ›ethno-psychoanalytische‹ Studie über
»O espirito associativo do negro«.
*1943 gibt Ramos eine »Introdużo — antropologia brasileira« heraus. Posthum erscheinen dann noch die beiden völkerkundlichen Werke »As culturas
ind†genas«(1971) und »As culturas negras no Novo Mundo« (1979)
A. Ramos verfolgte die afrobrasilianischen Studien des baianischen Psychiaters und Kriminologen Nina Rodrigues (1862 – 1906) weiter (vgl. Stubbe,
2001:261ff), indem er als erster in Brasilien die österreichische Psychoanalyse
auf Phänomene der afrobrasilianischen Kultur anwandte. Ramos wirft Nina
Rodrigues Position vor, daß sie von den Theoretikern der Rassenungleichheit
wie Gobineau (1816 – 1882) und Lapouge imprägniert sei (Ramos, 1951:18). Die
These von der biologischen Inferiorität der Afrobrasilianer ersetzte er dann aber
unglücklicherweise durch die ebenso fragwürdige These von ihrer vermeintlichen kulturellen Inferiorität. Auch sündigte er indem er die ethnozentrische (später revidierte) Hypothese des prälogischen Denkens von L¦vy-Bruhl
(1857 – 1939) übernahm (vgl. etwa Ramos, 1951:295; Stubbe, 2012:121 – 127).
Wollten Rodrigues und Vianna die Übel der »biologischen Inferiorität« in der
brasilianischen !Gesellschaft durch ein »embranquecimento« (Weißmachung)
16
Einführung
bekämpfen, sah Ramos die Lösung in der Herstellung einer »verdadeira cultura«, in der die prälogischen Elemente durch rationale ersetzt würden (vgl. Ramos, 1951:296).
In den frühen 30er Jahren des 20. Jh.s, noch vor der Gründung des »Estado
Novo« (1937 – 1945), als die Afrobrasilianer sich politisch zu organisieren begannen (z. B. Frente Negra Brasileira, gegr. 16. Sept. 1931, 1. Gründungsversuch
bereits 1928; die FNB existierte bis 1937; vgl. FGV-Cpdoc, 1984:1393) fand in
Recife der »I. Congresso Afro-Brasileiro« (1934) statt. Unter der Beteiligung
renommierter Fachleuten (z. B. Artur Ramos, Ulisses Pernambuco, CunhaLopes, Melville J. Herskovits, Edison Carneiro, Renato MendonÅa, Rodolfo
Garcia, Mario de Andrade, Roquette-Pinto), wurden wichtige Aspekte der Geschichte, Kultur, Gesundheit, Sprache etc. der Afrobrasilianer diskutiert. Vielfältige Themen standen auf der Tagesordnung: der »negro« in der Folklore und
Literatur (MendonÅa), Wörterlisten des nagú (Garcia), anthropometrische Untersuchungen nach L. Lapicque (zum Nachweis der Afrodescendenz!) (Avila),
»Calunga dos Maracatffls« (M. de Andrade), der Mythos des !Xangú (A. Ramos), die »negros« in der Geschichte von Alagúas (Brand¼o), drei Jahrhunderte
der Sklaverei in Parahyba (Vidal), die Abolition und ihre Ursachen (Camargo
Jun.), Blutgruppen der »raÅa negra« (Duarte), die Republik von !Palmares
(Mello), »branco, negro e mulato«- Neugeborene (Cavalcanti), der »negro« als
Arbeiter zur Zeit des »bangüÞ« verglichen mit dem Arbeiter zur Zeit der Zuckerfabriken (Raiz), Herkunft der »negros« in der Neuen Welt und Bronze- und
Stoffkunst in Dahom¦ (Herskovits), Ernährung und gesundheitlicher Zustand
des Sklaven in Brasilien (Coutinho), das Problem der Tuberkulose bei »brancos«
und »pretos« und die »rassische« Resistenz (Faria), die Situation des »negro« in
Brasilien (Carneiro), afrikanische Sekten in Recife (Cavalcanti), Rezepte des
»quitutes afrobrasileiros« (Ialorix‚ Santa & Babalorix‚s O. Almeida & A. Gomes), anthropologische Bemerkungen über die »mulatos« in Pernambuco (Andrade), Toadas de Xangú do Recife (mit Noten) (Braga) und die
Rede des Repräsentanten der »Frente Negra« von Pelotas (M. Barros).
Es ist hierbei auffällig, dass sich unter den Vortragenden auch vier bekannte
brasilianische Psychiater befanden. Bereits Abdias do Nascimento hat mit einer
gewissen Ironie auf die Tatsache hingewiesen, ein wie starkes Interesse die
Psychiatrie der damaligen Zeit, beginnend mit Nina Rodrigues, für die Afrobrasilianer entwickelte (s. oben). Zu welchen Ergebnissen über die Afrobrasilianer/»negros« kam die Psychiatrie der damaligen Zeit? J. R. Cavalcanti, ein
Schüler von Austreg¦silo (1876 – 1960), stellt generell die höhere Langlebigkeit
(longevidade) der »negros« (unter denen er auch einige Hundertjährige fand!
vgl. auch Scis†nio, 1997:236) gegenüber den Weißen fest. Hierbei ist jedoch
kritisch anzumerken, dass allgemein die Kindersterblichkeit bei den Afrobrasilianern beträchtlich höher war. Ulysses Pernambuco stellt einen höheren
Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik
17
Anteil von »doenÅas mentaes« (Geisteskrankheiten) bei den Afrobrasilianern
Pernambucos fest (institutionelle Inzidenz): bei den »konstitutionellen Psychosen« (psychoses constitucionaes z. B. Schizophrenie, manisch-depressives
Irresein etc.) findet er eine geringere Häufigkeit, bei den »organischen Psychopathien« (psychopatias organicas; z. B. Epilepsie, Involutionspsychosen,
Oligophrenien etc.) und den »toxischen und infektiösen Psychosen« (psychoses
toxicas e infecciosas; z. B. !Alkoholismus, etc.) dagegen eine höhere. Cunha
Lopes & Reis stellen fest, dass zwischen 1931 und 1933 in der Psychiatrischen
Klinik von Rio de Janeiro 19,02 % »negros«, 22,76 % »mulatos« und 58,21 %
»brancos« aufgenommen wurden. Kritisch läßt sich allgemein zu all diesen
Untersuchungen sagen, dass sie nicht repräsentativ waren, sondern die ungleiche (ungerechte) psychiatrische Versorgungssituation in Brasilien wiederspiegeln und dass ihnen ein Rassenkonzept bzw. ein »Rassendeterminismus« zugrundeliegt, der die »negros« grundsätzlich als minderwertiger als die »brancos« betrachtete. Eine kritische Sozial- bzw. Transkulturelle Psychiatrie war
noch nicht bekannt (vgl. Estudos Afro-Brasileiros, 1988). !Gesundheit
Aber nicht alle brasilianischen Intellektuellen ließen sich von den in Europa
und den USA grassierenden Rassenideologien anstecken. Z. B. stellte der Arzt
Manoel Jos¦ do Bomfim (1868 – 1932) in seinem Werk »A Am¦rica Latina-Males
de origem« (1905) klar heraus, daß die den Afrobrasilianern zugeschriebenen
negativen Attribuierungen nicht aus der biologischen »Rasse« kommen, sondern Ergebnisse der !Sklaverei sind. Da der Afrobrasilianer eine passive Rolle
bei der Bildung der nationalen Gesellschaft gespielt habe, könne man ihn nicht
für die »Unterentwicklung« der gegenwärtigen Gesellschaft verantwortlich
machen (vgl. Bomfim, 1905: 270 f, 278, 280ff)(vgl. !Sündenbock-Rolle). Das
Problem der »mestiÅagem« entlarvt er als eine Pseudo-Theorie, die versuche, die
Rassenvermischung als schädlich hinzustellen. Mit Recht weist er bereits darauf
hin, daß es in der lateinamerikanischen Geschichte keine Beweise dafür gebe,
daß die !»mestiÅos« in irgendeiner Weise »degeneriert« seien, ganz im Gegenteil. Ihre Tugenden und Untugenden hingen allein davon ab, welches Erbe auf
ihnen laste, welche Erziehung ihnen angedeiht worden sei und wie sie sich an die
ihnen angebotenen Lebensbedingungen anpassen würden (Bomfim, 1905: 310 f;
zu Bomfim vgl. auch D. Ribeiro, 1984: 48ff; Stubbe, 2001). Ein anderer Autor,
Alberto Torres (1865 – 1917), zeigte in seinem Buch »O problema nacional
brasileiro« (1917), sich auf den Anthropogeographen und Umweltdeterministen
Ratzel (1844 – 1904) und den Begründer der nordamerikanischen »cultural anthropology« Franz Boas (1858 – 1942) berufend, daß !»raÅa« nicht mit Kultur
gleichzusetzen sei, und daß es keinerlei wissenschaftliche Beweise für eine
Rassenungleichheit gebe (Torres, 1938:130). Torres sah auch schon deutlich mit
fast 20jähriger Antezedenz den Aufstieg der national-sozialistischen RassenLehre, die ihre imperialistischen und kriegerischen Ambitionen mit einer
18
Einführung
Ideologie der Rassenüberlegenheit der Weißen begründete. Für ihn ist das eigentliche brasilianische Problem in Wahrheit ein ökonomisches. Der Anthropologe Roquette-Pinto (1884 – 1954) vertrat die Ansicht (obgleich er die Existenz
der Rassenvorurteile negierte und eine gewisse Sympathie für die Eugenik
hegte), daß die Ursachen der brasilianischen Problematik von der »rassischen«
Konstitution der Bevölkerung unabhängig und Resultat sozialer Faktoren sei. In
seinem bekannten »Ensaio de Antropologia Brasileira« (1933) zeigt er sich
vertraut mit den wichtigen zeitgenössischen Arbeiten von Davenport und
Melville J. Herskovits (1895 – 1963) (z. B. The american negro, 1928). Gilberto
Freyre’s (1900 – 1987) (der in den USA studiert hatte) »Casa grande e senzala:
formażo da familia brasileira sob o regime de economia patriarcal« (1933), ein
sehr einflußreiches Jahrhundertwerk, dient dann vor allem dazu die Verbreitung
einer bestimmten Ideologie voranzutreiben, die sich aus den Mythen des »LusoTropikalismus«, des »Senhor am‚vel« (einer Spielart des »homem cordial brasileiro« S¦rgio Buarque de Hollanda’s, 1936) und der »democracia racial« zusammensetzt. Freyre begeht auch den Fehler, das »mestiÅamento« (»Rassenvermischung«) als eine Bereicherungsform anzusehen und den portugiesischen
Kulturbeitrag zu idealisieren (vgl. dagegen z. B. Paula, 1971; zu Freyre, vgl. z. B.
Nery da Fonseca, 1977; D. Ribeiro, 1979; FUNARTE, 1985; Dantes Mota,
2004:217 – 234).
Ab Mitte der 30er des 20. Jh.s begannen verschiedene ausländische Sozialwissenschaftler die »Rassenbeziehungen« zwischen Weißen und Schwarzen in
Brasilien zu erforschen. Hier ist vor allem der US-Amerikaner Donald Pierson zu
nennen (ein Schüler von Robert Park ,1864 – 1944), der von 1935 bis 1937 die
Situation der Afrobrasilianer in Bahia untersuchte. Die Resultate dieser Untersuchung publizierte er in dem Werk »Negroes in Brazil: A study of race contact at
Bahia« (1942). Pierson erklärte in diesem Band das !Vorurteil gegenüber den
Afrobrasilianern ähnlich wie Gilberto Freyre durch die Klassensituation und
argumentiert mit den (vermeintlich) sozialen bzw. psychologischen Vorurteilen
gegenüber den »rassisch-gemischten« Ehen (vgl. Nogueira, vol. 3, 1981:181 –
234; CorrÞa, 1987:29 – 116). Die us-amer. Anthropologin Ruth Landes (1908 –
1991) führte 1938/39 Feldforschungen in Bahia über die Konstruktion der
Identität im Candombl¦ durch und veröffentlichte ihre Studien unter dem Titel
»City of women« (1947; port. »Cidade das mulheres«, 1967). Der afro-us-amerikanische Soziologe Edward Franklin Frazier (1894 – 1962) studierte im Jahre
1941 das Familienleben in Bahia und publizierte im Jahre 1942 »The negro
family in Bahia«. L. A. da Costa Pinto (Universidade do Brasil, RJ) publizierte im
Jahre 1953 eine ähnliche Arbeit über »O negro no Rio de Janeiro. RelaÅþes de
raÅa numa sociedade em mudanÅa«. Der frz. Soziologe und Religionswissenschaftler Roger Bastide (1898 – 1974) kam 1938 (bis 1954) als Nachfolger von
Claude L¦vi-Strauss (vgl. Tristes tropiques, 1955) an die Universität von S¼o
Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik
19
Paulo (USP). Er war ein »Grenzgänger zwischen Kontinenten und Kulturen«. In
Brasilien wurde er als »mystischer Sohn« des Gottes !Xangú in eine afrobrasilianische Kultgemeinschaft aufgenommen. Vor allem interessierten ihn das
»wilde bzw. mystische Heilige« in den Gestalten des Fremden, des Mystikers und
des Wahnsinnigen. Mit ihnen sucht er im Rahmen der Religionswissenschaft
und Soziologie das Gespräch, da er meint, dass sie einer existentiell bedeutsamen Erfahrung zum Ausdruck verhelfen, die dem modernen (westlichen)
Menschen in seiner Gesellschaft abhanden gekommen ist (vgl. Reuter, 2000).
Von Bastide stammen eine Vielzahl von wichtigen soziologischen (z. B. »Brancos
e negros em S¼o Paulo«, 1955; Soziologie und Psychoanalyse, 1960) und religionswissenschaftlichen Arbeiten (z. B. »Le candombl¦ de Bahia«, 1958; »Les
religions africaines au Br¦sil«, 1960) über die Afrobrasilianer. Andere Sozialwissenschaftler wie z. B. der us-amer. Kulturanthropologe Marvin Harris waren
fasziniert von der Vielzahl der Kategorien zur Definition der !Hautfarbe in
Brasilien (vgl. auch Stephenson, 1990; Stubbe, 1992:88ff). Eine der von Harris in
Bahia durchgeführten Untersuchungen macht dies deutlich: Harris legte 100
Versuchspersonen 9 Fotographien vor, die ein Kontinuum vom Schwarzen bis
zum Weißen enthielten mit 7 intermediären Typen. Das Ergebnis war überraschend, denn es ergaben sich 40 verschiedene Rassebezeichnungen (vgl. Harris,
1952, 1956, 1964). Ähnliche Arbeiten stammen von Charles Wagley (1952, 1963),
Harry Hutchinson (1952) und Ben Zimmermann (1952). In den 50er Jahren
finanzierte die UNESCO eine Reihe von Untersuchungen über die »Rassenbeziehungen« in Brasilien. Zu nennen sind hier vor allem die großangelegte Untersuchung über »Brancos e Negros em S¼o Paulo« (1959) von Roger Bastide und
Florestan Fernandes, sowie L. A. Costa Pinto’s »O Negro no Rio de Janeiro.
RelaÅþes de raÅas numa sociedade em mudanÅa« (1953). Weitere wichtige Titel,
die sich der Problematik der Afrobrasilianer widmen, sind: »As metamorfoses
do escravo« (1962) des Paulistaner Soziologen Oct‚vio Ianni, »Capitalismo e
escravid¼o no Brasil meridional« (1962) von Fernando Henrique Cardoso (dem
späteren Präsidenten Brasiliens!), »Cúr e mobilidade social em Florianûpolis«
(1960) von Cardoso und Ianni und »A integrażo do negro na sociedade de
classes« (1965) von Fernandes. Alle diese Arbeiten, die im Süden Brasiliens (in
dem der Anteil der Afrobrasilianer geringer ist) realisiert wurden, haben gemeinsam, daß sie die Existenz von Rassenvorurteilen konstatieren. Oracy Nogueira (1955) nimmt eine Unterscheidung der Rassendiskriminierung in Brasilien und den USA vor: in Brasilien wird ein »Mischling« nicht mehr als
Schwarzer angesehen, wenn er dem biologischen Prozeß des »embranquecimento« ausgesetzt ist, d. h. glatte Haare, eine hellere Hautfarbe und eine geringere Prognathie besitzt. In den USA wird selbst ein völlig weißer »Mischling«
diskriminiert, aufgrund des Wissens um seine biologischen afrikanischen Vorfahren. In seiner Untersuchung »Cor, profiss¼o e mobilidade: O negro e o r‚dio
20
Einführung
em Sao Paulo« (1967) zeigt Jo¼o Baptista Borges Pereira, daß der Radiosender
einer der hauptsächlichen Kanäle der vertikalen ökonomischen Mobilität der
Schwarzen in S¼o Paulo ist, was jedoch nicht heißt, daß in dieser Institution das
Rassenproblem bereits gelöst sei. Für die Sozialwissenschaftler der 70er Jahre
gibt es keine Zweifel mehr an der Existenz der Rassenvorurteile und sie versuchen nun, die verschiedenen Aspekte des Problems zu studieren. Der Soziologe
Thales de Azevedo (1975) wendet sich scharf gegen solche (verbreiteten) Meinungen, die das Rassenproblem in Brasilien verharmlosen und die rassendiskriminierende Verhaltensweisen als Einzelfälle abtun wollen. Azevedo
berichtet über zahlreiche Vorfälle, die die Existenz von Gewalt im Zusammenhang mit Rassendiskriminierung, zumindest auf individueller Ebene, beweisen.
Auch räumt er völlig mit dem beliebten Mythos von der »democracia racial« auf,
indem er nachweist, daß es in Brasilien eine systematisierte rassistische Doktrin
gibt. Der Soziologe Florestan Fernandes macht schließlich in dem Sammelband
»O negro no mundo dos brancos« (1972) die historische Perspektive des Problems deutlich, indem er schreibt, daß die Abolition (1888) eine entscheidende
soziale Revolution war, die von den Weißen für die Weißen gemacht wurde (vgl.
Fernandes, 1972: 47). Der Afrobrasilianer wurde doppelt ausgebeutet: »Primeiro, porque o ex-agente de trabalho escravo n¼o recebeu nenhuma indenizażo,
garantia ou assistÞncia; segundo, porque se viu, repentinamente, em competiżo
com o branco em ocupaÅþes que eram degradadas e repelidas anteriormente,
sem ter meios para enfrentar e repelir essa forma mais sutil de despojamento
social« (Fernandes, 1972: 47; vgl. auch Fernandes, 1989). Mit Thomas Skidmore’s (1976, 1998) historischer Analyse des Rassen- und Nation-Konzeptes im
brasilianischen Denken seit Ende des 19. Jahrhunderts wird dann die Existenz
einer rassistischen Ideologie in Brasilien sowie das Ideal des »branqueamento«
klar herausgearbeitet. Es ist oftmals behauptet worden, daß die Rassenbeziehungen in Brasilien »humaner« seien, weil das Sklaverei-System hier humaner
gewesen sei. Die Arbeits-, Lebens- und Wohnverhältnisse, die!Suizidstatistiken, die an den Sklaven praktizierten !Strafen, der !»banzo«, die hohe
Mortalität und Morbidität der Sklaven(-kinder) sprechen hier jedoch eine
deutlich andere Sprache! Alles spricht dafür, daß sich das Sklavereisystem in
Brasilien in keiner Weise von dem Sklavereisystem an irgendeinem anderen Ort
der Welt unterschied (vgl. Stubbe & Santos-Stubbe, 1990; Stubbe, 1985, 1987,
1994; Martin, 1988; N’Diaye, 2011). !Genozid !Gesundheit !Reparationen
Bisher haben noch wenige Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianer die
Problemstellungen der Afrobrasilianistik bearbeitet. Zu nennen ist hier vor
allem der Künstler und Politiker Abdias do Nascimento z. B. mit seinem engagierten Buch »O genoc†dio do negro brasileiro« (1978), in dem u. a. nachgewiesen wird, wie die katholische Kirche das Sklavereisystem aktiv aufrechterhalten hat (vgl. auch CEHILA, 1987 !Missionierung). Die afrobrasilia-
Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik
21
nische Psychiaterin Neusa Santos Souza legte z. B. eine mit vielen eindrucksvollen biografischen Skizzen versehene psychoanalytische Studie »Tornar-se
negro« (1983) vor. Sie stellt darin u. a. fest (Santos-Souza, 1983:29), daß in
Brasilien !»negro« mit »sujo« (= schmutzig) assoziiert wird. Sie kritisiert, daß
sogar das wichtigste Sprachlexikon, der »Aur¦lio«, bei dem Begriff »negro« 10
pejorative Attribute aufführt, nämlich: sujo, triste (= traurig), maldito (= verflucht), melancûlico, perverso, escravo (= Sklave), funesto (= finster), lutuoso
(= traurig), sinistro (= unheimlich), encardido (= vergilbt). Die Sozialwissenschaftlerin und Afrobrasilianistin Chirly dos Santos-Stubbe (1990ff) hat in
vielen Publikationen vor allem die Situation der afrobras. Frauen sozialpsychologisch bearbeitet und eine kurze Einführung in die Afrobrasilianistik vorgelegt. Moema Parente Augel (1980ff) hat nicht nur !Reiseberichte (vor allem
in Bahia) analysiert, sondern auch in vielen Schriften die künstlerischen und
literarischen und kulinarischen Aktivitäten der Afrobrasilianer dargestellt.
Im Rahmen des 100jährigen Jubiläums der Abolition in Brasilien (1888)
entstand um das Jahr 1988 eine Vielzahl von Forschungsarbeiten über die fast
350 Jahre existierende !Sklaverei.
Die afrikanische Sklaverei in Brasilien läßt sich grob in drei verschiedene
Phasen einteilen:
1. Die erste reicht vom Beginn der Kolonisation (1500) bis Mitte des 17. Jh.s. In
diesem Zeitabschnitt wurde das Zuckerrohr-Plantagensystem errichtet, das
vor allem auf der Arbeit afrikanischer Sklaven beruhte. Nach 1620 übertraf
die Anzahl der afrikanischen bereits die der indianischen Sklaven.
2. In der zweiten Phase von Mitte des 17. Jh.s bis 1791 kam es zu einer Expansion der Plantagenwirtschaft und einem rapiden Aufschwung der Ausbeutung von Gold-und Diamanten-Minen, in denen Sklaven arbeiteten.
Neben Zucker (aÅucar), wurden auf den Plantagen auch zunehmend Produkte wie !Tabak, Indigo, Kakao und Baumwolle angebaut. Diese wirtschaftliche Entwicklung führte zu einer grossen Nachfrage nach afrikanischen Sklaven (möglicherweise ca. 2 Millionen).
3. Die letze Phase von Ende des 18. Jh.s bis zur !Abolition (1888) ist geprägt
von der Expansion der Kaffeeproduktion, der europ. Einwanderung und
stufenweisen Einschränkung der Sklaverei. Insbes. in den Provinzen Rio de
Janeiro, S¼o Paulo und Minas Gerais kam es zu einem grossen Zustrom von
neuen Sklaven (vgl. Cardoso, 1982:20 – 22; Marcondes de Moura, 1994:9)
Grundsätzlich lassen sich in der Forschung über die afrikanische Sklaverei in
Brasilien mindestens folgende verschiedene (sich teilweise auch überschneidende) Richtungen unterscheiden:
1. Die historische Forschungsrichtung (z. B. Malheiro, 1976; Skidmore,1998;
Cardoso, 1982; J. Jobson de A. Arruda et al., 2005; !Sklaverei in der
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Einführung
Weltgeschichte und als weltgeschichtliches Phänomen, z. B. Meyer, 1990;
Osterhammel, 2000)
Die ökonomische Forschungsrichtung (z. B. Sombart, 1928; Furtado, 1975;
Cardoso & Brignoli, 1984; marxistische Analysen: z. B. Ihde, 1975; Gorender, 1978, Buescu, 1982; Hell, 1986; Tanezini, 1994:1 – 18)
Die quantitative, statistische Forschungsrichtung (z. B. Anzahl der »importierten« Sklaven auf den »tumbeiros«, vgl. B. Conrad, 1985; Klein, 1978,
1987; Scis†nio, 1997)
Die soziologische und sozialpsychologische Forschungsrichtung (z. B.
Ramos, 1936; Fernandes, 1965; Ianni, 1962, 1978; Santos-Stubbe, 1995;
Stubbe, 2001)
Die sprachwissenschaftliche Forschungsrichtung (z. B. Sprachenvielfalt der
Sklaven, vgl. Garcia, 1934; MendonÅa, 1948; Scis†nio, 1997; Lopes, 2006)
Die kulturanthropologische Forschungsrichtung (z. B. Rassenideologie:
Skidmore, 1976; Harris, 1967; Stubbe, 1987, 2001, 2012)
Die politische Forschungsrichtung (z. B. »Quilombismo«; Slaverei im internationalen politischen System; die afrobras. polit. !Organisationen, vgl.
A. do Nascimento, 1982; !Quilombo als politische Utopie der Zukunft)
die Auswirkungen der Sklaverei auf die brasilianische Gesellschaft, Kultur,
Religion und Wissenschaft bis in die Gegenwart (z. B. Psychologie: SantosStubbe, 1992; !Anthropologie: Schwarcz, 1993; Sprachwissenschaft:
Cunha-Henckel, 2007; Medizin/!Gesundheit: Pies, 1981; Scis†nio, 1997; !
Musik: Houaiss, 2006; !empregadas dom¦sticas: Santos-Stubbe, 1995; !
Religion/Synkretismus: Lody, 2003 etc.)
Die gender-bezogene Forschungsrichtung/Frauenforschung: z. B. SantosStubbe, 1994ff, !Frauen
Die lebensalterbezogene und biografische Forschungsrichtung (z. B. !
Sklavenkindheit, !Biografien, z. B. Priore, 2000; Stubbe, 1994, 2012:573ff)
Die historische !Quilombo-Forschung, die interdisziplinär, und heute
auch archäologisch arbeitet (vgl. z. B. !Palmares)
Kunsthistorische Forschungsrichtung, z. B. Nina Rodrigues, 1904; Carneiro
da Cunha, 1994; Lody, 2003 !Kunst
!»Made in Africa«-Forschung: die afrikan. Wurzeln der bras. Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit, Sprache etc. (z. B. C–mara Cascudo, 1965;
Diegues Jfflnior, 1977, 1997; vgl. auch zur Sklaverei in Afrika, z. B. N’Diaye,
2010)
Die literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung (z. B. Sayers, 1958;
Trigo, s.d.; Carvalho FranÅa, 1998 !Literatur)
In der Revista do Patrimúnio Histûrico e Art†stico Nacional (N8 25, 1997)
werden viele wichtige Aspekte der neueren Afrobrasilianistik (Kultur, Medien,
Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik
23
Sport, Kunst, Literatur etc.) der Gegenwart von Fachleuten wie J. R. dos Santos,
M. Di¦gues Junior, M. Sodr¦, H. Buarque de Hollanda, M. Augras, A. do Nascimento, N. Lopes, L. S. de Almeida, M. B. Nascimento, C. Vogt & P. Fry,
E. Ferraz u. a. übersichtsartig behandelt. Der afrobras. Jurist Alaúr Eduardo
Scis†nio (1927 – 1999) hat in seinem wertvollen »Dicion‚rio da escravid¼o«
(1997) akribisch vor allem die historischen und legislativen Aspekte der Sklaverei herausgearbeitet. Nei Lopes (*1942), Jurist, Sprachwissenschaftler, Musiker und afrobras. Aktivist, legte eine Vielzahl von Publikationen, Enzyklopädien
(2004) und Lexika (2003, 2006) über afrobrasilianische Themen vor. Raul Lody
(*1951) hat die afrobras. Religiosität vor allem in ihren künstlerischen, kulinarischen, technischen und liturgischen Aspekten erschöpfend behandelt (vgl.
z. B. Lody, 2003).
Auch viele deutschsprachige Forscher und Forscherinnen haben vor allem im
Rahmen der Lateinamerikakunde bzw. Brasilianistik (vgl. z. B. Cannstatt, 1902;
Rescher, 1979; Stubbe, 1980ff; Holtz, 1981; Werz, 1992; Institut für Iberoamerika-Kunde, 1993; Universität Bielefeld, 1990; Briesemeister et al., 1994; SantosStubbe, 1995ff; Costa et al., 2010) afrobrasilianische Themen bearbeitet.
Ebenfalls in Portugal, Frankreich, den USA und England existiert eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen, Periodika, !Bibliografien und Sklavereispezialisten (vgl. Bastide, Ribeiro, Boxer, Skidmore, Klein, Conrad, Karash,
Slenes, Levine, etc.), die sich intensiv mit den Afrobrasilianern, ihrer Geschichte,
ihrer Religion, ihrer Kultur, den »Rassenbeziehungen« etc. beschäftigt haben.
Die gegenwärtige Situation:
Um sich ein umfassenderes Bild der soziologischen und sozialpsychologischen
Gegebenheiten der Afrobrasilianer der Gegenwart machen zu können sollen
noch einige Aspekte ihrer Situation beleuchtet werden:
Zunächst einmal ist die Erfassung der !Hautfarbe ein sozialpsychologisches
Problem. Harris (1970) fand allein 492 verschiedene Ausdrücke für die Hautfarbenbeschreibung in Brasilien! (vgl. auch Stephens, 1989; Stubbe, 1992). Der
Soziologe und Afrobrasilianer Clûvis Moura (188: 63) berichtet, daß bei der
Volkszählung von 1980 die nicht-weiße Bevölkerung nach ihrer Hautfarbe gefragt, insgesamt 136 verschiedene Hautfarben angab. Moura interpretiert dieses
Phänomen als eine Identitätskrise und Flucht vor der ethnischen Realität.
Über die Afrobrasilianer liegen bereits einige umfangreiche !Bibliografien
vor, die insgesamt einige Tausend Titel umfassen (vgl. z. B. Biblioteca Nacional,
1962; Alves, 1979; Biblioteca Amaral, 1988; Casa Ruy Barbosa, 1988; CEAA, 1991
etc.). Dabei ist auffallend, daß die meisten Arbeiten in die Kategorien !
»Folklore«, !»Geschichte«, !»Religion« und !»Sklaverei« fallen. Die 100Jahrfeier der Sklavenbefreiung im Jahre 1988 hat eine Fülle von Untersuchungen
24
Einführung
und Projekten zu diesem Thema hervorgerufen. (Sozial-)Psychologische Untersuchungen zu afrobrasilianischen Themen sind dagegen bisher noch äußerst
selten (vgl. Stubbe, 1987, 1988, 1994; Santos-Stubbe, 1998; Journal of African
Psychology, 1988ff; Peltzer & Ebigbo, 1989).
Betrachtet man z. B. die Ergebnisse der Volksbefragungen von 1940 bis 1980
so kann man ein allmähliches Anwachsen des afrobrasilianischen Bevölkerungsteils feststellen (!Demo-grafie): 1980 werden bereits 45 % der brasilianischen Bevölkerung als Afrobrasilianer bezeichnet (vgl. IGBE, 1987; IBASE,
1989:11). Hinsichtlich der Altersstruktur der Afrobrasilianer ergibt sich folgendes Bild: 0 – 14 Jahre (42 %), 15 – 24 Jahre (21 %), 25 – 44 Jahre (23 %), 45 –
54 Jahre (7 %), 55 Jahre und älter (7 %) (IBASE, 1989: 12). Es handelt sich also
um eine ausgesprochen junge Bevölkerungsgruppierung. Gegenüber den Weißen ist bei den Afrobrasilianern eine höhere Kinderzahl, sowie eine geringere
Lebenserwartung zu beobachten (vgl. auch IGBE, 1990).
Die afrobrasilianische Bevölkerung ist nicht gleichmäßig über das Land
verteilt. Während in den urbanen Zentren das weiße Element dominiert (60 %
gegenüber 40 %), findet man das afrobrasilianische Element stärker in den ruralen Gebieten (56 % gegenüber 44 %). Im Vergleich zu den Weißen nehmen die
Afrobrasilianer im brasilianischen Wirtschaftsleben eine eindeutig ungünstigere Position ein. Man findet Afrobrasilianer vorwiegend in geringer qualifizierten Tätigkeiten, sie stellen auch die Mehrheit der Arbeitslosen und erhalten
geringere Löhne. Außerdem besitzen sie schlechtere berufliche Aufstiegschancen auch bei gleicher Qualifikation (vgl. Hasenbalg, 1979; Oliveira et
al., 1985; Moura, 1988; IBASE, 1989; Lovell, 1994; Lopes, 2006). Eine !Diskriminierung läßt sich also deutlich auf dem Arbeitsmarkt beobachten. Selbst
wenn die Afrobrasilianer über eine ebenbürtige Schulausbildung verfügen wie
die Weißen, werden ihnen dennoch geringere Aufstiegs-chancen eingeräumt. Im
Hinblick auf die Arbeitsstundenzahl liegen die Afrobrasilianer entgegen einem
verbreiteten Vorurteil jedoch über derjenigen der Weißen. Auch hinsichtlich der
Löhne und Gehälter wird die Diskriminierung in den späten 80er Jahren sichtbar
(!Ökonomie und Arbeitswelt). Vor allem die Afrobrasilianerin wird diskriminiert. Auf den Verwaltungsposten finden wir im Jahre 1980: 34 % gelbe,
19,6 % weiße und nur 3,9 % schwarze Frauen (vgl. IBASE, 1989:44). Dagegen
arbeiten 56,4 % der Afrobrasilianerinnen im Dienstleistungssektor, d. h. vor
allem als !»empregadas« (= Hausangestellte) (vgl. Carneiro & Santos, 1985;
Santos-Stubbe, 1995). Hinsichtlich der Bildungssituation der weißen und
schwarzen Frauen ergibt sich in den späten 80er Jahren ein ähnliches Bild. !
Bildung Unter den Alleinerziehenden fanden sich allein im Jahre 1980: 2.030.898
schwarze Mütter (IBGE, 1980). Ihre spezifischen sozialpsychologischen Probleme wurden von Rosane da Silva Ferreira in ihrer Dissertation »Vida de
mulher – Um estudo em classe popular« (1987) für Rio de Janeiro ausführlich
Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik
25
bearbeitet. R. Lustosa Bastos (1987) hat in seiner Magisterarbeit die !Suizide in
verschiedenen Stadtteilen (u. a. Favela St. Marta, Copacabana) Rio de Janeiros
miteinander verglichen (vgl. Stubbe, 1996:93 – 117).
Verschiedene Versuche wurden in Brasilien unternommen, die Situation der
Afrobrasilianer zu verbessern. Von staatlicher Seite wurde in die neue !Verfassung von 1988 ein »Rassismus-Paragraph« aufgenommen der die Praktik des
!Rassismus unter Strafe stellt (T†tulo II, Cap. I, Art. 6, § III). Verschiedene
pädagogische Projekte versuchen, in der schulischen !Bildung den bedeutenden kulturellen Beitrag der Afrobrasilianer und ihre !Geschichte stärker in
das Bewußtsein der Schüler und Schülerinnen zu bringen (vgl. z. B. IBASE, 1989:
28 f; Revista do Patrimúnio Histûrico e Artistico Nacional, N825, 1997; Lopes,
2006). Auch haben sich viele !Organisationen gebildet, in denen sich Afrobrasilianer aus politischen, religiösen, sozialen und kulturellen Motiven zusammengeschlossen haben, sowie Institutionen, die der afrobrasilianischen
Forschung dienen (vgl. z. B. IBASE, 1989: 55ff; Santos-Stubbe, 2001).
Heute wird die !Afrobrasilianistik interdisziplinär und in methodischer
Vielfalt im Rahmen der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie, der Sozialwissenschaften, der Humanwissen-schaften, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften betrieben.
!Anhang !Afrobrasilianistik !Anthropologie !Bibliografien !Demografie !Folklore !Geschichte !Gesellschaft !Reiseberichte !Sklaverei !
Sozialpsychologie !Vorurteile
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& senzala« (Regie: Geraldo Sarno), »Regi¼o, tradiżo e modernidade« (Regie:L. de Miranda Correa); »Zeichen von allem« (D)
A
Abolicionismo (lat. abolitio, engl. abolition = Abschaffung)
Der A. (Abolitionismus) war eine internationale, oftmals religiös (z. B. Quäker,
MaÅonaria; vgl. z. B. Thoreau, 1973) oder humanistisch/philanthropisch (z. B.
»Positivistas do Brasil«) motivierte Bewegung zur Sklavenbefreiung, vor allem
in den USA (Nordstaaten: 1787, allgemein: 1863/65), in England (1833) und in
Brasilien (1888) im Gefolge der europ. Aufklärung in der zweiten Hälfte des
18. Jh.s. Aber auch ökonomische Interessen förderten die Abolition. Furtado
(1975:114 f) konstatiert z. B. im Hinblick auf einige Regionen: »Tatsächlich
beschränkte sich die Abschaffung der Sklaverei nur unter ganz besonderen
Bedingungen auf eine lediglich formale Umwandlung der Sklaven in Lohnarbeiter.« In Brasilien stand die Abolition bereits auf dem Programm der »Conjurażo Mineira« im Jahre 1789, die von der Französischen Revolution inspiriert
worden war. Auch Jos¦ Bonif‚cio Andrada e Silva (1763 – 1838), der »Patriarch
der bras. Unabhängigkeit«, hatte in seinem Verfassungsprojekt bereits die Befreiung der Sklaven gefordert. Eigentlich hatte aber der A. bereits mit der Bildung der !Quilombos in Brasilien begonnen, denn in ihnen waren die Sklaven
bereits »befreit«. 1757 forderte der Pater Manuel Ribeiro da Rocha in seinem
Werk »Et†ope Resgatado« schon die Befreiung der Kinder von Sklavenmüttern. 1798 protestierte Lucas Dantas, einer der Führer der »Conjurażo Baiana«,
gegen die Diskriminierung der !»mulatos«. 1809 schlug Hipûlito Jos¦ da Costa
im »Correio Brasiliense« eine gradative Befreiung der afrobras. Sklaven durch
»freie« Arbeiter vor. Trotz des engl. Druckes intensivierte sich dennoch aufgrund der hohen Nachfrage der Plantagenwirtschaft der Sklavenhandel nach
Brasilien. In den frühen 30 Jahren des 19. Jh.s schlug der Abgeordnete Antúnio
Ferreira FranÅa ein Projekt der gradualen Abschaffung der Sklaverei vor (was
endgültig erst am 25. März 1881 geschehen sollte). 1831 deklarierte die bras.
Regierung ein wenig beachtetes Gesetz, wonach alle ab diesem Zeitpunkt eingeführten Sklaven frei sein sollten (Padre Feijû, 1784 – 1843). Auf Druck der engl.
»Bill Aberdeen« (1845) wurde im Jahre 1850 mit dem »Lei Eus¦bio de Queirûs«
30
A
der Sklavenhandel nach Brasilien definitiv verboten. Im Jahre 1853 untersagte
man auch den internen Sklavenhandel (vgl. auch die beiden eindrucksvollen
Anti-Sklaverei-Gedichte der damaligen Zeit: »Das Sklavenschiff« (1853/54) von
Heinrich Heine (1797 – 1856) und »O Navio Negreiro« (1883) von Castro Alves
(1847 – 1871); Stubbe & Santos-Stubbe, 1990:131 f). Am 28. September 1871
wurde das »Lei do Ventre Livre« erlassen, das die Kinder von Sklavinnen befreite. Es bildete sich u. a. eine »Sociedade Brasileira contra a Escravid¼o«, die
von dem afrobras. Ingenieur Andr¦ RebouÅas gegründet, sowie eine »Confederażo Abolicionista«, die von Jo¼o Clapp, Joaquim Nabuco, Jos¦ do Patrocinio
u. a. organisiert wurde (zu den »Sociedades abolicinistas«, vgl. z. B. Scis†nio,
1997:3001 f). Berühmte afro-bras. »abolicionistas« des 19. Jh.s waren Luiz Gama
(1830 – 1882), Andr¦ RebouÅas (1838 – 1898), Jos¦ do Patroc†nio (1854 – 1905),
Ferreira de Menezes (1845 – 1881) und die Afrobrasilianerin Adelina Charuteira
(vgl. Lopes, 2006:13). Am 24. Mai 1884 führte der Präsident der Provinz von
Manaus die sog. »Emancipażo em Manaus« durch, die völlige Befreiung der
Sklavenbevölkerung (vgl. Scis†nio, 1997:134 f). Unter dem Ministerium des
Bar¼o de Cotegipe (1815 – 1889), wurde am 28. September 1885 dann das »Lei
dos Sexagen‚rios« bzw. das »Lei Saraiva-Cotegipe« erlassen, das die über
65jährigen Sklaven befreite. In Abwesenheit des nach Europa gereisten Kaisers
Dom Pedro II. (1825 – 1891) wurde dann endlich durch die Prinzessin D. Isabel
(1846 – 1921) am 13. Mai 1888 das sog. »Lei Ýurea«, die völlige, definitive
Sklavenbefreiung erlassen (die Originalurkunde befindet sich im »Arquivo das
šndias«, Sevilha!; vgl. Núvo Dicion‚rio de Histûria do Brasil, 1970:16ff), aber die
Leidens- und Emanzipationsgeschichte der Afrobrasilianer war damit noch
nicht beendet.
!Abolition !Anhang !Geschichte der Afrobrasilianer !Quilombos !
Sklaverei !Zumbi
M. Ribeiro Rocha (1758, 1992): Et†ope resgatado. Empenhado, sustentado, corrigido, instru†do e libertado. Petrûpolis; H. D. Thoreau (1848, 1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. (darin: Die letzten Tage des John Brown (1860), S. 63 – 69).
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Abolition und was geschah nach der Abolition?
Am 13. Mai 1888 wurde die afrikanische Sklaverei in Brasilien de jure aufgehoben, sie hat aber de facto wenig positive Veränderungen in der Lebenssituation dieser Bevölkerungs-gruppe bewirkt. Der 14. Mai war ein Feiertag für die
meisten Sklaven, insbesondere in den Städten, die sich aus ihren Sklavenketten
befreit fühlten. Der Glaube nun vollkommen befreit zu sein und als egalitärer
Bürger einen würdigen Platz innerhalb aller gesellschaftlichen Instanzen zu
erhalten, blieb in der Tat nur eine Illusion. Dieser historische Augenblick kann
als der Anfang des immer noch existierenden Kampfes der Afrobrasilianer für
den Erhalt ihrer vollständigen Bürgerschaft (=cidadania) in Brasilien gelten. Sie
waren jetzt zwar de jure frei, aber befanden sich weiterhin in einem eingeengten
Bewegungsraum innerhalb dieser »Freiheit«, der für ihre sozio-ökonomischen
Chancen bis heute immer noch bedeutende Auswirkungen besitzt. Die Integration der Ex-Sklaven/innen in die sich industrialisierende !Gesellschaft und
darüber hinaus in den wachsenden Arbeitsmarkt der Post-Abolitionszeit wurde
ihnen selbst überlassen. Ein effektiver Eingliederungsversuch in den allmählich
wachsenden Wirtschaftssektoren wurde ihnen nicht angeboten, da sich der
urbane Zweig der Wirtschaft stark an der Arbeitskraft der europäischen Immigranten orientierte und diesen Arbeitsraum für sie reservierte. Ab ca. 1850
wurde eine starke Einwanderungsbewegung nach Brasilien gefördert als Lösung
für die nach der Sklavenbefreiung potenziell fehlende Arbeitskraft. Diese Einwanderungspolitik hatte auch eine starke rassen-ideologische Basis. Der »imi-
32
A
grantismo« (im Jahre 1866 wurde die Internationale Gesellschaft für Einwanderung in Brasilien gegründet) zielte auf ein »branqueamento« (= Weißwerdungsprozeß) bzw. eine »Arianisierung« der brasilianischen Bevölkerung ab, die
durch den Ersatz der Europäer stattfinden sollte. Der afrikanische Bevölkerungsanteil würde sich nach Meinung der Vertreter dieser Immigrantismusbewegung im Laufe der Zeit von selbst auflösen. Diese Bewegung wurde stark
sowohl von Politikern als auch von Wissenschaftlern (z. B. Nina Rodrigues,
Oliveira Vianna) unterstützt. Die europäische Einwanderungsbewegung, die in
der zweiten Hälfte des 19. Jhrs. seitens der Brasilianer u.a . konzipiert wurde,
hatte zum Ziel einen vollständigen Ersatz der Afro-Bevölkerung in allen Wirtschaftssektoren zu erreichen, insb. in den urbanen Zentren, wo sie eine potenzielle Konkurrenz für die Migranten darstellen könnten. Als die erste brasilianische Volkszählung im Jahre 1872 durchgeführt wurde, waren 72 % der AfroBevölkerung bereits von der Sklaverei befreit, aber arbeiteten noch überwiegend
im Agrarsektor. Im Laufe der sukzessiven Sklavenbefreiung wuchs eine Masse
von Menschen heran, die keine reguläre Arbeit besaß. Im Jahre 1882 gab es z. B.
in den fünf Hauptprovinzen des Landes nach offiziellen Statistiken 2.822.583
»desocupados« (= Beschäftigunslose): fast alle waren freigelassene Sklaven. Die
Afro-Bevölkerung wanderte ab Anfang der achtziger Jahre des 19. Jh.s allmählich vom Zentrum eines Ökonomie-agrarsystems, in dem sie durch ihre Arbeitskraft Jahrhunderte als Sklaven gedient hatten, in die Peripherie des neuen
kapitalistischen urbanen Sytems ab. Für das neue Produktions- und Arbeitssystem wurden sie aber als nicht geeignet angesehen. Sie besaßen einerseits für
die expandierende industrielle Manufakturproduktion keine schulische, technische oder zusätzliche berufliche Ausbildung, die sie an dieses neue Produktionsverhältnis angepaßt hätte, um eine freie Konkurrenz mit den zum Teil
besser ausgebildeten Immigranten überstehen zu können. In dieser Hinsicht
können wir feststellen, daß die verprochene und zum Teil von den Abolitionisten
durchaus geplante Veränderung der Lebensbedingungen der befreiten Sklaven
in keinerlei Form stattgefunden hat. Ideologische rassistische Barrieren blockierten zusätzlich die Integrations-möglichkeiten der Afrobrasilianer auf dem
freien Arbeitsmarkt nach der sog. Sklavenbefreiung. Sie wurden abgelehnt gegenüber den bevorzugten weißen Immigranten, da diese letzteren als Mitglieder
einer »höheren« Rasse, als »intelligenter«, ehrlicher, fleißiger, moralischer etc.
galten, sowie als Besitzer eines gehobenen Ausbildungsniveaus und »Zivilisationsgrades«. Die aus Afrika abstammende Bevölkerung wurde, im Gegensatz zu
den idealisierten Einwanderern, als dumm, faul, gefährlich, ohne Moral, unzivilisiert, etc. betrachtet und als Hindernis für die zivilisatorische Entwicklung
Brasiliens angesehen. Durch diese positiven Eigenschaften der europäischen
Immigranten und die negativen der Afro-Bevölkerung, wie sie in den Augen der
weißen brasilianischen Elite existierten, sollten die ersteren die brasilianische
Abolition und was geschah nach der Abolition?
33
Nation von dem Unheil der Afro-Sklaven (aber auch der »Indianer«!), die auch
durch die »Rassenmischung« das Land degradiert und »degeneriert« hätten,
befreien und durch »neues reines Blut« (sangue puro) die brasilianische Nation
»entwickeln und heilen.« Anhand dieser Barrieren wurde der »befreiten« AfroBevölkerung keine neue Chance gegeben auf der gleichen Ebene und unter den
gleichen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu konkurrieren und dadurch
einen vertikalen Aufstieg zu erreichen, so daß ihnen schließlich nur ein marginaler Arbeitbereich übrig blieb. Für ihr Überleben mußten sie weiterhin
sklavenähnliche Tätigkeiten ausüben.
Die Aktivitäten, die die Mehrzahl der Afro-Bevölkerung ausübte, wurden
teilweise auch mit der zunehmenden Immigrationswelle umstrukturiert, da die
neuangekommenen europäischen Einwanderer sich anfänglich in die niedrigeren urbanen Tätigkeiten eingliedern mußten, aber dies nur als Übergangsaktivitäten. Diese überließen sie wieder den als niedriger angesehenen ethnischen Gruppen, sobald sie aufsteigen konnten. Auch eine Agrar- und Landreform, in der den befreiten Sklavinnen und Sklaven Land (das es in Brasilien zur
Genüge gibt!) zur Bewirtschaftung zur Verfügung gestellt worden wäre, fand
(obwohl solche Pläne existierten) nicht statt. Projekte der Abilitionisten und
solche aus dem Anfang des Jahrhunderts wie beispielsweise der Entwurf von Jos¦
Bonif‚cio (1763 – 1838), der eine Übergabe von Grundstücken an die früheren
Landarbeitersklaven und die Gründung von Handwerkerschulen und Einrichtungen von Grundschulen vorsah, wurden nicht realisiert, so daß der soziale
Gegensatz weiterhin latent blieb und bis in die Gegenwart hineinwirkt.
Aus der Schilderung des Sozialwissenschaftlers Fernandes (1965) über die
Arbeitsalternativen der Afro-Bevölkerung in der Industrialisierungs-Zeit um
dreißig Jahre nach der Sklavenbefreiung in S¼o Paulo werden diese Hindernisse
noch deutlicher : »In den Fabriken kommt die Gelegenheit zur Arbeit selten in
ihre Hände (der Afro-Bevölkerung), nur wenn es sich um »Neger-Dienste«
handelt … , solche, die die Italiener nicht machen wollen; nämlich die schweren
und lebensgefährlichen Arbeiten. Die schwarzen Frauen, ihrerseits, hatten bisher Schwierigkeit sich auszubilden und Weberinnen zu werden, sie mußten sich
begnügen mit den Arbeiten als »dom¦sticas«, hauptsächlich bei traditionellen
Familien … So mußten die Schwarzen und »Mulatten«, die ihr Leben verdienen
wollten sich den »Neger-Diensten« unterwerfen (das Putzen, das Tragen,
Schaufeln …). In ihrer Mehrzahl waren diese Tätigkeiten schlecht bezahlt und
verlangten wenige oder gar keine Qualifikation« (apud Rissone, 1968:145). Die
hier zusammengetragenen rassistisch-ideologischen Barrieren, die in der PostAbolitionszeit entscheidend waren für die Ausgliederung der Afrobrasilianer
aus dem Entwicklungsprozeß der brasilianischen Gesellschaft, haben eine
Nachwirkung von über 100 Jahren. Sie können u. a. für die Notsituation der
Mehrzahl dieser Bevölkerungsgruppe gegenwärtig verantwortlich gemacht
34
A
werden, sowie für das vorurteilsreiche Bild, das sowohl in den !Schulbüchern
gezeigt wird, als auch Bild in der Gesellschaft vorhanden ist.
13. Mai oder 20. November?
»A Princesa Imperial Regente, em nome de Sua Majestade o Imperador, o Senhor
Dom Pedro II, faz saber a todos os sfflditos do Imp¦rio que a Assembl¦ia Geral
declarou e ela sancionou a lei seguinte:
Art. 18 – Ê declarada extinta desde a data d’esta lei a escravidao no Brasil.
Art. 28 – Revogam-se as disposiÅoes em contr‚rio.«
(»Die regierende kaiserliche Prinzessin, im Namen ihrer Majestät des Kaisers,
Herrn Dom Pedro II., macht allen Untertanen des Reiches bekannt, daß die
General-Versammlung folgendes Gesetz erklärt und somit anerkannt hat:
Art. 18 – Es wird ab dem Datum dieses Gesetzes die Sklaverei in Brasilien für
abgeschafft erklärt.
Art. 28 – Gegenteilige Anordnungen werden widerrufen.«)
Was ist schon ein Datum?
Am 20. November 1695 wurde !Zumbi dos Palmares ermordet, der Held und
Führer eines demokratischen !Quilombos, in dem allediejenigen, die mit den
offiziellen politischen und ökonomischen Verhältnissen nicht einverstanden
waren, Zuflucht fanden, unabhängig von ihrer Hautfarbe und ihrem Glauben.
Dieses Datum wurde in der brasilianischen Historiographie jahrhundertelang
vollkommen »vergessen« bzw. verdrängt. Erst ab den 70er Jahren dieses Jahrhunderts begann ein allmählicher Prozeß des Wiedererinnerns. Dieser verstärkte sich noch in den 80er Jahren, da zahlreiche Gruppierungen der afrobrasilianischen Bewegung dieses Ausgangsdatum für ihren Widerstand gegen
!Sklaverei, !Rassismus und !Diskriminierung in Brasilien einsetzten. Dieses Datum wurde nun als Repräsentation für die eigene Stärke und Kampfbereitschaft von »unten« von der versklavten Bevölkerung und von der unterprivilegierten Afro-Bevölkerung erlebt, um gesellschaftliche, politische und ökonomische Veränderungen zu erzielen. In diesem Sinne wurde dieser Tag als
symbolischer Jahrestag der schwarzen Widerstandsbewegungen und als »Tag
des Schwarzen Bewußtseins« (= Dia da ConsciÞncia Negra) gefeiert.
Offiziell durchgesetzt hat sich aber eher der 13. Mai. An jenem Tage des Jahres
1888 hatte die Prinzessin Isabel die afrikanische Sklaverei in Brasilien offiziell
abgeschafft. Die Resonanz dieses Datums in der Geschichte Brasiliens ist unvergleichbar größer, weil hier eine juristische und strukturelle Veränderung
seitens der Machtinhaber in Gang gesetzt wurde und dadurch die soziale und
ethnische Teilung des Landes sowie seine Produktionsweise (-von der Sklave-
Abolition und was geschah nach der Abolition?
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reiwirtschaft zum Kapitalismus-) und einer neuen Regierungsform (ein Jahr
später, 1889 erfolgt der Übergang von der Monarchie zur Republik) offiziell, das
erste Mal mit einer solchen Komplexität neudefiniert wurde. Dieses Datum
bewirkte die erste und komplexeste Restrukturierung des Landes. Der 13. Mai
1888 kann heute angesehen werden als das juristische und politische Ergebnis
dessen, was seit !Palmares in Gang gesetzt wurde, d. h. als Folge des 20. November 1695 und als Teil des »schwarzen« Widerstandes. Der Akt des 13. Mai
hatte jedoch nur juristisch das Ende der Institution Sklaverei bestätigt, die zu
dem Zeitpunkt bereits kaum noch existierte. Im Jahre 1818 beispielsweise bestande 50,5 % der brasilianischen Bevölkerung aus Sklaven, dagegen lag im Jahr
der offiziellen Sklaven-Befreiung (1888) die Prozentzahl der versklavten Bevölkerung nur noch bei 5,6 %.
Der 13. Mai repräsentiert nicht nur ein Datum für die ersehnte Freiheit der
versklavten afrikanischen Bevölkerung, die dadurch nur juristisch konkretisiert
wurde, sondern vielmehr ein nationales Datum mit dem sich alle Brasilianer
unabhängig von ihrer !Hautfarbe und sozio-ökonomischen Herkunft identifizieren können. Hierbei hängt es nur von der Auslegung jeder Seite ab, d. h. wie
ein jeder für sich und seine Interessen dieses Ereignis betrachtet, aber die Anerkennung der offiziellen Tat, »Abschaffung der Sklaverei«, ist für die bras.
Nation insgesamt einigend, was für eine breitere Demokratisierung und Entdiskriminierung der Afro-Bevölkerung ein grundlegendes Datum sein könnte.
Trotz aller Bekanntheit beider Daten können wir heutzutage feststellen, daß
der Kampf für die breitere Aufnahme und Akzeptanz des 20. November immer
noch unterdrückt und diskriminiert wird. Dieser Tag wird heute oftmals als ein
Datum verstanden, dessen Hauptbedeutung die Trennung zwischen Weißen und
»Schwarzen«, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen politisch Engagierten und Unpolitischen, zwischen »macumbeiros« (diejenigen Anhänger
des synkretischen afro-brasilianischen Kults !»macumba«) und Katholiken
hervorhebt. Er wird oftmals als eine Gegen-Feier einer kleinen Gruppe von
intellektuellen Afrobrasilianern zu der des 13. M ai verstanden, der wiederum
als eine allgemeine, populäre Feier angesehen wird. Gegenwärtig wird versucht
durch den 20. November eine tatsächliche »Abschaffung der Sklaverei« der afrobrasilianischen Bevölkerung aus Armut, aus diskriminierenden und rassistischen ungerechten Verhältnissen auf der sozialen, politischen und ökonomischen Ebene im Land zu bewirken. Dieses Datum versucht durchzusetzen, was
der 13. M ai proklamierte, aber nicht durchsetzen konnte, da die wirtschaftlichen Machtinteressen dies nicht zuließen. Es scheint in einigen Augenblicken
widersprüchlich, aber der 20. November beabsichtigt genau die Umsetzung
dessen, was am 13. Mai rechtlich auf einem Dokument festgehalten wurde. Der
20. November kann betrachtet werden als der Ursprung eines Befreiungs- und
36
A
!Emanzipationsprozesses und der 13. Mai als offizieller Meilenstein für ein
populäres Fest.
Gegenwärtig können wir eine starke Tendenz beobachten, insbesondere in
den aktiven politischen und intellektualisierten afro-brasilianischen Gruppierungen, den 13. Mai auf der politischen Ebene zu negieren. Gegen ihn wird
argumentiert, daß dieser Tag eine »Lüge« (mentira, farÅa) sei, da die effektive
»Freiheit« für die Afro-Bevölkerung sich immer noch nicht konkretisiert habe.
Diese Auslegung muß jedoch mit Bedacht betrachtet werden: Die großen Entbehrungen in der Lebenssituation der Mehrzahl dieser Bevölkerungsgruppe,
unter denen sie seit der »Abschaffung der Sklaverei« bis heute lebt, können den
juristischen Akt der »Abschaffung« in seiner Vollkraft nicht in Frage stellen.
Man kann sich fragen, wie wäre es, wenn dieser Akt nicht vollgezogen worden
wäre und das vom Kaiser D. Pedro II. bevorzugte Modell der allmählichen
»Entsklavung« sich durchgesetzt hätte? Effektiv kann behauptet werden, daß
nicht die Schwäche der »Lei Ýurea« (des Goldenen Gesetzes) für die prekäre Lage
dieser Bevölkerung veratwortlich ist. Wenn nach ihrer Proklamierung keine
Initiative zur Integration dieser Bevölkerungsgruppe in die wachsende kapitalistische Gesellschaft von der offiziellen Seite angestrebt wurde, kann dieses
Gesetz nicht beschuldigt werden, aber die ökonomischen und politischen
Machtinhaber – insb. zu Beginn der republikanischen Regierung -, die kein
Interesse an einer Verteilung des Landes, an einem breiteren Zugang zur !
Bildung für die Bevölkerung im Allgemeinen, etc. hatten. Außerdem wird häufig
argumentiert, daß der 13. Mai ein offizielles Datum sei, das von oben, also von
den Herrschenden, nach unten institutionalisiert bzw. aufoktroyiert wurde.
Trotz alledem hat der 13. Mai eine tiefe Bedeutung in zahlreichen afro-brasilianischen Kulten. An diesem Tag werden die »Pretos Velhos« (=alte weise
Schwarze) gefeiert, d. h. es ist der Tag, an dem alle spirituellen afrikanischen
Vorfahren, die Macht und Wissen in religiöser Hinsicht über Gesundheit,
Wohlbefinden, Magie, etc. besitzen, feierlich angerufen werden. Dieser Tag ist
sehr präsent im populären Denken und Handeln. In den Schulen, in den religiösen Zentren, in den Rathäusern, in den Kirchen, auf den Straßen, von Reichen, Armen, Monarquisten, Republikanern, von Weißen, Schwarzen und !
pardos wird der Tag freudig begrüßt und hat auch die Unterstützung des Staates,
obwohl er trotz seiner Wirkung nicht als Feiertag gilt. Diese Tatsache zeigt
wiederum deutlich, daß der Akt der »Abschaffung der Sklaverei« noch immer
nicht allgemein als ein würdiger Tag akzepiert und betrachtet wird. Dies kann
noch als Zeichen eines tiefsitzenden Ressentiments gegenüber dieser »Freiheit«
seitens der Herrschenden gedeutet werden. Der 20. November wird trotz seiner
noch etwas schwächeren Bedeutung vom Staat unterstützt im Rahmen des
Kultus- und Erziehungs-ministeriums.
Wesentlich bei der Diskussion dieser beiden Daten ist ihre Repräsentation für
Abolition und was geschah nach der Abolition?
37
die brasilianische Gesellschaft: Es ist und es soll ein Kampf sein der afro-brasilianischen Bevölkerung, mit dem Ziel einer egalitären Gesellschaftsordnung
für alle sozialen Gruppierungen im Lande. Die Bewußtwerdung beider Daten
bedeutet einen Schritt nicht nur für eine Neufassung der afro-brasilianischen
Geschichte, sondern auch den ersten Schritt, um die Geschichte aller Brasilianer/
innen bzw. des Landes selbst umzuschreiben.
Die gefeierten Tage eines Kalenders besitzen in jeder Kultur wichtige Funktionen, beinhalten eine tiefgehende Symbolik und haben ebenfalls eine starke
Aussagekraft, deshalb kann man zu beiden Daten sagen: Sowohl der 20. November, als auch der 13. Mai!
!abolicionismo !Anhang !Geschichte der Afrobrasilianer !Sklaverei
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de Barros Lins (1938): TrÞs abolicionistas esquecidos (B. Constant, M. Lemos, T. Mendes).
Rio de Janeiro; Th. Davatz (1941): Memûrias de um colono no Brasil. S¼o Paulo; R. Gir¼o
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Barbosa; O. J. Ferreira Guilhon (1974): Jos¦ do Patroc†nio. S¼o Paulo; R. Conrad (1975): Os
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38
A
Abwehrmagie (auch: apotropäische Magie)
Einführung:
Zauberische Abwehr. Wenn sich der Mensch bösen Einflüssen ausgesetzt fühlt,
sei es von Seiten unpersönlicher Kräfte, sei es von !Geistern, setzt er eine A. ein.
Gegen diese Gefahren kann man sich mit Kraftmitteln aller Art schützen: Worte
(magische Sprüche), Blut (Blutzauber), Speichel (Bespucken), !Tatauierung,
Abwehrauge (vgl. Stubbe, 2012:15) etc. Die magische Abwehr beruht häufig auf
dem Prinzip der Analogie (z. B. blaue Glasperlen gegen den bösen Blick der
blauen Augen). Amulette dienen als bleibende Abwehrmittel. Die gefahrdrohende Macht kann auch durch Schleier/Verhüllung, !Masken etc. abgelenkt
bzw. getäuscht werden oder man versucht sie durch Lärmen, Helligkeit, Gerüche,
Stahl etc. zu vertreiben. Auch Opferhandlungen, Beschwörungen und !Gebet
können einen apotropäischen Charakter annehmen.
Das Abwehrauge und »mal olhado« in Brasilien:
Das Abwehrauge ist ein magisches Symbol in unterschiedlicher Darstellung und
starker Verbreitung. Das Grundschema entspricht in allen Fällen einer deutlich
als Auge oder Augenpaar erkennbaren Darstellung. Anbringungsort und Bedeutung gehören in den Funktionsbereich des Beaufsichtigens, Abwehrens,
Ablenkens und Schützens, aber auch des Wahrnehmens und Blickfanges wie
z. B. im Heilzauber oder in der modernen Werbepsychologie. Der »Böse Blick«
(mal olhado) ist eine in vielen Gebieten der Erde (vor allem im Mittelmeerraum
und LA; vgl. Coluccio, 1984:182ff) verbreitete Vorstellung von der Schadenswirkung des Auges bzw. des Blickes. Ethnopsychologisch wird der »mal olhado«
durch Neid motiviert verstanden. Gegen den bösen Blick gibt es in Brasilien eine
Vielzahl von Abwehr- und Schutzmitteln wie das !Amulett, die !»figa«
(Brasilien), Halsketten, augenähnliche Broschen etc. In Lateinamerika und im
Mittelmeerraum gilt der böse Blick als mögliche Krankheitsursache und wird
oftmals von traditionellen !HeilerInnen behandelt.
! Amulett ! Figa !Krankheitsvorstellungen !macumba !patu‚ !Zauber
S. Seligmann (1922): Die Zauberkraft des Auges und das Berufen. Hamburg; ders. (1927):
Die magischen Heil- und Schutzmittel aus der unbelebten Natur mit besonderer Berücksichtigung der Mittel gegen den bösen Blick. Stuttgart; O. Koenig (1970): Kultur und
Verhaltensforschung. Einführung in die Kulturethologie. München; ders. (1975): Urmotiv
Auge. Neuentdeckte Grundzüge menschl. Verhaltens. München; L. da C–mara Cascudo
(1980): Dicion‚rio do folclore brasileiro. S¼o Paulo(5.ed.); T. Hauschild (1982): Der böse
Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen. Berlin; F. Coluccio
(1984): Diccionario de Creencias y Supersticones. Buenos Aires; O. Monteiro (1986):
Magia e pensamento m‚gico. S¼o Paulo; A. Dundes (ed.) (1992): The evil eye. Madison;
Africanos livres
39
T. Morone (1998): Malocchio. Die latente Gefahr des Neides. Ethnopsychologische Mitteilungen,7(2), S. 163 – 174; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, p.86
Adoption
Während der Sklavereizeit war es möglich, dass weiße Familien !Sklavenkinder
rechtmäßig adoptierten oder als »filhos de criażo« hielten. Nei Lopes (2006:13)
weist darauf hin, dass solche Kinder in psychologischer Hinsicht oftmals Persönlichkeitskrisen bzgl. ihrer Identität und Selbstwertprobleme entwickeln
können.
!Sklavenkindheit !Sozialpsychologie
A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio
escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, p.
Africanismos (auch: Afrikanismen)
Die vielen Afrikanismen im Brasil-Portugiesischen (vgl. ähnlich auch in Angola,
Mosambik und der übrigen port. sprachigen Welt) entstammen in ihrer überwiegenden Zahl den afrikanischen Bantu-Sprachen, aber auch das Yorub‚ und
die rel. Sprache im afrobras. Synkretismus haben einen bedeutenden Einfluss
ausgeübt. Die von den Sklaven gesprochenen afrikanischen !Sprachen (z. B.
quimbundo, conguÞs, herero, lulundo, bassutu, bitonga, sua†li, etc.) behandelt
z. B. Scis†nio (1997:233 – 236) ausführlich.
!Bibliografien !Kultur !Literatur !Made in Africa !Sprache
D. de Laytano (1936): Os africanismos do dialeto gaucho. Revista do Instituto Histûrico e
Geogr‚fico do Rio Grande do Sul (Porto Alegre); R. MendonÅa (1948): A influÞncia
africana no portuguÞs do Brasil. Porto (2. ed.); C. Bandeira (1962ff): Vocabul‚rio afro
luso-brasileiro. Jornal do Comm¦rcio (RJ), 16.dec. 1962, 30.dec. 1962, 20.jan. 1963,
3.feb. 1963, 24. feb. 1963, 10. Mar. 1963, 31 mar. 196321. abr. 1963; A. E. Scis†nio (1997):
Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; Michaelis. Dicion‚rio escolar lingua portuguesa. S¼o Paulo, 2008
Africanos livres
Bezeichnung für Afrikaner, die nach dem Verbot des Sklavenhandels (1831)
nach Brasilien kamen. Sie wurden als »emanzipiert« betrachtet und arbeiteten
40
A
unter dem Schutz der Regierung (tutela do governo) in öffentlichen städtischen
Projekten, insbes. den langwierigen. Sie warteten auf ihre Rückreise (auf Kosten
der Sklavenhändler), was jedoch nie geschah, ganz im Gegenteil wurden sie
allmählich unter die allgemeine Sklavenbevölkerung gemischt d. h. auch versklavt. Erst im Jahre 1864 wurden durch ein kaiserliches Dekret alle »africanos
livres« emanzipiert.
!Alforria !Emanzipation !Fluxus und Refluxus !Geschichte !Sklaverei
E. de Mesquita Samara (1988): Os testamentos de libertos como fonte para a histûria da
escravid¼o. Revista Brasileira de Histûria (SP), 8(16), p. 266 – 268; A. E. Scis†nio (1997):
Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo
Afrobrasilianer
Nei Lopes (2006:15) definiert klar : »afro-brasileiro – qualificativo do indiv†duo
brasileiro de origem africana e de tudo que lhe diga respeito. Relativo, ao mesmo
tempo, — Ýfrica e ao Brasil, como o indiv†duo brasileiro de ascendÞncia africana.« A. hebt also vor allem die qualitativen Kennzeichen eines brasilianischen
Individuums mit afrikanischem Ursprung hervor und bezieht sich gleichzeitig
auf Afrika und auf Brasilien«. »Afro-brasileiro« wird oft mit !»negro« gleichgesetzt.
!»mulata/mulato« !»negro«
Cl. Moura (1977): O negro. De bom escravo a mau cidad¼o. Rio de Janeiro; ders. (1989):
Histûria do negro brasileiro. S¼o Paulo; A. Dzydzenyo (1979): Afro-Brazilians. London; R.
Motta (org.) (1985): Os afrobrasileiros. Anais do III. Congresso Afro-Brasileiro. Recife;
D. J. Davis (2000): Afro-Brasileiros Hoje. S¼o Paulo (engl. Ausg. 1999); N. Lopes (2006):
Dicion‚rio escolar afrobrasileiro. S¼o Paulo
Afrobrasilianistik (auch: Estudos afrobrasileiros)
A. ist die Wissenschaft von den Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianern in
ihrer ca. 500jährigen Geschichte und Kultur in Brasilien. Sie erforscht als wissenschaftliche Disziplin jedoch nicht nur ihre !Geschichte (insbes. die
ca. 350 Jahre dauernde Sklaverei), sondern auch ihre !Kultur, (Kultur-)Anthropologie, !Religionen, Soziologie, !Politik, !(Sozial-) Psychologie, !
(interkulturelle) Philosophie, !Kunst(wissenchaft), !Musik, !Literatur, !
Sprachen, !Bildung, Arbeitsverhältnisse, Bedingungen des !Wohnens, !
Gesundheit etc. (vgl. Santos-Stubbe,1998:4). Die Forschungsthematik der A.
erstreckt sich demnach historisch grob auf drei Zeitabschnitte: die Vergan-
Afrobrasilianistik (auch: Estudos afrobrasileiros)
41
genheit dieser Gruppen in Afrika, den Zeitraum der afrikanischen !Sklaverei in
Brasilien (ca. 1538 – 1888) und den neuzeitlichen Zeitabschnitt bis zur Gegenwart (1888 bis heute) (zur Geschichte der A. und ihrer anthropologischen
Theorien vgl. !Einführung; z. B. Ribeiro, 1988:63 – 110).
A. ist somit eine interdisziplinäre Wissenschaft und eine »Schnittwissenschaft« zwischen Afrikanistik (auch: Afrikanologie) und (Latein-)Amerikanistik bzw. Brasilianistik, die sowohl naturwissenschaftliche, als auch geisteswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und humanwissenschaftliche Methoden
verwendet. A. ist auch eine internationale Wissenschaft, die allein schon wegen
der jahrhundertelangen (kolonialen) ökonomischen und politischen (kolonialen) Abhängigkeit Brasiliens (dependÞncia), vor allem während der Sklavereizeit, nicht nur in Brasilien betrieben werden kann, da wichtige (z. B. politische
bzw. den Sklavenhandel betreffende) Dokumente und wissenschaftliche Institutionen und Publikationen auch außerhalb Brasiliens existieren z. B. in Portugal und anderen Ländern Europas, Amerikas und Afrikas. Bisher existiert
bedauerlicherweise noch kein Lehrstuhl der Afrobrasilianistik!
Abdias do Nascimento & E. Larkin Nascimento (2000ff) sprechen bzgl. der A.
kurz und klar von »Sankofa« d. h. einer »recuperażo e valorizażo da rica
tradiżo cultural africana« (vgl. auch die gleichnamige Zeitschrift, N. F. 2007ff)
und der »afrocentricidade« in den Wissenschaften (vgl. z. B. in der Psychologie:
Azibo, 1996).
In einer neueren Bibliografie der wissenschaftlichen Literatur über die
Sklaverei und die »Rassenbeziehungen« (relaÅþes raciais) in Brasilien (1970 –
1990) werden folgende Häufigkeiten der Forschungsthemen der A. aufgelistet:
Sklaverei und Abolition (47 %), polit. Teilnahme, Kultur und Identität (18,4 %),
Religion (16,7 %), »Rassenbeziehungen« und »desigualidades« (10,9 %) und
Bibliografien, allgemeine Studien, Drucke (7 %) (vgl. CEAA, 1991:19 f; Skidmore, 1998:335 – 351).
A. ist nicht mit »Sklavereiforschung« gleichzusetzen, aber letztere bildet
einen grundlegenden Teil der A. Die Sklaverei, die um 1538 begann, wurde in
Brasilien erst im Jahre 1888 abgeschafft. Auch die afrikanischen Wurzeln der
(afro)brasilianischen Kultur sind ein wichtiges Forschungsthema (!Made in
Africa). A. ist jedoch keine »museale« Wissenschaft (vgl. »Musealisierung« des
Anderen bzw. Fremden, Dean, 2010), auch wenn sie schon über 100 Jahren
betrieben wird (vgl. Nina Rodrigues, 1862 – 1906), sondern sie erforscht die
Afrobrasilianer in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (soweit dies überhaupt möglich ist!) in allen ihren Lebenslagen und -bereichen.
Eine Übersicht über wichtige Institutionen, !Bibliografien und Periodika,
Biblioteken, !Museen, !Organisationen und universitäre Kurse bzgl. der A.
findet man z. B. in Santos (1985), IPCN (gegr. 1975, RJ), CEAA (1991:239 – 259),
IBEA, Institut für Brasilienkunde (Mettingen), USP, Martius Staden-Institut
42
A
(S¼o Paulo), Brasilien-Bibliothek der Robert Bosch GmbH (1986), Instituto
Joaquim Nabuco de Pesquisas Sociais (Recife), Biblioteca Nacional, IberoAmerikanisches Institut/Bibliothek (Berlin), etc. Seit 2000 finden in regelmäßigen Abständen der »Congresso Luso-Afro-Brasileiro de CiÞncias Sociais«
(auch unter dt. Beteiligung, vgl. Manfred Prinz, UNI-Gießen, 2011) oder die von
Helmut Siepmann (ZPW- Köln) organisierten Tagungen und die »DeutschPortugiesischen Arbeitsgespräche« statt (vgl. Atas).
A., wie sie in diesem Lexikon vorgestellt wird, sollte nicht aus einer einzigen
Perspektive z. B. der Religionswissenschaft, der Sprach- und Literaturwissenschaft oder Geschichtswissen-schaft heraus betrieben werden, sondern es sollte
versucht werden eine interdisziplinäre, internationale, vielfältige, lebenswirklichkeitsnahe Sicht der Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianerinnen und
Afrobrailianer zu wagen.
!Anhang !Anthropologie !Bibliografien !Bildung !Einführung !
Folklore !Frau !Geschichte !Gesellschaft !Gesundheit !Kunst !Museen
!Ökonomie und Arbeitswelt !Organisationen !Religionen !Sklaverei !
Wohnen
R. Nina Rodrigues (1904): As belas artes nos colonos pretos do Brasil. A escultura. Revista
Kosmos (RJ), vol. 1, n8 8, agosto de 1904; ders. (1932, 1935): Os africanos no Brasil. S¼o
Paulo (posthum, 2. ed.); ders. (1935): O animismo fetichista dos negros baianos. S¼o Paulo
(posthum); G. Freyre (1933, 1969): Casa grande e senzala. 2 vol.s. Rio de Janeiro; ders.
(1936, 1985): Sobrados e mucambos. 2 vol.s. Rio de Janeiro; 1. Congresso Afro-brasileiro.
Pernambuco, anno de 1934. Recife (reed. Fundażo Joaquim Nabuco (ed.) Estudos AfroBrasileiros. Recife, 1988); Ramos (1935): O Folk-Lore Negro do Brasil. Rio de Janeiro; ders.
(1934): O Negro Brasileiro. Rio de Janeiro; ders. (1971): O negro na civilizażo brasileira.
Rio de Janeiro; ders. (1979): As culturas negras no Novo Mundo. S¼o Paulo (4.ed.); 2.
Congresso Afro-Brasileiro. Bahia 1937. Rio de Janeiro, 1940; R. Bastide (1939): Ensaios de
metodologia afro-brasileira. Revista do Arquivo Municipal (SP), 5(59), jul., p. 17 – 32;
ders. (1945): Êtudes afro-br¦siliennes, ¦tude bibliografique (1939 – 1944): Bulletin des
Êtudes Portugaises et de L’Institut FranÅais au Portugal; ders. (1983): Estudos afro-brasileiros. S¼o Paulo; A. G. Mesquitela (1963): Da import–ncia dos estudos bantos para a
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(Niterû†), 1(2), jul., p. 34 – 36; E. Bredford Burns (1974): Manuel Querino’s interpretation
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Carneiro, Ruth Landes e os candobl¦s bantus. Revista do Arquivo Pfflblica (Recife), 30(32),
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(1896 – 1934). Revista do Arquivo Pfflblico (Recife), 31/32, (33/34), 1977/78: 50 – 59; M.
Acosta Saignes (1976): Ideias de Bastide sobre as Am¦ricas negras. Afro-Ýsia (Salvador),
Afrodescendentes
43
(12), P. 109 – 116; D. Menezes (1978): Teses brasilianistas e ant†theses brasileiras. Revista
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de Douglas Teixeira Monteiro — sociologia da religi¼o de Roger Bastide. Religi¼o e Sociedade (RJ), 4, p. 31 – 36; E. Beuchelt & W. Ziehr (1979): Schwarze Königreiche – Völker
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residuos coloniais. O »outro« fragmentado. Religi¼o & Sociedade (RJ), (8), jul., p. 11 – 14;
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ex-escravo. Estudos Ibero-Americanos (Porto Alegre), 14 (2), p. 215 – 230; R. Nagel & E. I.
Schirmer Richter (1988): Elementos de arquivologia. Santa Maria: UFSM; C. Christoforo
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Paulo (2.ed.); Ch. dos Santos-Stubbe (1998, 2001): Die Afrobrasilianer. Bad Honnef (2.
Aufl.); N. Lopes (2003): Enciclop¦dia brasileira da di‚spora africana. S¼o Paulo; ders.
(2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; I. Dean (2010): Die Musealisierung
des Anderen. Stereotype in der Ausstellung ›Kunst in Afrika‹. Tübingen; W. Schicho
(2010): Geschichte Afrikas. Stuttgart; Internet: www. EUBRAS.de; www.cibera.de
Afrodescendentes
Nei Lopes (2006:15) definiert kurz und knapp: »afro-descendente – termo
modernamente usado no Brasil para designar o indiv†duo descendente de
africanos, em qualquer grau de mestiÅagem.« A. – bezeichnet also gegenwärtig
in Brasilien ein von Afrikanern abstammdes Induviduum, in allen Abstufungen
44
A
der »mestiÅagem«. In einer neueren repräsentativen IBGE-Untersuchung (2008)
bezeichneten sich 21,5 % der Interviewten als »afrodescendentes«.
!Afrobrasilianer !»mestiÅo« !»mulata/mulato« !»negro« !»pardo«
R. F. Ferreira (2000): Afro-Descendente. Identidade em construżo. Rio de Janeiro; N.
Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; Film: DVD: 2011 International
Year for People of African Descendent; Internet: wikipedia.org/wiki/Afro-brasileiros
Afrolateinamerikaner
Es ist sozialpsychologisch nicht korrekt, die Afrolateinamerikaner als eine
»Minorität« zu betrachten, wenn man darunter eine zahlenmäßige !Minderheit versteht, denn in vielen lateinamerikanischen Regionen liegt ihr Bevölkerungsanteil nämlich weit über 50 % (z. B. Haiti: über 80 % Schwarze und 15 –
20 % »Mulatten«; Kolumbien: ca. 25 % »Mulatten« und 5 % Schwarze; Venezuela: ca. 33 % »Mulatten« und ca. 9 % Schwarze; vgl. Nohlen, 2000; Lopes,
2004, 2006). Brasilien kann man mit Recht als zweitgrößtes »afrikanisches« Land
der Erde (nach Nigeria) bezeichnen. Santos-Stubbe (1995) und Stubbe (1987,
1988, 2001) haben mehrfach darauf hingewiesen, daß bereits die Erfassung der
!Hautfarbe (die in vielen offiziellen Dokumenten und Ausweisen immer noch
erfaßt wird) in LA ein sozialpsychologisches Problem ist. Allein in Brasilien
existiert eine über 900 verschiedene ethnische und rassische Ausdrücke umfassende Terminologie (vgl. Stephens, 1989; Harris, 1970) und bei der Volksbefragung im Jahre 1980 kennzeichnete der nichtweiße brasilianische Bevölkerungsanteil seine Hautfarbe mit insgesamt 136 verschiedenen Ausdrücken
(vgl. Stubbe, 1992)! Viele Soziologen und Sozialpsychologen konnten konstatieren, daß den offiziellen Hautfarbenstatistiken in LA nur eine geringe Objektivität zukommt, da sie auf Selbsteinschätzung beruhen und wir im allgemeinen
eine Tendenz zum »branqueamento« (Skidmore, 1976) beobachten können.
Insgesamt kann man feststellen, daß deutschsprachige (Sozial-)Psychologen
bisher den (sozial-) psychologischen Problemen dieser großen Bevölkerungsgruppe wenig Interesse entgegengebracht haben, wohingegen über den afrolateinamerikanischen Synkretismus schon viele Aufsätze und Dissertationen
vorliegen (vgl. z. B. Woehlcke, 1972; Kasper, 1984; Richeport, 1987; Figge, 1980;
Stubbe, 1987, 1989, 1991; Hohenstein, 1991). Die von Peltzer, Ebigbo, SantosStubbe, Stubbe und Collignon 1988 gegründete internationale Fachzeitschrift
»Journal of Psychology in Africa (South of the Sahara, the Caribbean and AfroLatinamerica)« versucht die Psychologie der Afrolateinamerikaner stärker ins
Bewußtsein der psychologischen Fachwelt zu rücken.
Die Frage, ob es in LA eine Rassenideologie und Rassendiskriminierung gibt,
Ahnen (auch: Vorfahren, ancestrais)
45
wurde vor allem von Historikern (vgl.z. B. Geiss, 1988) und Soziologen (z. B.
Moura, 1988) untersucht. In seiner sozialhistorisch und kulturanthropologisch
orientierten Monographie »Geschichte der Psychologie in Brasilien« ist
H. Stubbe (1987) erstmalig ausführlich auf verschiedene ethnopsychologische
Aspekte der Afrobrasilianer wie !Banzo !Candombl¦ !indigene Psychologie
!Suizide, !Trauer(-Riten), !Ethnotherapie etc. eingegangen.
Die !Sozialpsychologie der Sklaverei ist von der Forschung bisher stark
vernachlässigt worden. Psychische Reaktionen auf diese Extremsituation wie
suizidales Verhalten und !»banzo« wurden von Stubbe (1985, 1987, 1990, 1995,
2001) und Santos-Stubbe (1986, 1988, 1998) untersucht. Sie interpretieren
»banzo« als eine kulturspezifische und sozio-ökonomisch bedingte Form eines
psycho- bzw. soziogenen Todes bei den afrobrasilianischen Sklaven (vgl. Stubbe
& Santos-Stubbe, 1990). Die Zusammenhänge von Rassenideologie und der
politischen Entwicklung diskutiert z. B. Max Paul (1982) am Beispiel Haitis und
Bermudas. Er vertritt die These, daß sog. Rassenprobleme eher in einem sozioökonomischen als in einem politischen Kontext verwurzelt sind und in
letzterem mehr eine instrumentale Bedeutung haben. Paul zeigt auf, daß Rassenideologien in Haiti und Bermuda von den jeweiligen Eliten mobilisiert oder
bekämpft werden, je nachdem wie es dem Aufbau oder der Verteidigung ihrer
Machtposition gerade nütze. In beiden Ländern ist jedoch eine grundsätzliche
Konstanz der sozialen Strukturen hinsichtlich der Klassenschichtung und der
Formen der Machtausübung der jeweiligen Eliten festzustellen.
!Afrobrasilianer !Bibliografien !Hautfarben
R. L. Lûpez Vald¦s (1985): Componentes africanos en el etnos cubano. La Habana;
H. Stubbe (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Berlin; ders. (1992): Psychologie, In: Handbuch der deutschsprachigen Lateinamerikakunde. Freiburg/Brsg.; ders.
(2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; E. Heinemann (1990): Mama Afrika. Das Trauma der Versklavung. Eine ethnopsychoanalytische Studie über Persönlichkeit, Magie und Heilerinnen in Jamaica. Nexus; H. Stubbe & Ch. dos Santos-Stubbe
(1990): Banzo- Eine afrobrasilianische Nostalgie? Curare, vol.13, 1990:123 – 132; B. NuÇez
(1980): Dictionary of Afro-Latinamerican Civilization. Westport; N. Lopes (2003): Enciclop¦dia brasileira da di‚spora africana. S¼o Paulo; ders. (2006): Dicion‚rio escolar afrobrasileiro. S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie.
Gießen
Ahnen (auch: Vorfahren, ancestrais)
Einführung:
Unter A. versteht man die nach dem physischen Tod im Gedächtnis ihrer Verwandten weiterexistierenden Familienmitglieder. A. erfahren oftmals eine be-
46
A
sondere Verehrung, weil sie schon zu Lebzeiten Ansehen genossen und eine
große Nachkommenschaft hinterlassen haben. Bei ihrem Tod werden sie durch
kulturspezifische Rituale als A. in die Verwandtengruppe aufgenommen.
Manchmal ist ein Prozeß der »Sanktifizierung« der A. zu beobachten (A.kult). A.
gelten als Wächter über die Traditionen und üben eine gewisse Kontrolle über
ihre Nachkommen aus. Über Opfer und !Gebete wird Kontakt zu ihnen aufgenommen und gepflegt. In der evolutionistischen Ethnologie des 19. Jh.s galten
die A. als Ursprung der Religion überhaupt (vgl. Tylor, Manismus, Animismus).
Der Psychologe und Ethnologe Meyer Fortes (1906 – 1983) sah aufgrund seiner
afrikanischen Feldforschungen die A. als eine Erweiterung der Sozialordnung
an. In manchen Teilen Afrikas werden A. wie die Ältesten der Familie behandelt,
weshalb manche Forscher (z. B. Driberg, 1936) der A.verehrung jegliche religiöse Natur abgesprochen haben. Im antiken Rom existierte als Teil des A.kultes
ein »ius imaginum« (Recht auf Bilder), ein Vorrecht vornehmer Römer, von
Verstorbenen ihrer Familie, die ein höheres Amt verwaltet hatten, eine Wachsmaske herstellen zu lassen. Starb ein anderes Mitglied der Familie, so legten
Schauspieler diese Masken, die man über Generationen sorgfältig aufbewahrte,
und die Amtstracht des in der Maske Dargestellten an und fuhren so vor dem
Leichenwagen her. »Welch ein Anblick muß es gewesen sein, wenn bei der Bestattung eines Scipio die Scipionen vergangener Jahrzehnte, ja Jahrhunderte
ihren Toten in die Unterwelt abholten und dann an dem Sarge oder Scheiterhaufen ein Verwandter, meist der Sohn des Verblichenen, die Leichenrede hielt!«
(Wörterbuch der Antike, 1976:348)
Ahnenkult der Afrobrasilianer:
Auf der Insel Itapar†ca (BA) findet im Rahmen des !Candombl¦ ein Ahnenkult
(culto dos ancestrais) statt (vgl. Elbein dos Santos, 1976). Nei Lopes (2006:19)
betont, dass der Ahnenkult in einer Verehrung der Ahnengeister besteht, um die
von ihnen ausgehende Energie zu empfangen. In der afrikanischen Tradition,
war der Glaube an das Überleben der Seele nach dem Tode immer eine Garantie
für die innere soziale Stabilität und familiäre Einheit (zur Ahnenseele vgl. auch
Frikel, 1995:98 – 102). Der hochgeehrte »Mestre Didi« (*1917), der Sohn der
ialorix‚ M¼e Senhora, hat sich als ein direkter Nachfahre von Afrikanern (Ketu)
für den Ahnenkult (nagús) in Bahia eingesetzt.
!Geister !indigene Psychologie !Literatur
J. H. Driberg (1936): The secular aspect of ancestor worship in Africa. Journal of the Royal
African Society, 35; P. Frikel (1941, 1995): Die Seelenlehre der GÞge und Nagú. Brasilien
Dialog, 3/4/95, S. 89 – 196; M. Fortes & G. Dieterlen (ed.s) (1965): African system of
thought. Oxford; J. Elbein dos Santos (1976): Os nagú e a morte. Petropolis; dies. & D. M.
Santos (1981): O culto dos ancestrais na Bahia: O culto dos Êgun. In: R. Bastide et al. (ed.),
Akkulturation
47
Escritos sobre a religi¼o dos orix‚s. S¼o Paulo; H. Stubbe (1983): Verwitwung und Trauer
im Kulturvergleich. Mannheim/Rio de Janeiro; ders. (1986/87): Tod, Trauer und Verwitwung in der brasilianischen Folklore. Staden Jahrbuch, 34/35, p. 11 – 29; J. Santana
Braga (1990): Ancestralidade afro-brasileira. Em: J. Santana Braga (org.), Religi¼o e cidadania. Salvador : UFBa/EGBA, p. 11 – 28; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo
Akkulturation
Einführung:
Unter A. versteht man den Wandel der Kultur einer ethnischen Gruppe oder
auch eines Einzelnen durch Übernahme von Elementen aus einer fremden
Kultur. Der Begriff A. wird häufig mit !Assimilation verwechselt. A. entsteht
aus nachhaltigem Kontakt und mehr oder minder kontinuierlicher Interaktion
zwischen kulturell verschiedenen Gruppen. Im Prozeß der A. werden Techniken,
Gegenstände der materiellen Kultur, Verhaltens- und Erlebensmuster, Werte,
Institutionen etc. übernommen und je nach den Bedingungen modifiziert oder
angepasst. Aus dem A.sprozeß können durch Verschmelzen von Elementen aus
beiden Systemen neue, eigenständige Kulturprodukte entstehen z. B. ein afrobras. religiöser Synkretismus. A. ist häufig ein selektiver Vorgang bei dem aus
einer bestimmten Machtposition der dominanten Kultur nur bestimmte Kulturelemente übernommen, andere jedoch abgelehnt werden. A. kann mit Streß
verbunden sein (akkulturativer Streß, s. u.). Der Akkulturationsprozeß kann in
vier Richtungen (Formen) verlaufen: der Integration, der !Assimilation, der
!Ausgrenzung bzw. der !Segregation (Ghettoisierung, Separation) und der
Marginalisation.
Kritiker werfen der A.forschung vor, daß sie das Ziel einer Assimilierung in
die dominante euro-amerikanische Kultur propagiere und lehnen sie deshalb als
ethnozentrisch ab.
Akkulturativer Streß bei Afro-Amerikanern:
Die A., besonders wenn sie abrupt verläuft, ist häufig mit Streß verbunden.
Unter Streß wird hierbei n. H. Selye die Verletzung der Integrität des Organismus
durch abnorme Belastungen vorwiegend der vegetativen Funktionen verstanden, die ein allgemeines Adaptationssyndrom des Leibes auslösen kann. In
diesem Sinne kann akkulturativer Streß ein belastendes Erlebnis sein, das in
Zusammenhang mit anderen Faktoren oder allein eine körperliche, psychische
oder psychosomatische Krankheit zur Folge haben kann, wie bei Migranten als
eine potentielle Risikogruppe oftmals zu beobachten ist. Die Life events-For-
48
A
schung (z. B. mit der Holmes-Rahe-Skala) versucht akkulturativen Streß individuell messbar zu machen. J. W. Berry (1994) hat z. B. ein Modell des akkulurativen Streß entwickelt nach dem besonders die Situationen der Marginalisation und Segregation einer ethnischen Minorität einen stärkeren akkulturativen
Streß bedeuten d. h. gesundheitliche Risiken darstellen.
Faktoren, die das Verhältnis zwischen Akkulturation und Streß moderieren
sind hiernach vor allem:
– Die Art der Akkulturation: Integration, Assimilation, Separation, Marginalisation
– Die Phase der Akkulturation: Kontakt, Konflikt, Krise, Adaptation
– Die Ausrichtung der Bezugsgesellschaft: Multikulturalismus vs. Assimilationismus; !Vorurteil und !Diskriminierung
– Die Charakteristika der akkulturierenden Gruppe: Alter, Status, soziale Unterstützung
– Die Charakteristika des akkulturierenden Individuums: Schätzung (appraisal), Coping, Attitüden, Kontakt (vgl. Berry, 1994:213)
Migranten und ethnische !Minderheiten sind oftmals einem stärkeren akkulturativen Streß unterworfen. So ist z. B. bekannt, daß die körperliche wie
psychische !Gesundheit der Afro-Amerikaner und »Indianer« in den USA und
Brasilien schlechter ist als die der Weißen (z. B. AIDS, Bluthochdruck, Suizide,
Adipositas, !Alkoholismus etc.). Es besteht in der Forschung kein Zweifel, daß
ein großer Teil des Problems mit der Armut der Afro-Amerikaner (damit verbunden schlechte Ernährung, hohes Maß an Gewalt, unzureichende Gesundheitfürsorge etc.) und einer Fülle von psychosozialen Belastungsfaktoren (z. B.
Außenseiterstatus, Fremdheitsgefühl) zusammenhängt. In einer Studie über
akkulturativen Streß bei Afro-Amerikanern unterschied Anderson (1991), sich
auf das Streß-Modell von Richard S. Lazarus (1922 – 2002) stützend, drei allgemeine Kategorien von Stressoren: 1. Stressoren der Ebene 1 (chronisch). Hierunter fallen Stressoren wie !Rassismus, hohe Wohndichte, Lärmbelastung,
schlechte Lebensbedingungen (daraus folgend eine höhere psychiatrische
Hospitalisierungs-rate). 2. Stressoren der Ebene 2 (wichtige Lebensereignisse).
Hierunter werden die Ereignisse verstanden, die auf der Life-Events-Skala von
Holmes & Rahe aufgelistet sind. Soziökonomische Probleme gehören zu den
wichtigsten Stressoren für Afro-Amerikaner. 3. Stressoren der Ebene 3 (tägliche
Ereignisse, Mikrostressoren). Darunter sind alltägliche Ärgernisse, Verkehrsbeeinträchtigungen, unfreundliche Vorgesetzte, unerwünschte Telefonanrufe
etc. zu verstehen. Anderson warnt jedoch davor, dieses Modell zu deterministisch zu interpretieren. Wie bei vielen Minoritätsgruppen gibt es auch bei den
Afro-Amerikanern einen Zwang zur !Assimilation (die u. a. darin zum Ausdruck kommt, daß die weiße !Hautfarbe mit Überlegenheit gleichgesetzt wird
Akkulturation
49
und Mittel zur Straffung des !Haares und zur Aufhellung der Haut eingesetzt
werden; vgl. !Ethnoästhetik), während gleichzeitig Hemmnisse bestehen, von
der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert zu werden. Der akkulturative Streß kann
auf allen Ebenen bestehen, wird jedoch meistens auf der Ebene des alltäglichen
Ärgers wahrgenommen (vgl. Attributionen). Das Selbstwertgefühl der Angehörigen dieser !Minderheit kann hierunter beträchtlich leiden und der akkulturative Streß sich hierdurch verstärken. Williams & Anderson haben auch
eine »Akkulturelle Streß-Skala« (Acculturative Stress Measure) entwickelt. Wie
kann der akkulturative Streß abgebaut werden? Anderson betont die Veränderung potentiell belastender Umweltbedingungen und die Entwicklung effektiver
Coping-Strategien (Bewältigungsstrategien d. h. Verhaltensweisen und Einstellungen, mit deren Hilfe belastende Situationen bewältigt werden können: z. B.
Informationssuche, direkte Aktion, Aktionsaufschub, intrapsychische Verarbeitung, professionelle Hilfe, Sinnstiftung). Im Hinblick auf die Afro-Amerikaner wird herausgestellt, daß diese häufiger die !Religion und das !Gebet
benutzen, um ihre emotionalen Reaktionen auf negative Situationen zu kontrollieren. Das Selbstwertgefühl kann auch durch die Schaffung einer positiven
Identität mit der !»raÅa« verstärkt werden (z. B. »black is beautiful«, RastafariBewegung, Black-Muslims etc.), um der in der Gesellschaft vorherrschenden
negativen !Stereotypen gegenüber den Afro-Amerikanern zu begegnen. Auch
Formen der sozialen Unterstützung und gegenseitigen Hilfe (Mutualismus) wie
sie in familiären, religiösen, sportlichen, kulturellen (vgl. Jazz), sozialen und
politischen !Organisationen gelebt werden, können für Afro-Amerikaner
wichtig sein und stressreduzierend wirken.
Minoritäts- bzw. Migrantengruppen besitzen ihr eigenes Profil des akkulturativen Streß wie z. B. die »Latinos«, die asiatischen (Süd-)Amerikaner, die
»Indianer« und Juden in den USA und in Brasilien. In Deutschland und Brasilien
liegen bisher nur sehr vereinzelt systematische Studien über akkulturativen
Stress und seine Auswirkungen auf die körperliche, soziale und seelische !
Gesundheit der Afrobrasilianer vor.
!Favela !Gesellschaft !Migration !Minderheiten !Schönheitsoperationen
E. Ozer (1986): Health status of minority women. Washington DC; US Department of
Health and Human Services, Report of the secretary’s task force on black and minority
health, vol. 1 – 8,1986; L. P. Anderson (1991): Acculturative stress: A theory of relevance to
black Americans, Clin. Psychol. Review, 11, p. 685 – 702; W. J. Lonner & R. Malpass
(1994): Psychology and culture. Boston; D. L. Sam & J. W. Berry (2006): The Cambridge
Handbook of Acculturation. Cambridge; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen
Anthropologie. Gießen
50
A
Alforria (arab. al-hurriiâ)
Akt der Freilassung des Sklaven. Nei Lopes (2006:17) schreibt: »No Brasil, a
alforria, conseguida por compra, doażo ou imposiżo legal, podia ser feita: por
carta, no caso do escravo adulto que comprava ou recebia gratuitamente a
liberdade; por testamento, na circunst–ncia de o escravo ser declarado manumisso no testamento do propriet‚rio falecido; de pia, quando a libertażo occoria no ato do batismo catûlico, mediante o pagamento, ao dono do escravo, de
uma quantia previamente estipulada. Outra forma de concess¼o da alforria era a
carta de liberdade condicional, na qual o outorgante estipulava a libertażo do
escravo em data determinada, por exemplo, para depois do falecimento do
propriet‚rio.«
Die »carta de alforria« kann auch als ergiebige historische Quelle der Afrobrasilianistik genutzt werden (vgl. Queiroz Matoso, 1976; Gattiboni, 1990).
Alaúr Scis†nio (1997:21 f) hat die legislativen Aspekte der A. eingehend bearbeitet.
!africanos livres !Sklaverei
K. M. Queirûs Matoso (1976): A carta de alforria como fonte complementar para o estudo
de m¼o obra escrava urbana (1819 – 1886): Em: C. Bala¦z & M. Buesco (ed.s), A moderna
histûria econúmica. Rio de Janeiro; R. Gattiboni (1990): Cartas de alforria em Rio Grande
(1874 – 79 e 1884 – 89). Estudos Iberoamericanos (Porto Alegre), 16(1/2), p. 117 – 136; A. E.
Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio
escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo
Alkoholismus (auch: Trunksucht, alcoolismo)
Einführung:
Unter A. versteht man i.w. S. jeden über das sozial erlaubte Maß hinausgehenden
Genuß von alkoholischen Getränken, einmalig oder dauernd, aus Gewohnheit
oder in Form einer Sucht. Feuerlein (1989) betont, daß es außer den biologischen
und psychologischen Sucht-Theorien gegenwärtig keine zusammenfassende
oder gar eigenständige Theorie gesellschaftlicher Wurzeln des A. gibt. An soziokulturellen Einflüssen des A. lassen sich folgende aufzählen:
1. Einstellungen zum A.konsum. Hier werden üblicherweise 3 Grundeinstellungen unterschieden: Ritueller Konsum z. B. bei sakralen Handlungen, sozialkonvivialer Konsum z. B. tradierte Trinksitten, utilitaristischer Konsum z. B. zur
Stimulation, Angstreduzierung, Enthemmung, Machtbefriedigung, aus hedonistischen oder geschmacklichen Gründen etc. In der strukturell-funktionalistischen Theorie werden vor allem die Spannungsreduktion, Ersatzbefriedigung,
Alkoholismus (auch: Trunksucht, alcoolismo)
51
Untersozialisation bei mangelnden tragfähigen Primär- und Se-kundärbeziehungen, soziale Rollenkonflikte und Anomie hervorgehoben.
2. Regionale Unterschiede (»Kulturkreise«): Man unterscheidet vier Kulturformen des A.konsums bzw. -mißbrauchs: »Abstinenzkulturen« (z. B. islamische, hinduistische Gesellschaften), auf asketisch-puritanischen Auffassungen
basierende »Ambivalenzkulturen« (z. B. Skandinavien, England, Kanada, USA),
die seit der späten Kindheit an limitierten A.konsum gewöhnten »Permissivkulturen« (z. B. mediterrane Länder), die den Exzeß billigenden und den Rausch
sozial akzeptierenden »Permissiv (funktions-gestörten) Kulturen« (z. B. Osteuropa, Russland, Südamerika).
3. »Griffnähe« der Alkoholgetränke: Sie reicht von dem totalen Alkoholverkaufsverbot (Prohibition) über ambivalenter zur permissiven Einstellung z. B.
dem Ausschank in Werkkantinen sowie durch Automaten.
4. Sozialer Wandel und Wertewandel: Die Einstellungen zum Alkoholkonsum
schwankten in den meisten Ländern im Laufe der Jahrhunderte zwischen der
Verherrlichung und der völligen Verdammung vgl. Temperenzbewegung
(D 1878), Prohibition (USA 1917): Wichtig sind in westlichen Industriegesellschaften außerdem die Alkohol-Sozialisation und En-kulturation, die Schichtzugehörigkeit, die Arbeitssituation, die Herkunftsfamilie, die Primärgruppen,
Migration, Flüchtlingsschicksal, Arbeitslosigkeit, Nichtseßhaftigkeit, Emanzipation, Reizüberflutung, Konsumismus, Desintegration etc. (vgl. Feuerlein,
1989). Sowohl in Afrika als auch in (Süd-)Amerika (vgl. Trenk, 2000) wurde
Alkohol von den Kolonisatoren gezielt eingesetzt, um die Kampfmoral und
Widerstandskraft der unterworfenen Bevölkerung zu schwächen (vgl. Opium in
China!) bzw. ihre Kultur und Gesellschaft zu zerstören. Z. B. konnten im südlichen Afrika die Kolonialsoldaten ihren spär-lichen Sold durch Alkoholverkaufslizenzen aufbessern. Die traditionellen Chiefs wandten sich häufig gegen
diese Institution, was häufig zu Konflikten führte. Die Insel an der Mündung des
Hudsonflusses, heute New York, erhielt den indianischen Namen »Manhattan«
d. h. »Ort der Trunkenheit«, weil die Entdecker (H. Hudson, 1609) die lokalen
»Indianer« mit Branntwein gefügig machten (Lokotsch, 1926). Auch der dt-bras.
Ethnologe Nimuendajffl berichtet in seinen Briefen aus den 30er Jahren über die
kulturvernichtende Wirkung des Alkohols bei den indianischen Ethnien Brasiliens im Zuge der Landbesetzungen durch die Neobrasilianer (mittels der
»vendedores de cachaÅa«). Über die Kultur der Peb-kah‚k schreibt er z. B. am
30. 6. 1930 sie habe sich »wortwörtlich im Alkohol aufgelöst« (Welper, 2002:55,
56, 62). In der staatssozialistischen DDR wurden nach Paul Brieler (1992)
»17 Millionen Menschen mit Alkohol ruhiggestellt«. 1988 konsumierte jeder der
17 Millionen DDR-Bürger durchschnittlich 143 Liter Bier, 12 Liter Wein oder
Sekt und 16 Liter Spirituosen d. h. 24 Gramm reinen Alkohol pro Tag. Alkohol
war die Droge Nummer eins in der DDR. Schätzzahlen für das Jahr 1989 gehen
52
A
von bis zu 290.000 Alkoholabhängigen und bis zu 1.160.000 Alkoholmißbrauchern aus. Brieler hält den Alkohol für einen »Garant für die Existenz der DDR«.
Einer von zehn Todesfällen in Europa ist auf den Konsum von Alkohol zurückzuführen. In Russland sterben z. B. jährlich 500.000 bis 700.000 Menschen
an den Folgen des Alkoholkonsums. Die Hälfte der Todesfälle bei Männern
zwischen 15 und 54 Jahren steht dort in direktem Zusammenhang mit exessivem
Alkoholkonsum. Weltweit stirbt einer von 25 Menschen an den Folgen des Alkoholkonsums. Mehr als die Hälfte der Menschheit (vor allem in muslimen
Ländern) lebte im Jahre 2009 abstinent. In vielen ökonomisch aufstrebenden
Ländern wie z. B. Indien, China und Brasilien wird jedoch immer mehr getrunken mit allen damit verbunden gesundheitlichen Problemen (Leberzirrhose, Krebsarten, Herzkrankheiten, Verkehrsunfälle, Gewalt etc.). In Thailand
trinken die Menschen z. B. heute 33mal mehr als noch vor 40 Jahren (vgl. Lancet,
jun. 2009). In den beiden von G. Völger herausgegebenen reichbebilderten
Bänden »Rausch und Realität« (1981) wird das Thema Alkohol in historischer
und kulturvergleichender Sicht erschöpfend behandelt. Der Kölner Ethnologe
Th. Schweizer kommt in seinem Aufsatz über »Alkoholkonsum im interkulturellen Vergleich« zu dem Ergebnis, daß Alkohol in unserer Kultur und auch
weltweit eine der verbreitesten Drogen ist. Vier voneinander unabhängige Dimensionen des Gebrauchs von Alkohol haben sich kulturvergleichend als bedeutsam erwiesen: 1.die kulturelle Integriertheit des Alkoholkonsums, 2. Betrunkensein als Folge des Alkoholgenusses, 3. Aggressivität während des Trinkens, 4. Quantität des Alkoholkonsums (inkl. der Alkoholabhängigkeit). Wenn
Alkohol in einer Kultur vorkommt, unterliegt sein Gebrauch meist Regeln und
Normen. Kulturspezifisch sind neben der Herstellung von Alkohol, auch der
Umgang mit Alkohol, sowie die Form des Betragens im Zustand des Berauschtseins. Ein erster Ansatz zur Beschreibung des Alkoholkonsums versucht
diese Regeln explizit zu machen. Ein zweiter Ansatz möchte darüber hinaus die
symbolischen Bezüge zu anderen kulturellen Bereichen bestimmen, die im Alkoholkonsum sichtbar werden wie z. B. Rang und Status, Zugehörigkeit zu
Gruppen und zu sozialen Netzwerken. Angst, soziale Disorganisation, Kindheitstraumen und Machtlosigkeit sind einige der Gründe für den exzessiven
Gebrauch von Alkohol in einer Kultur. Ohne Berücksichtigung des kulturellen
Hintergrundes kann man weder den »normalen« noch den »exzessiven« Alkoholkonsum verstehen. In August Forel’s (1935) (des Schweizer Psychiaters und
Begründers der internationlen Anti-Alkoholbewegung) Autobiografie »Rückblick auf mein Leben« finden sich interessante Ausführungen über seine eigene
Abstinenz und den Beginn der internationalen Anti-Alkoholbewegung. In der
Belletristik der sog. Dritten Welt existieren viele für die Kulturanthropologie
aufschlußreiche Romane und Erzählungen, die das A.problem behandeln, wie
z. B. »Reca†da« (Rückfall) des kapverdischen Schriftstellers Antûnio Aur¦lio
Alkoholismus (auch: Trunksucht, alcoolismo)
53
GonÅalves (1901 – 1984). Auf die welthistorische Bedeutung des Alkohols macht
Reichholf (2007:64) aufmerksam, wenn er schreibt: »Was jedoch in der amerikanisch-indianischen Bevölkerung die Krankheiten, denen sie hilflos ausgeliefert waren, nicht schafften, erledigte der Alkohol, das Feuerwasser. Kolumbus’
Inseln wurden zum Hauptquell eines teuflischen Gebräus, dessen Benennung in
der deutschen Sprache zu Recht jener Buchstabe fehlt, der es in falscher Weise
rühmen würde, der Rum. Zuckerrohr, ein uramerikanisches Gewächs, ist die
Pflanze, aus der bald Alkohol in stärkster Form produziert wird. Mit dem Zucker
bekommt die Alte Welt eines ihrer größten Übel aus der Neuen Welt, die dabei in
Sklaverei blutet und leidet unter der Sucht nach Alkohol.«
Cachaça in Brasilien:
Die Etymologie des Wortes »cachaÅa« ist ungeklärt (vgl. da Cunha, 1982:133).
Scis†nio (1997:76) weist auf einen möglichen afrikan. Ursprung hin. Das Thema
cachaÅa (Zuckerrohrschnaps) (auch: pinga, marafa, aguardente) wurde exhaustiv lexikalisch von dem Pernambukaner M‚rio Souto Maior (1985) bearbeitet. 1927 heißt es z. B. in einem »folheto« in Recife:
»Antigamente quem bebia
Era o negro ou o mulato,
Mas hoje gente de trato
Bebe de noite e de dia,
..…………………..…»
(zit. nach Souto Maior, 1985:19)
Wir geben noch einige andere Beispiele: »beber« ist eine »obrigażo do pobre«,
»banzeiro« bedeutet »meio embriagado«, »beijar o santo« bedeutet »ingerir
bebida alcoûlica«, »esponja« gleich »cheio de cachaÅa«, »mulata« heißt ein Arguardente de Cana, !»mulata« und »mulatinha« dienen überhaupt als Euphemismen des cachaÅa, »Mata-Bicho« gleich »cachaÅa« (mata-bicho ist in
Mosambik das Frühstück!), »Otim« Afrikanismus (nagú) für arguardente,
»Omim-Fun-Fun« cachaÅa in den Candombl¦s von Bahia, »orogange« cachaÅa
bei den afrobras. garimpeiros etc. Der Ethnomediziner Araffljo (1979) hat die
Bedeutung der cachaÅa in der »medicina rfflstica« herausgearbeitet. Er schreibt:
»A cachaÅa ¦ muito usada. Serve para esquentar, para esfriar, para abrir apetite,
para as comidas gordurosas n¼o fazerem mal, para melhorar a voz, para matar as
tristezas, afogar m‚goas e saudades, para dar coragem para brigar, para evitar
um resfriado. Al¦m destas h‚ uma infinidade de usos e beneficios at¦ medicinais
atribuidos — cachaÅa.« (Araffljo, 1979:130). Jos¦ C. Curto (1999) betont die besondere Bedeutung der bras. cachaÅa im Sklavenhandel aus Luanda (Angola).
54
A
Von Reisenden wurde immer wieder der (geförderte?) Alkoholabusus der
Sklaven beobachet. »Sowohl in Afrika wie in Amerika wurde der Alkohol von
den Kolonisatoren gezielt eingesetzt, um die Kampfmoral der unterdrückten
Bevölkerung zu schwächen.« (Hoffmann, 1992:37; vgl. auch Welper, 2002:55ff;
Stubbe, 2012:32). Octavio Ianni (1991:147) weist z. B. darauf hin, dass die
»m‚scara de folha-de-flandres«, eine eiserne Gesichtsmaske, die den Mund
verschloß, als !Strafe dazu diente die Sklaven von dem Alkoholismus, den
Reisende wie z. B. Freyreiss immer wieder beobachteten (vgl. Freyreiss,
1968:99), zu befreien (vgl. hierzu auch Machado de Assis »conto« (Erzählung)
»Pai contra m¼e«).
!Anthropologie !Gesundheit !Maconha !Phytotherapie !Reiseberichte
!Religion !Sklaverei !Strafen
A. Seekirchner (1931): Der Alkohol in Afrika. In: Atlas Africanus, 8; A. Forel (1935):
Rückblick auf mein Leben. Zürich; M. de Andrade (1944): Os eufemismos da cachaÅa.
Hoje (SP), 75, 1 – 5, abril; A. A. GonÅalves (1947/48, 1993): Reca†da. Lisboa; G. Hartmann
(1958): Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas. Berlin; A. Maynard
Araffljo (1979): Medicina rfflstica. S¼o Paulo; G. Völger (Hrsg.) (1981): Rausch und Realität.
Drogen im Kulturvergleich. 2 Bd.e. Köln:Rautenstrauch Museum; W. Schivelbusch
(1983): Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel.
Frankfurt/M. (insbes. S: 159 – 214); M. Souto Maior (1985): CachaÅa. Recife; D. B. Heath
(1987): Anthropology and alcohol studies. Current issues. Annual Review of Anthropology, 16; W. Feuerlein (1989): Alkohol-Mißbrauch und Abhängigkeit. Stuttgart; O. Ianni
(1991): Ensaios de sociologia da cultura. Rio de Janeiro; P. Brieler (1992): Der Suff im
Osten oder wie man 17 Millionen Menschen ruhigstellt. Psychologie Heute, S. 66ff; W.
Pfeiffer (1992): Transkulturelle Psychiatrie. Stuttgart (2. Aufl); Kl. Hoffmann (1992):
Psychiatrie in Afrika. Frankfurt/M.; J. C. Curto (1999): Vinho verso CachaÅa – A luta lusobrasileira pelo com¦rcio do ‚lcool e de escravos em Luanda (1648 – 1703). Em: S. Pantoja &
J. Fl. Sombra Saraiva (org.s), Angola e Brasil nas rotas do Atl–ntico do Sul. Rio de Janeiro,
p. 69 – 126; M. Trenk (2000): Die Milch des weißen Mannes. Die Indianer Nordamerikas
und der Alkohol. Berlin; W.-S. Tseng (2001): Handbook of cultural psychiatry. N.Y.;
E. M. Welper (2002): Curt Unckel Nimuendajffl: um cap†tulo alem¼o na tradiżo etnogr‚fica brasileira. Rio de Janeiro: Museu Nacional (PPGAS), 2002; J. H. Reichholf
(2007): Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends. Frankfurt/M.; H. Stubbe
(2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen
Amulett (lat. amuletum = Abwendungsmittel bei Plinius d.Ä.;
arab. hammalat = Halsband)
Mit geheimnisvoller Kraft/Macht geladene Gegenstände, die passiv als abwehrendes (apotropäisches) vorbeugendes Mittel vor Gefahren, Schaden, Krankheit, Verhexung etc. schützen sollen. Sie sind zu unterscheiden von dem im Sinne
Amulett
55
eines Aneignungszauber wirkenden glück- oder erfolgbringenden Talisman
(griech. t¦lesma = geweihter Gegenstand; arab. tilsaman = Zauberbilder). A.
sind weltweit verbreitet und innerhalb aller Religionen vorhanden. In Viktor
Hugos’s berühmten Mittelalter-Roman »Notre-Dame de Paris« (1832) sagt Esmeralda bezüglich ihres unter dem Mieder getragenen A.s folgende für alle A.e
gültigen Sätze: »Rühre es nicht an! Es ist ein A. Du würdest dem Zauber schaden,
oder der Zauber würde dir schaden.« A. werden besonders während kritischer
Lebensabschnitte wie Geburt, Säuglingszeit etc.) oder zu bestimmten Anlässen
wie Reise, Hochzeit) am Leib (oftmals verdeckt), in der Kleidung, aber auch
unter dem Ehebett, an bestimmten Stellen des Hauses z. B. hinter der Tür oder
im Auto befestigt. Im antiken Rom bekamen die Kinder kurz nach der Geburt
eine Kapsel mit einem Amulett (bulla) um den Hals gehängt, die die Knaben bis
zum Eintritt ins Mannesalter d. h. dem Anlegen der toga virilis mit 15 – 17 Jahren, und die Mädchen wohl bis zur Hochzeit trugen. In wohlhabenden Familien
war die bulla eine runde oder herzförmige Kapsel aus Goldblech (bulla aurea), in
einfachen Verhältnissen begnügte man sich mit einer Leder-Ausführung (bulla
scortea) (vgl. Weeber, 2000). Das Abbild eines Gegenstandes kommt dem Gegenstand selber an Kraftwirkung gleich: runde Sönnchen oder sichelförmige
Möndchen stellen den Träger unter den unmittelbaren Schutz der Sonnen- oder
Mondgottheit. Koransprüche werden in kleinen Hüllen von Muslimen am Leibe
getragen. Die A.anwendung spielt in der traditionellen Medizin in der Türkei
eine bedeutsame Rolle. Der Glaube an die Djinnen, unsichtbare, übernatürliche,
vorwiegend bösartige Krankheits-dämonen, aber auch an den !bösen Blick
bestimmter neidischer Mitmenschen ist sehr verbreitet. Neben der Frömmigkeit, religiösen Sprüchen, !Gebeten, werden A. als die wirksamsten Schutzmittel gegen krankheitsverursachende und unglücksbringende Einflüsse. Die
von berufenen Personen handgeschriebenen oder durch bestimmte Zaubersiegel abgestempelten Papierblätter werden umwickelt und in einem Schutzumschlag am Leib oberhalb der Gürtellinie getragen. Sie enthalten Wörter und
Sätze aus dem Koran, neben Geheimzahlen, Zeichnungen, überlieferten Zaubermotiven, magischen Quadraten und nicht selten vom Träger selbst hergestellte und geheiligte Zeichen (vgl. Özek, 1994). Die Verwendung von A.en kann
als eine autosuggestive kraftsteigenernde Maßnahme interpretiert werden und
spielt in vielen Kulturen, so auch bei den Afrobrasilianern, im Gesundheitsverhalten eine bedeutende Rolle.
!Abwehrmagie !Figa !Krankheitsvorstellungen !patu‚
E. A. W. Budge (1961): Amulets and talismans; L. Hansmann & L. Kriss-Rettenbeck
(1966): Amulett und Talisman. München; L. Hansmann (1977): Amulett und Talismann.
Erscheinungsform und Geschichte. München; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio
do Folclore Brasileiro. S¼o Paulo; A. & J. Knuf (1984): Amulette u. Talismane. Symbole des
magischen Alltags. Köln; P. W. Schienerl (1992): Dämonenfurcht und böser Blick. Studien
56
A
zum Amulettwesen. Aachen; M. Özek (1994): Traditionelle Heiler in Anatolien. Berlin; H.
Stubbe (2012). Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; A. Epelboin et al.
(2013): Un art secret: les ¦critures talismaniques de l’Afrique de l’Ouest. Catalogue. Paris
Anthropologie (O. Casmann, 1594/96)
Einführung:
Die umfassende Wissenschaft vom Menschen. Der Begriff A. geht bis in die Zeit
des Humanismus zurück: der protestantische Humanist Otto Casmann (1562 –
1607) publizierte ein Buch mit dem Titel »Psychologia anthropologica«
(1594/96) und gilt als Begründer der philosophischen A. In Frankreich, den
angelsächsischen und südamerikanischen Ländern ist A. zugleich Ethnologie
(etnologia). In der dt. Wissenschaftsgeschichte unterscheidet man die »biologische A. (Physische, Somatische, Naturwissenschaftliche A.)«, die »philosophische A.«, die »religiöse A. (theologische A.)«, die »Kultur-A.« und die »Psychologische A.«. Die »neue A.« (H. G. Gadamer, 1972ff) beabsichtigte die Isolation der Fächer zu überwinden und eine Zusammenschau aller Strömungen
(Biologie, Sozial-, Geistes- und Kulturwis-senschaften) zu bieten. In den USA
umfasst die »Anthropology« vier Subdisziplinen: die »Cultural Anthropology«
(wozu auch die »Psychological A.« gehört), die »Physical Anthropology«, die
»Linguistics« und die »Archaeology«.
»Die Begriffe Anthropologie und Kulturanthropologie im Boas’ Sinne konnten sich in Deutschland nicht durchsetzen – unter A. verstand man die hier so
wichtig genommene Forschung über die Beziehung von Rasse und Kultur. Erst in
den letzten Jahren ist der amer. Sprachgebrauch auf diesem Gebiet in den dt.
Sprachraum zurückgekehrt.« (DTV-Atlas Ethnologie, 2005:11). In Brasilien wird
»etnologia« weitgehend mit »antropologia« gleichgesetzt. Man spricht hier z. B.
von »antropologia social« (Sozialanthropologie) (zur Geschichte der Ethnologie
in Brasilien, vgl. Baldus, 1954, 1968, 1984; Carneiro da Cunha, 1986; CorrÞa,
1987; Stubbe, 2007, 2012:158 – 160).
Die Anthropologie und die Afrobrasilianer:
Nicht nur die bras. »Indianer«, sondern auch die Afrobrasilianer, !»negros«
nannte man sie damals, waren (rassen-)anthropologisch »falsch vermessene
Menschen« (Gould, 1999). In ihrer wertvollen historischen Arbeit über »O espect‚culo das raÅas. Cientistas, instituiÅþes e quest¼o racial no Brasil 1870 –
1930« hat Lilia K. M. Schwarcz (1993) diese Geschichte der physischen (Rassen-)
Anthropologie in Brasilien gründlich aufgearbeitet. In diesem Zusammenhang
Anthropologie (O. Casmann, 1594/96)
57
soll auch daran erinnert werden, dass sich zwei sehr einflußreiche frz. und
usamer. Rassentheoretiker, nämlich Gobineau (1869) und Agassiz (1865/66), in
Brasilien aufgehalten und darüber publiziert haben (vgl. Schemann, 1910:286;
Raeders, 1997; Gould, 1999; Kümin, 2007). Gobineau charakterisiert z. B. die
bras. Bevölkerung folgendermaßen: »Uma populażo toda mulata, com sangue
viciado, esp†rito viciado e feia de meter medo« … »nenhum brasileiro ¦ de
sangue puro; as combinaÅþes dos casamentos entre brancos, ind†genas e negros
multiplicaram-se a tal ponto que os matizes da carnażo s¼o infflmeros, e tudo
isso produziu, nas classes baixas e nas altas, uma degenerescÞncia do mais triste
aspecto.« (zit. nach Raeders, 1997:39) (vgl. !Reiseberichte)
Cesare Lombroso (1836 – 1910) in Brasilien:
Eine weitere Variante des europäischen Rassismus (vgl. z. B. Mosse, 1978; Saller,
1999) findet sich in Italien, das zwischen 1882 und 1900 sein afrikan. Kolonialreich aufbaut, in der damals sehr einflussreichen (auch in Brasilien rezipierten) kriminalanthropologischen und psychopathologische Schule um Cesare
Lombroso (1836 – 1910). Lombrosos Konzeption stützte sich nicht nur auf die
unbestimmte Behauptung, daß Verbrechen erblich sei, sondern auf eine besondere, auf anthropometrische Daten gestützte Evolutionstheorie, wonach
Verbrecher und Verbrecherinnen (Prostituierte) eigentlich »Rückfälle der Evolution« (Atavismushypothese) seien. Lombroso vergleicht in rekapitulationstheoretischer Weise atavistische Verbrecher mit Tieren, Wilden und »Menschen
niederer Rassen«. Das Kind ist für ihn ein vorgeschichtlicher Erwachsener, ein
lebender Primitiver. Stephen Jay Gould hat in seiner lesenswerten Studie »Der
falsch vermessene Mensch« (1999) die vielen Irrwege der quantifizierenden
Rassen-Anthropologie und –Psychologie, auf der diese Konzeption basiert, bis
in die Gegenwart klar herausgearbeitet. »Lombroso wagte sich auf das Gebiet der
Ethnologie, um die Kriminalität als Normalverhalten unter tiefstehenden Völkern zu identifizieren. Er schrieb eine kleine Abhandlung (Lombroso, 1896)
über das Volk der Dinka am oberen Nil. Darin sprach er von ihrer starken
Tätowierung und ihrer hohen Schmerzschwelle – in der Pubertät werden ihnen
die Schneidezähne mit einem Hammer ausgebrochen. Sie wiesen äffische Stigmata als normale Bestandteile ihrer Anatomie auf: ›Ihre Nase ist nicht nur
abgeplattet, sondern dreiflügelig und ähnelt der von Affen.‹« (Gould, 1999:132)
Diese kriminalanthropologischen Vorstellungen vom »degenerierten, angeborenen Verbrecher«, die mit der ital. Einwanderung nach Brasilien kamen (wie
auch die ital. Freiheitsbewegung und der Anarchismus, vgl. z. B. Garibaldi),
ließen sich leicht auf die !»negros« anwenden und haben lange Zeit nachgewirkt (vgl. Scis†nio, 1997:108 – 110; Lopes, 2006:47 f).
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Kleines Lexikon der Afrobrasilianistik