Vorwort 125 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei in Brasilien (1888) erscheint es den Autoren an der Zeit ein kleines einführendes Lexikon herauszugeben – das Ergebnis einer über 30jährigen Forschungstätigkeit -, das eine Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Forschung der Afrobrasilianistik gibt. Es handelt sich um das erste Lexikon im deutschsprachigen Raum, möglicherweise aber auch weltweit. Das Lexikon liefert eine Art Bestandsaufnahme der Erkenntnisse der Afrobrasilianistik in wissenschaftshistorischer Beleuchtung und soll Anregungen für weitere Studien geben, sowie die internationale Vernetzung, insbesondere der europäischen und brasilianischen Afrobrasilianisten vorantreiben. Afrobrasilianistik wird hier nicht aus einer einzigen Perspektive zum Beispiel der Religionswissenschaft, der Sprachwissenschaft oder (Sklaverei-)Geschichte heraus betrieben, sondern die Autoren versuchen eine interdisziplinäre und vielfältige Sicht zu wagen. Wir befassen uns mit den Afrobrasilianerinnen nicht nur aus einer akademischen »Elfenbeinturm-Perspektive« heraus, sondern betrachten auch Alltagsphänomene und die afrobrasilianische Lebenswirklichkeit in Vergangenheit und Gegenwart. Somit kann dieses Lexikon auch als Prolegomena zu einer afrobrasilianische Anthropologie verstanden werden. Zur Afrobrasilianistik liegt weit zerstreut bereits eine !Bibliografie von mehreren Tausend Titeln vor. Die Literaturhinweise werden im vorliegenden Lexikon bei jedem Stichwort nach Erscheinungsjahr wissenschschaftshistorisch aufgeführt. Bei der Auswahl der Literatur haben wir uns auf die wichtigsten Literaturquellen, die oftmals ebenfalls weiterführende Literaturhinweise enthalten, beschränkt. Die angeführte ältere Literatur ist zwar oftmals hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse und gesellschaftlichen Bewertung überholt. Sie ist aber dennoch von wissenschaftshistorischem Interesse und und großer Bedeutung für das Verständnis des sozialen und kulturellen Wandels der brasilianischen Gesellschaft. Die meisten der aufgeführten Werke befinden sich in der Privatbibliothek der Autoren. Beide Autoren haben unterschiedliche Stichworte bearbeitet, manchmal stellen die Stichworte jedoch auch eine Gemeinschaftsleistung dar. Die Autorin, 6 Vorwort geboren in Niterûi, ist Sozialpsychologin, Pädagogin, Afrobrasilianistin und Psychotherapeutin und der Autor ist Anthropologe/Ethnologe, Psychologe, Wissenschaftshistoriker und Brasilianist, der über zwölf Jahre in Brasilien zugebracht hat. Wir verwenden oftmals die männliche Form, gemeint sind aber im Allgemeinen immer beide Geschlechter. Grundkenntnisse des Brasil-Portugiesischen werden teilweise vorausgesetzt. Ein Lexikon ist so etwas wie eine »ewige Aufgabe«, denn es gibt nie eine allerletzte Fassung. Alle Benutzer werden daher um kritische Hinweise und Vorschläge gebeten, die in künftigen, korrigierten und erweiteren Auflagen berücksichtigt werden können. Wir danken InayÞ Behring Soares für die Hilfe bei der Literaturbeschaffung, sowie Frau Susanne Franzkeit und Frau Ruth Vachek vom V& R unipress Verlag für die freundliche und kompetente Betreuung. Chirly dos Santos-Stubbe & Hannes Stubbe Niterûi & Mannheim, 23. August 2013 Internationaler Gedenktag an Sklavenhandel und Abolition Einführung Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik – Grundprobleme und Tendenzen der Forschung Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, Wissenschaftsgeschichte zu schreiben. Wissenschaftsgeschichte kann sich auf eine chronologische summarische Darstellung des Forschungsgeschehens, der Methoden und Theorien beschränken, ohne eine Einbettung in ihre zeitgeschichtlichen, ökonomischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen zu versuchen. Sie kann aber auch »ideologisch« gefärbt sein, indem sie alle solche Forschungstendenzen ausläßt, die mit der vertretenen Ideologie des Historikers nicht in Einklang stehen, und schließlich kann sie als Ideengeschichte oder Sozialgeschichte dargestellt werden. Schließlich ist es möglich, eine Geschichte der Wissenschaftsgeschichte eines Landes zu schreiben (vgl. Garcia et al., 1980), in der sich der Wandel der Gesellschaft und des Selbstverständnisses der Wissenschaftler widerspiegelt. Thomas Kuhn (1962) hat im Hinblick auf die Physik zwei Typen der wissenschaftlichen Entwicklung unterschieden: den normalen, ständig wachsenden, sich stetig perfektionierenden Duktus und den revolutionären, nicht kumulativen Umbruch, wo die Gedankenfragmente sich immer wieder neu zusammensetzen und Denkmuster offenbar werden, wie sie nie zuvor sichtbar waren. Aus vielen Aspekten erst ergibt das Ganze einen Sinn, der aus den isolierten Teilen nicht ersichtlich war. Es genügt nicht, die Strömungen in ihre Elemente zu zerlegen; revolutionäre Verhältnisse haben in der Wissenschaftsgeschichte eine ganzheitliche Struktur und liefern ein System von Generalisierungen, als deren Prüfstein uns z. B. die wissenschaftliche Sprache dienen kann. Hier zeigt sich aber zugleich deren janusköpfiger Charakter, weil sich mit jeder wissenschaftlichen Sprache auch unabdingbar verbunden unser Wissen über die Natur verändert. Karl Jaspers hat bereits in seiner »Allgemeinen Psychopathologie« davor gewarnt, daß die »Veränderung des Jargons« (1913) nicht schon als Fortschritt der Erkenntnis gelten könne. 8 Einführung Die Wissenschaftsgeschichte Brasiliens, als eines Landes der sog. Dritten Welt, macht besonders eindringlich die Bedeutung ökonomischer, gesellschaftlicher, kultureller und politischer Faktoren für die Entwicklung der Wissenschaften deutlich. Garcia (1980) unterscheidet im Hinblick auf die Naturwissenschaften für die brasilianische Neuzeit drei wissenschaftsgeschichtliche bedeutsame Phasen: 1. Von der Mitte des 19. Jh.s bis ca. 1940 2. Von den 40er Jahren bis Mitte der 60er Jahre des 20. Jh.s 3. Die Jetztzeit In die erste Phase fallen vor allem Biographien von Naturwissenschaftlern, etwa die »InvestigaÅþes histûricas e scientficas sobre o Museu Imperial e Nacional« (1870) seines Direktors Ladislau Neto (1837 – 1898). Das im Jahre 1818 gegründete Museu Nacional in Rio de Janeiro ist eine der ältesten naturwissenschaftlichen Institutionen Brasiliens (1818: »Museu Real«, später nach der Unabhängigkeit Brasiliens im Jahre 1822: »Museu Nacional e Imperial«; seit 1892 in der Quinta da Boa Vista untergebracht, einem ehemaligen Kaiserpalast). Auch die Schrift »The present state of science in Brazil« (1883) des englischen Geologen Orville A. Derby (1851 – 1915) stellt einen wichtigen Beitrag zur Wissenschafts-geschichte der Geologie und Paläontologie in Brasilien dar und macht zugleich die politische und ökonomische Bedeutung der Engländer in Brasilien deutlich (vgl. z. B. Handelsvertrag von Methuen, 1703; Rippy, 1959; Furtado, 1975). Auch in der deutschsprachigen (!Reise-) Literatur zu Brasilien finden sich in dieser Epoche vielfältige Angaben zur Geschichte der Botanik, Zoologie, Geologie, Ethnographie und Medizin (vgl. Cannstatt, 1967; Rescher, 1979; Stubbe, 1982, 1987; Oberacker, 1985). 1912 hält der bedeutende afrobrasilianische Psychiater Juliano Moreira (1873 – 1933) einen vielbeachteten Vortrag über »O progresso das ciÞncias no Brasil«, worin er die Frage diskutiert, ob der Brasilianer dem Wesen nach oder durch Unbildung unfähig zur Wissenschaft sei. Anhand der wissenschaftlichen Leistungen brasilianischer Gelehrter in den verschiedenen Wissenschaftszweigen wie Naturgeschichte, Mathematik, Geologie, Mineralogie, Paläontologie, Ethnographie und Medizin weist Moreira nach, daß in Brasilien eine wissenschaftliche Mentalität vorhanden ist: »Vejamos se nos vrios ramos da ciÞncia temos dado prova de n¼o se ter esgotado no paiz a seiva que produziu t¼o poderosa mentalidade.« (Moreira, 1912: 38). Moreira hebt auch zu Recht die wissenschafts-stimulierende Rolle der Holländer in Brasilien (vgl. seine Schrift »Marcgrave e Piso«, 1917; zu Piso, der als einer der Begründer der Tropenmedizin gelten kann, vgl. Piso, 1981; Pereira, 1980) und die kastrierende der Portugiesen hervor. Klar erkannt wird von ihm auch die für die Wissenschaftsgeschichte Brasiliens entscheidende Zäsur der Ankunft des portugiesischen Königs Jo¼o VI. in Rio de Janeiro im Jahre 1808 und der damit Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik 9 verbundenen Öffnung des Landes für Wissenschaft und Handel. Moreira betont darüberhinaus die außerordentliche Bedeutung der wissenschaftlichen Institutionen, wie der »Academia de Sciencias e de Historia Nacional« (gegr. 1771), der »Academia Militar« (gegr. 1810), die gleich nach der Ankunft des o.g. Königs Jo¼o VI. gegründet wurde, oder dem »Instituto Histûrico e Geographico Brazileiro« (gegr. 1838), der »Escola Central« (gegr. 1858), die im Jahre 1874 in »Escola Polytechnica« umbenannt wurde, sowie der Museen: »Museu Nacional« (gegr. 1818); »Museu de Histûria Natural« (gegr. 1891) in S¼o Paulo, »Museu Emilio Goeldi« in Bel¦m (gegr. 1894) (vgl CiÞncia e Cultura, 35 (12), 1983: 1965 – 1972), »Jardim Botnico« (gegr. 1834) in Rio de Janeiro und die von Oswaldo Cruz gegründete Forschungseinrichtung »Manguinhos« (gegr. 1903) (vgl. Stephan, 1976). Besonders gewürdigt werden von Moreira die wissenschaftlichen Leistungen des Universalgenies Jos¦ Bonifacio de Andrada e Silva (1763 – 1838), des »Patriarca da IndependÞncia do Brasil«, der während seiner Reisen durch alle wichtigen Forschungszentren Europas der damaligen Zeit auch einige Monate zusammen mit Alexander von Humboldt in Freiberg an der Bergakademie studierte. Jos¦ Bonifacios Bedeutung für Brasilien liegt sowohl im politischen und legislativen Bereich (z. B. Gesetzesvorschläge zur Aufhebung der Sklaverei, Indianerschutzgesetze, Verfassungs-entwurf), als auch im wissenschaftlichen Bereich insbesondere auf den Gebieten der Geologie (1. geologische Karte Brasiliens) und Mineralogie (4 neue Spezies: Petalith, Espudumenio, Kryolith, Escapolith). (zu J. Bonifacio vgl. Silva Costa, 1974; Tarqunio de Sousa, 1974; zu Moreira: vgl. Litaiff, 1982; Passos, 1975; Lopes, 2006:92; Stubbe, 2011:21 – 23). 1922 erscheint Rodolfo Garcia’s zweibändiger »Diccionrio Histûrico, Geogrfico e Ethnogrfico«, in dem besonders ausführlich die Geschichte der Forschungsreisen in Brasilien, aber auch z. B. die Geschichte der Medizin oder die Ethnografie, sowie alle wichtigen Brasilien betreffenden Aspekte dargestellt werden (vgl. auch Gusinde, 1946; Schaden, 1953; Azevedo, 1955; Baldus, 1954ff; Becher, 1988; Stubbe, 2007:35 – 58; Kümin, 2007). Die zweite Phase der brasilianischen Wissenschaftshistoriographie setzt mit dem Erscheinen des epochemachenden Werkes »A cultura brasileira« (1943) von Fernando de Azevedo (1894 – 1974) ein, als eine Konsequenz der geistigen Unruhe der brasilianischen Intelligenz, die seit den 20er und 30er Jahren datiert, aber auch der jüngst geschaffenen Universitäten (insbesondere Philosophischen Fakultäten) und der ersten großen Industrialisierungswelle im Lande. Schließlich macht sich hier vor allem der Einfluß der französischen Sozialwissenschaftler wie Claude L¦vi-Strauss und Roger Bastide bemerkbar. Zu den Innovationen dieses Buches von Azevedo gehört nicht nur die bis heute gültige Periodisierung der brasilianischen Kulturentwicklung, sondern vor allem die Diskussion der Frage nach den Ursachen des wissenschaftlich-kulturellen Zurückbleibens Brasiliens. Nelson Werneck Sodr¦ liefert 1945 mit seinem »O que se 10 Einführung deve ler para conhecer o Brasil« eine Pionierleistung auf dem Gebiet der Brasilianistik, die durch reiche !Bibliografien und nach Fachgebieten gegliederte Kritiken gekennzeichnet ist, so daß es sich noch heute unter Berücksichtigung der zeitgeschichtlich bedingten Sicht des Autors als gute Einführung eignet. 1955 erscheint das erste Standardwerk über die wissenschaftliche Kultur Brasiliens: »As ciÞncias no Brasil« (1954/55), das Fernando de Azevedo mit den führenden Fachgelehrten Brasiliens herausgibt. Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich bei diesem zweibändigen Werk um deskriptive Wissenschaftsgeschichte, die vor allem den wissenschaftlichen Fortschritt Brasiliens dokumentieren will. Die letzte und jüngste Phase der Wissenschaftsgeschichte Brasiliens ist durch einen rapiden Aufbau der wissenschaftlichen und universitären Einrichtungen, den hohen Bedarf an wissenschaftlichen Fachkräften, aber auch durch instabile politische und ökonomische Verhältnisse gekennzeichnet. Ende der 60er Jahre erfolgt eine Universitätsreform, in deren Zuge auch der Wissenschaftsgeschichte eine größere Bedeutung zugemessen wird. Die ersten Dissertationen und Monographien über die brasilianische Wissenschaftshistoriographie werden verfaßt (vgl. Baldus, 1954ff; Garcia, 1980, Ferri & Motoyama, 1979ff; Stephan, 1976; CorrÞa, 1987; Stubbe, 1987). Eine »Sociedade Brasileira de Histûria da CiÞncia« wird gegründet (vgl. Stubbe, 2001:27 – 31; 2007:35 – 58). Auch die Geschichte der !Afrobrasilianistik läßt sich grob in verschiedene Phasen einteilen (vgl. Renato MendonÅas dreistufige Einteilung in seinem Vorwort zu den »Culturas negras« von A. Ramos). In Anlehnung an MendonÅa teilen wir die Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik idealtypisch in fünf Abschnitte ein: 1. Die Prä-Nina Rodrigues Phase der frühen Kolonialzeit und spezifisch des 19. Jh.s bis zur Abolition im Jahre 1888 (vgl. !Reiseberichte) 2. Die Phase des Nina Rodrigues (1862 – 1906) ab ca. 1890 3. Die Post-Nina Rodrigues Phase (ab 1906) seiner Schule als Übergangsphase z. B. O. Vianna 4. Die 30er Jahre bilden ebenfalls eine Zäsur mit ihren neuen methodischen und theoretischen Ansätzen wie sie sich z. B. in den Werken von G. Freyre, M. Querino und A. Ramos, aber auch in den »Congressos Afro-Brasileiros« manifestieren. 5. Ab der 40-er Jahre befassen sich Historiker, Sozialwissenschaftler (mit sozialwissenschaftlichen Methoden), Wirtschaftswissenschaftler, Humanwissenschaftler etc. wie z. B. R. Bastide, Fl. Fernandes, T. de Azevedo, D. Pierson, O. Nogueira, Ch. Wagley, O. Ianni, H. Klein, F. H. Cardoso, Th. Skidmore, A. do Nascimento u.v.a.m. mit den Afrobrasilianern. Auch in anderen Wissenschaften wächst nun stetig das Interesse an afrobrasilianistischen Themen (vgl. auch Barros Laraia, 1979). Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik 11 Bereits in der Kolonialzeit (1500 – 1822) gab es Studien über die Afrobrasilianer und die !Sklaverei. Eine wichtige Rolle spielt z. B. das Werk »Cultura e opulÞncia do Brasil por suas drogas e minas« (1711) des Jesuitenpaters Andr¦ Jo¼o Antonil (1649 – 1716), das auf einer 25jährigen Erfahrung in Brasilien basiert. Wichtig sind vor allem seine Ausführungen über die Sklavenarbeit in den »engenhos de aÅucar« (Zucker) und den »minas« (Gold), den damaligen ökonomischen Grundlagen der kolonialen portugiesischen Wirtschaft (vgl. Furtado, 1975; Azevedo, 1978; Mota, 2004:55 – 73). Die portugiesische Kolonialverwaltung betrieb in Brasilien von Anfang an u. a. durch eine gezielte Mischungspolitik bzgl. der ethnischen Herkunft der Sklaven, eine Art »glottocidia«, einen Sprachenmord, an den indigenen und afrikanischen !Sprachen. Dennoch gab es auch einige rühmliche Ausnahmen wie z. B. die Grammatik der agolanischen Sprache des Jesuitenpaters Pedro Dias: »Arte da lingua de Angola, oefericida a virgem senhora N. do Rosario, M¼y & Senhora dos mesmos pretos …« (Lisboa, 1697), die jedoch der teilweise gewaltsamen katholischen !Missionierung der Sklaven dienen sollte. Auch in den Werken der Reisenden und Künstler des 19. Jh.s wie z. B. Langsdorff, Spix & Martius, Rugendas, Debret, Baron von Eschwege, Koster etc. finden sich ebenfalls wichtige Informationen und aufschlussreiche Abbildungen über den afrobrasilianischen Sklavenalltag (vor allem jedoch in den Städten!) (vgl. z. B. Berger, 1964; Manizer, 1967; Rescher, 1979; Augel, 1980; Stubbe, 1992) (!Ikonografie der Sklaverei !Reiseberichte) Die eigentliche systematische, akademische Afrobrasilianistik beginnt in Brasilien jedoch erst mit Nina Rodrigues. Wer war Raymundo Nina Rodrigues? Nina Rodrigues wurde am 4. Dezember 1862 in Vargem Grande im Estado do Maranh¼o als Sohn eines »Coronels« geboren und starb am 17. Juli 1906 im »Nouvel Hotel« in Paris. Seine medizinische Ausbildung erhielt er an der »Faculdade de Medicina do Rio de Janeiro«, die er am 10. Februar 1888 – im Jahr der Sklavenbefreiung! – mit einer Dissertation über »Das amyotrophias de origem periph¦rica« abschloß. Er wurde 1891 »Professor Adjunto de Clinica Medicina Legal e Toxicologia« und 1895 »Cat¦dratico de Medicina Legal« an der »Faculdade de Medicina da Bahia«. Seine wissenschaftliche Produktion umfaßt zwischen 1886 und 1906 ca. 51 Arbeiten vor allem aus den Gebieten der Allgemeinen Kriminal-Anthropologie, sowie Rechtsmedizinische Studien, die oftmals mit psychiatrischen Aspekten verbunden sind. Die vorherrschende Thematik bildeten für Nina Rodrigues jedoch vor allem die Afrobrasilianer (!»negros«), ihre Religiosität, Sitten und Gebräuche (vgl. A. Peixoto in: Nina Rodrigues, s.a.; S:17 – 22). Nina Rodrigues gilt auch als Gründer der »Escola M¦dico-Legal Brasileira«. Das »Instituto de Medicina Legal da Bahia« in Salvador wurde später nach ihm »Instituto Nina Rodrigues« benannt und sein Name wurde in das Portal eingraviert (vgl. Blake, 1902:118 f; Uchúa, 1981:78; Stubbe, 1987:124 f, 1994, 1998; Santos Filho, 1980:117; Lins e Silva, 1945; Nina Rodrigues, 1939; 12 Einführung Peixoto in: Nina Rodrigues, o. J., S:10ff). Das Interesse Nina Rodrigues für Kollektivphänomene begann mit der Beobachtung und Beschreibung einer choreaformen »Abasie-Astasie-Epidemie«, die seit dem Jahre 1877 in Maranh¼o und seit 1882 in Bahia grassierte. Er interpretierte die Epidemie in Maranh¼o als Kollektiv-Hysterie und trennte sie differentialdiagnostisch von Beri-Beri. Mit den !»Canudos« und Antúnio Conselheiro kam Nina Rodrigues durch folgende kuriose Geschichte in Berührung: Nachdem der Chef des Sanitätsdienstes des letzten Expeditionskorps gegen die »Canudos« Dr. Miranda Curio und andere Ärzte den Leichnam Antúnio Conselheiro’s exhumiert und fotographiert hatten und zu dem Entschluß gelangt waren, daß eine Autopsie wegen ihres starken Verwesungszustandes nicht mehr möglich wäre, befahl der BrigadeGeneral Jo¼o da Silva Barbosa den Ärzten die Enthauptung Antúnio Conselheiros, gleichsam als Siegespreis! Die Kopftrophäe schickte man danach an die »Faculdade de Medicina da Bahia«, wo er von Nina Rodrigues nach allen Regeln der damaligen anthropologischen Wissenschaft untersucht wurde (vgl. Moniz, 1987:256; Nina Rodrigues, 1939:130). Die europäischen und us-amerikanischen Rassenideologien der damaligen Zeit zeigten im Denken Nina Rodrigues einen starken Widerhall. Hierbei sollten wir uns auch daran erinnern, daß einer der bedeutendsten europäischen Rassentheoretiker Arthur de Gobineau (1816 – 1882) in den Jahren 1869/70 französischer Botschafter in Brasilien gewesen ist und intensiv mit Kaiser Dom Pedro II korrespondierte (Raeders, 1997; Gobineau, 1990). Gobineau charakterisiert z. B. die damalige brasilianische Bevölkerung folgendermaßen: »nenhum brasileiro ¦ de sangue puro, as combinaÅþes dos casamentos entre brancos, indgenas e negros multiplicaram-se a tal ponto, que os matrizes da carnażo s¼o infflmeros, e tudo isso produziu, nas classes baixas e nas altas uma degenerescÞncia do mais triste aspecto.« (zit. nach Raeders, 1997:39) Vorher, in den Jahren 1865/66, hatte bereits der amer.-schweizer. Naturforscher Louis Agassis (1807 – 1873), von dem ebenfalls eine sehr einflussreiche Rassenlehre stammt, in Brasilien eine 15-monatige Expedition durchgeführt (vgl. Gould, 1999:39 – 48; !Reiseberichte). Thomas Skidmore (1976:75) bezeichnet Nina Rodrigues als den »principal doutrinador racista da sua ¦poca«. Dies wird nicht nur durch Nina Rodrigues Studien über die Afrobrasilianer (posthum: Os africanos no Brasil, 1932; O animismo fetichista dos negros baianos, 1935) bestätigt, sondern auch in seiner Beurteilung der ! »mestiÅos« (vgl. »Os mestiÅos brasileiros«, 1890) und !jagunÅos. Raimundo Nina Rodrigues hatte, europäischen evolutionistischen, sozial-darwinistischen (vgl. Gumplovicz: Der Rassenkampf, 1883; Euclides da Cunha, 1994:7; Stubbe, 1998), massenpsychologischen und (kriminal-) psychopathologischen Konzeptionen verhaftet, die Afrobrasilianer, »ndios« und »mestiÅos« im negativen Sinne stereotypisiert, ihre biologische Inferiorität herausgestellt und dabei die Hoffnung gehegt: »Os negros existentes se diluir¼o na populażo e ester tudo Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik 13 terminado« (Rodrigues, 1945: 46). Die !»jagunÅos« (nordestino, caipira, capanga, fantico de A. Conselheiro, etc.) des Sert¼o sind für ihn ein »produto t¼o mestiÅo no physico que reproduz os caracteres anthropologicos combinados das raÅas de que prov¦m, quanto hybrido nas suas manifestaÅþes soci¼es que representam a fus¼o quasi inviavel de civilizaÅþes muito desigu¼es« (Nina Rodrigues, 1939:64). Für Nina Rodrigues verkörpert der »jagunÅo« in sich die unbezähmbare Natur des »wilden ndio« mit seinem Drang zum Herumschweifen, seiner großen Widerstandskraft gegenüber physischen Leiden und seinem kriegerischen Sinn. Sein »espirito« ist »infantil e inculto«. Es handelt sich bei den »jagunÅos« um »raÅas inferiores«, für die er die Degenerationshypothese (degenerescencia de mestiÅagem, ein Ergebnis der »Rassenmischung«) zugrundelegt. Die »degenerescencia da mestiÅagem« ist für Nina Rodrigues die eigentliche Ursache sozialer Nichtangepaßtheit. Seine anthropologische Position basiert hauptsächlich auf dem biologischen (»rassischen«) Determinismus und dem Rassenfatalismus (vgl. Lins e Silva, 1945:86). Auch Antúnio Conselheiro, der Anführer der !»Canudos«, ist für Nina Rodrigues ein solches »individuo degenerado« (s.oben). Hier hat nun die Psychiatrie ihre Funktion zu erfüllen. Nina Rodrigues hat sich auch als einer der ersten über die !Kunst der Afrobrasilianer geäußert: »Nina Rodrigues, m¦dico baiano, pela primeira vez divulga algumas peÅas de candombl¦s da Bahia no seu trabalho ›As belas artes dos colonos pretos no Brasil‹ (Revista Kosmos, Rio de Janeiro, vol.1, n8 8, agosto de 1904), o que ¦ repetido e ampliado nos livros O animismo feticista dos negros baianos (1928) e Os africanos no Brasil (1932). As peÅas apresentadas em fotografias preto-e-branco exibem algumas esculturas em madeira e ferramentas rituais em bronze e lat¼o, atestando de forma curiosa os fetiches dos negros. Estando os objetos fora de seus contextos – locais sagrados -, distantes dos seus fabricantes e dos usurios, e sem ter preocupażo cultural e sim m¦dica, Nina Rodrigues enfrentou questþes muito mais raciais e fsicas do que problemtica do fundo social e econúmico, orientando neste sentido muitos trabalhos e alguns at¦ bem recentes …« schreibt Raul Lody (2003:24 f). Hatte Raimundo Nina Rodrigues, evolutionistischen, sozialdarwinistischen, massenpsycho-logischen und psychopathologischen Konzeptionen verhaftet, die Afrobrasilianer im negativen Sinne stereotypisiert, ihre biologische Inferiorität herausgestellt und dabei die Hoffnung gehegt: »Os negros existentes se diluir¼o na populażo e ester tudo terminado« (Rodrigues, 1945:46), so propagierte Oliveira Vianna (1883 – 1951) später in seinem Werk »Evolużo do povo brasileiro« (1923) den »Arier-Mythos« und setzte auf das »branquecimento«, d. h. die »Arisierung« der brasilianischen Bevölkerung. Er schreibt im Hinblick auf die europäische Einwanderung: »Esse admirvel movimento imigratûrio n¼o concorre apenas para aumentar rapidamente, em nosso pas, o coeficiente da massa ariana pura; mas tamb¦m cruzando e recruzando-se com a populażo 14 Einführung mestiÅa, contribui para elevar, com rapidez, o teor ariano do nosso sangue« (Vianna, 1956:175). Manuel Querino (1851 – 1923), selbst Afrobrasilianer und Aktivist, publizierte im Jahre 1916 »A raÅa africana e seus costumes« und im Jahre 1918 »O colono preto como fator de civilizażo«, die 1938 nach seinem Tode unter dem Titel »Costumes africanos no Brasil« erschienen. Seine aus der Praxis entstandenen, heute klassischen, ethnografischen Studien führte er gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jhs. in Bahia durch. Mit Arthur Ramos de Araujo Pereira (1903 – 1949) hat sich wieder ein Psychiater mit der afrobrasilianischen Problematik beschäftigt. Der bedeutende afrobrasilianische Künstler und Politiker Abdias Nascimento (1978) wies später mit einer gewissen Ironie darauf hin, daß es anfänglich Psychiater und Kriminalanthropologen waren, die sich der Afrobrasilianer »annahmen«. So wurde das »Fremde« zum »psychopathologisch Auffälligen«. Die Ethno-psychoanalytikerin Maya Nadig (1992:50) spricht in diesem Zusammenhang von einer »Psychopathologisierung des Fremden« und erkennt darin einen Abwehrmechanismus, ein zentrales Thema der modernen Transkulturellen Psychiatrie und Ethnopsychoanalyse. Arthur Ramos’ insgesamt 458 Titel umfassende Bibliographie enthält psychologische, ethnopsychoanalytische, psychiatrische, soziologische, religionswissenschaftliche und folkloristische Studien. Hervorzuheben sind hier besonders die »Estudos de Psicanlise« (1931), »O negro brasileiro« (1934), »Introdużo psychologia social« (1936), »As culturas negras no Novo Mundo« (1937), »Introdużo antropologia brasileira« (1948/49, 2 vol.s) und die »Estudos de Folklore« (1952, posthum). Dieses überaus reichhaltige Gesamtwerk Arthur Ramos’ ist für jeden Psychoanalyse-Historiker, Sozialpsychologen, Ethnologen und (Afro-) Brasilianisten noch heute eine wahre heuristische Fundgrube. Im Jahre 1941 gründete Ramos die »Sociedade Brasileira de Antropologia e Etnologia«. Später leitete er bis zu seinem Tode die sozialwissenschaftliche Abteilung der UNESCO in Paris. In der frühen Geschichte der (Ethno-)Psychoanalyse und Afrobrasilianistik in Brasilien (vgl. Stubbe, 1997, 2011) kommt Arthur Ramos eine hervorragende Rolle zu, die hier chronologisch dargestellt werden soll: *1926 Von Arthur Ramos de Araujo Pereira(1903 – 1949) wird die 1925 abgeschlossene medizinische Doktorarbeit »Primitivo e loucura« publiziert. Sie wird mit dem Alfredo Brito-Preis ausgezeichnet und in französischen, nordamerikanischen und argentinischen Fachzeitschriften besprochen. Auch Sigmund Freud schreibt einen Lobesbrief an ihn. Ramos zitiert in seiner Arbeit nicht nur Freud, Jones, Spielrein, Regis, Hesnard u. a., sondern vor allem Schilder und Ferenczi. Ramos übt in zwei Punkten Kritik an Sigmund Freud: die Überbetonung der Sexualsymbolik und die Anwendung der Psychologie des Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik 15 Individuums auf die Psychologie der »Primitiven« (vgl. Perestrello, 1986:204; Gusm¼o, 1974:29; Stubbe, 1987, 1997). *1932 Es erscheint von Arthur Ramos »O mito de Yemanj em suas raizes inconscientes«. !Yemanj, eine Art afrobrasilianische Meeresgöttin, spielt im religiösen Alltag Brasiliens und den sykretistischen Kulten bis heute eine hervorragende Rolle (vgl. Unterste, 1973; Oliveira et al., 1986). *1934 Arthur Ramos (Rio de Janeiro) publiziert ein einflußreiches Werk der Afrobrasilianistik »O negro brasileiro« (vgl. Ramos, 1934, 1934; Gusmao, 1974; Leite, 1983; Stubbe, 1987; D. Ribeiro, 1985:798). *1935 In seinem Werk »O Folklore Negro do Brasil. Demopsychologia e Psychoanalyse« gibt er eine (ethno-)psychoanalytische Interpretation der afrobrasilianischen !»Folklore«. In diesem Jahr unterzeichnen Roquette Pinto, Arthur Ramos und Gilberto Freyre und andere Intellektuelle das »Manifesto Antinazista« und üben Kritik an den Rassentheorien in Deutschland (vgl. Ramos, 1935; D. Ribeiro, 1985:804,806) *1936 Ramos (Rio de Janeiro) veröffentlicht eine »Introdużo psychologia social« (!Sozialpsychologie). In diesem Jahr veröffentlicht er auch *»O desenho infantil e sua significażo psychanalytica« in der »Rev. Med. da Bahia« (fevr., N8 2), eine psychoanlytische Interpretation von Kinderzeichnungen (vgl. Stubbe, 1997) *1937 organisiert er zusammen mit dem Volkskundler Edson Carneiro den »II. Congresso Afro-Brasileiro« (vgl. Stubbe, 1987; D. Ribeiro, 1985:886) *1938 Arthur Ramos publiziert eine ›ethno-psychoanalytische‹ Studie über »O espirito associativo do negro«. *1943 gibt Ramos eine »Introdużo antropologia brasileira« heraus. Posthum erscheinen dann noch die beiden völkerkundlichen Werke »As culturas indgenas«(1971) und »As culturas negras no Novo Mundo« (1979) A. Ramos verfolgte die afrobrasilianischen Studien des baianischen Psychiaters und Kriminologen Nina Rodrigues (1862 – 1906) weiter (vgl. Stubbe, 2001:261ff), indem er als erster in Brasilien die österreichische Psychoanalyse auf Phänomene der afrobrasilianischen Kultur anwandte. Ramos wirft Nina Rodrigues Position vor, daß sie von den Theoretikern der Rassenungleichheit wie Gobineau (1816 – 1882) und Lapouge imprägniert sei (Ramos, 1951:18). Die These von der biologischen Inferiorität der Afrobrasilianer ersetzte er dann aber unglücklicherweise durch die ebenso fragwürdige These von ihrer vermeintlichen kulturellen Inferiorität. Auch sündigte er indem er die ethnozentrische (später revidierte) Hypothese des prälogischen Denkens von L¦vy-Bruhl (1857 – 1939) übernahm (vgl. etwa Ramos, 1951:295; Stubbe, 2012:121 – 127). Wollten Rodrigues und Vianna die Übel der »biologischen Inferiorität« in der brasilianischen !Gesellschaft durch ein »embranquecimento« (Weißmachung) 16 Einführung bekämpfen, sah Ramos die Lösung in der Herstellung einer »verdadeira cultura«, in der die prälogischen Elemente durch rationale ersetzt würden (vgl. Ramos, 1951:296). In den frühen 30er Jahren des 20. Jh.s, noch vor der Gründung des »Estado Novo« (1937 – 1945), als die Afrobrasilianer sich politisch zu organisieren begannen (z. B. Frente Negra Brasileira, gegr. 16. Sept. 1931, 1. Gründungsversuch bereits 1928; die FNB existierte bis 1937; vgl. FGV-Cpdoc, 1984:1393) fand in Recife der »I. Congresso Afro-Brasileiro« (1934) statt. Unter der Beteiligung renommierter Fachleuten (z. B. Artur Ramos, Ulisses Pernambuco, CunhaLopes, Melville J. Herskovits, Edison Carneiro, Renato MendonÅa, Rodolfo Garcia, Mario de Andrade, Roquette-Pinto), wurden wichtige Aspekte der Geschichte, Kultur, Gesundheit, Sprache etc. der Afrobrasilianer diskutiert. Vielfältige Themen standen auf der Tagesordnung: der »negro« in der Folklore und Literatur (MendonÅa), Wörterlisten des nagú (Garcia), anthropometrische Untersuchungen nach L. Lapicque (zum Nachweis der Afrodescendenz!) (Avila), »Calunga dos Maracatffls« (M. de Andrade), der Mythos des !Xangú (A. Ramos), die »negros« in der Geschichte von Alagúas (Brand¼o), drei Jahrhunderte der Sklaverei in Parahyba (Vidal), die Abolition und ihre Ursachen (Camargo Jun.), Blutgruppen der »raÅa negra« (Duarte), die Republik von !Palmares (Mello), »branco, negro e mulato«- Neugeborene (Cavalcanti), der »negro« als Arbeiter zur Zeit des »bangüÞ« verglichen mit dem Arbeiter zur Zeit der Zuckerfabriken (Raiz), Herkunft der »negros« in der Neuen Welt und Bronze- und Stoffkunst in Dahom¦ (Herskovits), Ernährung und gesundheitlicher Zustand des Sklaven in Brasilien (Coutinho), das Problem der Tuberkulose bei »brancos« und »pretos« und die »rassische« Resistenz (Faria), die Situation des »negro« in Brasilien (Carneiro), afrikanische Sekten in Recife (Cavalcanti), Rezepte des »quitutes afrobrasileiros« (Ialorix Santa & Babalorixs O. Almeida & A. Gomes), anthropologische Bemerkungen über die »mulatos« in Pernambuco (Andrade), Toadas de Xangú do Recife (mit Noten) (Braga) und die Rede des Repräsentanten der »Frente Negra« von Pelotas (M. Barros). Es ist hierbei auffällig, dass sich unter den Vortragenden auch vier bekannte brasilianische Psychiater befanden. Bereits Abdias do Nascimento hat mit einer gewissen Ironie auf die Tatsache hingewiesen, ein wie starkes Interesse die Psychiatrie der damaligen Zeit, beginnend mit Nina Rodrigues, für die Afrobrasilianer entwickelte (s. oben). Zu welchen Ergebnissen über die Afrobrasilianer/»negros« kam die Psychiatrie der damaligen Zeit? J. R. Cavalcanti, ein Schüler von Austreg¦silo (1876 – 1960), stellt generell die höhere Langlebigkeit (longevidade) der »negros« (unter denen er auch einige Hundertjährige fand! vgl. auch Scisnio, 1997:236) gegenüber den Weißen fest. Hierbei ist jedoch kritisch anzumerken, dass allgemein die Kindersterblichkeit bei den Afrobrasilianern beträchtlich höher war. Ulysses Pernambuco stellt einen höheren Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik 17 Anteil von »doenÅas mentaes« (Geisteskrankheiten) bei den Afrobrasilianern Pernambucos fest (institutionelle Inzidenz): bei den »konstitutionellen Psychosen« (psychoses constitucionaes z. B. Schizophrenie, manisch-depressives Irresein etc.) findet er eine geringere Häufigkeit, bei den »organischen Psychopathien« (psychopatias organicas; z. B. Epilepsie, Involutionspsychosen, Oligophrenien etc.) und den »toxischen und infektiösen Psychosen« (psychoses toxicas e infecciosas; z. B. !Alkoholismus, etc.) dagegen eine höhere. Cunha Lopes & Reis stellen fest, dass zwischen 1931 und 1933 in der Psychiatrischen Klinik von Rio de Janeiro 19,02 % »negros«, 22,76 % »mulatos« und 58,21 % »brancos« aufgenommen wurden. Kritisch läßt sich allgemein zu all diesen Untersuchungen sagen, dass sie nicht repräsentativ waren, sondern die ungleiche (ungerechte) psychiatrische Versorgungssituation in Brasilien wiederspiegeln und dass ihnen ein Rassenkonzept bzw. ein »Rassendeterminismus« zugrundeliegt, der die »negros« grundsätzlich als minderwertiger als die »brancos« betrachtete. Eine kritische Sozial- bzw. Transkulturelle Psychiatrie war noch nicht bekannt (vgl. Estudos Afro-Brasileiros, 1988). !Gesundheit Aber nicht alle brasilianischen Intellektuellen ließen sich von den in Europa und den USA grassierenden Rassenideologien anstecken. Z. B. stellte der Arzt Manoel Jos¦ do Bomfim (1868 – 1932) in seinem Werk »A Am¦rica Latina-Males de origem« (1905) klar heraus, daß die den Afrobrasilianern zugeschriebenen negativen Attribuierungen nicht aus der biologischen »Rasse« kommen, sondern Ergebnisse der !Sklaverei sind. Da der Afrobrasilianer eine passive Rolle bei der Bildung der nationalen Gesellschaft gespielt habe, könne man ihn nicht für die »Unterentwicklung« der gegenwärtigen Gesellschaft verantwortlich machen (vgl. Bomfim, 1905: 270 f, 278, 280ff)(vgl. !Sündenbock-Rolle). Das Problem der »mestiÅagem« entlarvt er als eine Pseudo-Theorie, die versuche, die Rassenvermischung als schädlich hinzustellen. Mit Recht weist er bereits darauf hin, daß es in der lateinamerikanischen Geschichte keine Beweise dafür gebe, daß die !»mestiÅos« in irgendeiner Weise »degeneriert« seien, ganz im Gegenteil. Ihre Tugenden und Untugenden hingen allein davon ab, welches Erbe auf ihnen laste, welche Erziehung ihnen angedeiht worden sei und wie sie sich an die ihnen angebotenen Lebensbedingungen anpassen würden (Bomfim, 1905: 310 f; zu Bomfim vgl. auch D. Ribeiro, 1984: 48ff; Stubbe, 2001). Ein anderer Autor, Alberto Torres (1865 – 1917), zeigte in seinem Buch »O problema nacional brasileiro« (1917), sich auf den Anthropogeographen und Umweltdeterministen Ratzel (1844 – 1904) und den Begründer der nordamerikanischen »cultural anthropology« Franz Boas (1858 – 1942) berufend, daß !»raÅa« nicht mit Kultur gleichzusetzen sei, und daß es keinerlei wissenschaftliche Beweise für eine Rassenungleichheit gebe (Torres, 1938:130). Torres sah auch schon deutlich mit fast 20jähriger Antezedenz den Aufstieg der national-sozialistischen RassenLehre, die ihre imperialistischen und kriegerischen Ambitionen mit einer 18 Einführung Ideologie der Rassenüberlegenheit der Weißen begründete. Für ihn ist das eigentliche brasilianische Problem in Wahrheit ein ökonomisches. Der Anthropologe Roquette-Pinto (1884 – 1954) vertrat die Ansicht (obgleich er die Existenz der Rassenvorurteile negierte und eine gewisse Sympathie für die Eugenik hegte), daß die Ursachen der brasilianischen Problematik von der »rassischen« Konstitution der Bevölkerung unabhängig und Resultat sozialer Faktoren sei. In seinem bekannten »Ensaio de Antropologia Brasileira« (1933) zeigt er sich vertraut mit den wichtigen zeitgenössischen Arbeiten von Davenport und Melville J. Herskovits (1895 – 1963) (z. B. The american negro, 1928). Gilberto Freyre’s (1900 – 1987) (der in den USA studiert hatte) »Casa grande e senzala: formażo da familia brasileira sob o regime de economia patriarcal« (1933), ein sehr einflußreiches Jahrhundertwerk, dient dann vor allem dazu die Verbreitung einer bestimmten Ideologie voranzutreiben, die sich aus den Mythen des »LusoTropikalismus«, des »Senhor amvel« (einer Spielart des »homem cordial brasileiro« S¦rgio Buarque de Hollanda’s, 1936) und der »democracia racial« zusammensetzt. Freyre begeht auch den Fehler, das »mestiÅamento« (»Rassenvermischung«) als eine Bereicherungsform anzusehen und den portugiesischen Kulturbeitrag zu idealisieren (vgl. dagegen z. B. Paula, 1971; zu Freyre, vgl. z. B. Nery da Fonseca, 1977; D. Ribeiro, 1979; FUNARTE, 1985; Dantes Mota, 2004:217 – 234). Ab Mitte der 30er des 20. Jh.s begannen verschiedene ausländische Sozialwissenschaftler die »Rassenbeziehungen« zwischen Weißen und Schwarzen in Brasilien zu erforschen. Hier ist vor allem der US-Amerikaner Donald Pierson zu nennen (ein Schüler von Robert Park ,1864 – 1944), der von 1935 bis 1937 die Situation der Afrobrasilianer in Bahia untersuchte. Die Resultate dieser Untersuchung publizierte er in dem Werk »Negroes in Brazil: A study of race contact at Bahia« (1942). Pierson erklärte in diesem Band das !Vorurteil gegenüber den Afrobrasilianern ähnlich wie Gilberto Freyre durch die Klassensituation und argumentiert mit den (vermeintlich) sozialen bzw. psychologischen Vorurteilen gegenüber den »rassisch-gemischten« Ehen (vgl. Nogueira, vol. 3, 1981:181 – 234; CorrÞa, 1987:29 – 116). Die us-amer. Anthropologin Ruth Landes (1908 – 1991) führte 1938/39 Feldforschungen in Bahia über die Konstruktion der Identität im Candombl¦ durch und veröffentlichte ihre Studien unter dem Titel »City of women« (1947; port. »Cidade das mulheres«, 1967). Der afro-us-amerikanische Soziologe Edward Franklin Frazier (1894 – 1962) studierte im Jahre 1941 das Familienleben in Bahia und publizierte im Jahre 1942 »The negro family in Bahia«. L. A. da Costa Pinto (Universidade do Brasil, RJ) publizierte im Jahre 1953 eine ähnliche Arbeit über »O negro no Rio de Janeiro. RelaÅþes de raÅa numa sociedade em mudanÅa«. Der frz. Soziologe und Religionswissenschaftler Roger Bastide (1898 – 1974) kam 1938 (bis 1954) als Nachfolger von Claude L¦vi-Strauss (vgl. Tristes tropiques, 1955) an die Universität von S¼o Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik 19 Paulo (USP). Er war ein »Grenzgänger zwischen Kontinenten und Kulturen«. In Brasilien wurde er als »mystischer Sohn« des Gottes !Xangú in eine afrobrasilianische Kultgemeinschaft aufgenommen. Vor allem interessierten ihn das »wilde bzw. mystische Heilige« in den Gestalten des Fremden, des Mystikers und des Wahnsinnigen. Mit ihnen sucht er im Rahmen der Religionswissenschaft und Soziologie das Gespräch, da er meint, dass sie einer existentiell bedeutsamen Erfahrung zum Ausdruck verhelfen, die dem modernen (westlichen) Menschen in seiner Gesellschaft abhanden gekommen ist (vgl. Reuter, 2000). Von Bastide stammen eine Vielzahl von wichtigen soziologischen (z. B. »Brancos e negros em S¼o Paulo«, 1955; Soziologie und Psychoanalyse, 1960) und religionswissenschaftlichen Arbeiten (z. B. »Le candombl¦ de Bahia«, 1958; »Les religions africaines au Br¦sil«, 1960) über die Afrobrasilianer. Andere Sozialwissenschaftler wie z. B. der us-amer. Kulturanthropologe Marvin Harris waren fasziniert von der Vielzahl der Kategorien zur Definition der !Hautfarbe in Brasilien (vgl. auch Stephenson, 1990; Stubbe, 1992:88ff). Eine der von Harris in Bahia durchgeführten Untersuchungen macht dies deutlich: Harris legte 100 Versuchspersonen 9 Fotographien vor, die ein Kontinuum vom Schwarzen bis zum Weißen enthielten mit 7 intermediären Typen. Das Ergebnis war überraschend, denn es ergaben sich 40 verschiedene Rassebezeichnungen (vgl. Harris, 1952, 1956, 1964). Ähnliche Arbeiten stammen von Charles Wagley (1952, 1963), Harry Hutchinson (1952) und Ben Zimmermann (1952). In den 50er Jahren finanzierte die UNESCO eine Reihe von Untersuchungen über die »Rassenbeziehungen« in Brasilien. Zu nennen sind hier vor allem die großangelegte Untersuchung über »Brancos e Negros em S¼o Paulo« (1959) von Roger Bastide und Florestan Fernandes, sowie L. A. Costa Pinto’s »O Negro no Rio de Janeiro. RelaÅþes de raÅas numa sociedade em mudanÅa« (1953). Weitere wichtige Titel, die sich der Problematik der Afrobrasilianer widmen, sind: »As metamorfoses do escravo« (1962) des Paulistaner Soziologen Octvio Ianni, »Capitalismo e escravid¼o no Brasil meridional« (1962) von Fernando Henrique Cardoso (dem späteren Präsidenten Brasiliens!), »Cúr e mobilidade social em Florianûpolis« (1960) von Cardoso und Ianni und »A integrażo do negro na sociedade de classes« (1965) von Fernandes. Alle diese Arbeiten, die im Süden Brasiliens (in dem der Anteil der Afrobrasilianer geringer ist) realisiert wurden, haben gemeinsam, daß sie die Existenz von Rassenvorurteilen konstatieren. Oracy Nogueira (1955) nimmt eine Unterscheidung der Rassendiskriminierung in Brasilien und den USA vor: in Brasilien wird ein »Mischling« nicht mehr als Schwarzer angesehen, wenn er dem biologischen Prozeß des »embranquecimento« ausgesetzt ist, d. h. glatte Haare, eine hellere Hautfarbe und eine geringere Prognathie besitzt. In den USA wird selbst ein völlig weißer »Mischling« diskriminiert, aufgrund des Wissens um seine biologischen afrikanischen Vorfahren. In seiner Untersuchung »Cor, profiss¼o e mobilidade: O negro e o rdio 20 Einführung em Sao Paulo« (1967) zeigt Jo¼o Baptista Borges Pereira, daß der Radiosender einer der hauptsächlichen Kanäle der vertikalen ökonomischen Mobilität der Schwarzen in S¼o Paulo ist, was jedoch nicht heißt, daß in dieser Institution das Rassenproblem bereits gelöst sei. Für die Sozialwissenschaftler der 70er Jahre gibt es keine Zweifel mehr an der Existenz der Rassenvorurteile und sie versuchen nun, die verschiedenen Aspekte des Problems zu studieren. Der Soziologe Thales de Azevedo (1975) wendet sich scharf gegen solche (verbreiteten) Meinungen, die das Rassenproblem in Brasilien verharmlosen und die rassendiskriminierende Verhaltensweisen als Einzelfälle abtun wollen. Azevedo berichtet über zahlreiche Vorfälle, die die Existenz von Gewalt im Zusammenhang mit Rassendiskriminierung, zumindest auf individueller Ebene, beweisen. Auch räumt er völlig mit dem beliebten Mythos von der »democracia racial« auf, indem er nachweist, daß es in Brasilien eine systematisierte rassistische Doktrin gibt. Der Soziologe Florestan Fernandes macht schließlich in dem Sammelband »O negro no mundo dos brancos« (1972) die historische Perspektive des Problems deutlich, indem er schreibt, daß die Abolition (1888) eine entscheidende soziale Revolution war, die von den Weißen für die Weißen gemacht wurde (vgl. Fernandes, 1972: 47). Der Afrobrasilianer wurde doppelt ausgebeutet: »Primeiro, porque o ex-agente de trabalho escravo n¼o recebeu nenhuma indenizażo, garantia ou assistÞncia; segundo, porque se viu, repentinamente, em competiżo com o branco em ocupaÅþes que eram degradadas e repelidas anteriormente, sem ter meios para enfrentar e repelir essa forma mais sutil de despojamento social« (Fernandes, 1972: 47; vgl. auch Fernandes, 1989). Mit Thomas Skidmore’s (1976, 1998) historischer Analyse des Rassen- und Nation-Konzeptes im brasilianischen Denken seit Ende des 19. Jahrhunderts wird dann die Existenz einer rassistischen Ideologie in Brasilien sowie das Ideal des »branqueamento« klar herausgearbeitet. Es ist oftmals behauptet worden, daß die Rassenbeziehungen in Brasilien »humaner« seien, weil das Sklaverei-System hier humaner gewesen sei. Die Arbeits-, Lebens- und Wohnverhältnisse, die!Suizidstatistiken, die an den Sklaven praktizierten !Strafen, der !»banzo«, die hohe Mortalität und Morbidität der Sklaven(-kinder) sprechen hier jedoch eine deutlich andere Sprache! Alles spricht dafür, daß sich das Sklavereisystem in Brasilien in keiner Weise von dem Sklavereisystem an irgendeinem anderen Ort der Welt unterschied (vgl. Stubbe & Santos-Stubbe, 1990; Stubbe, 1985, 1987, 1994; Martin, 1988; N’Diaye, 2011). !Genozid !Gesundheit !Reparationen Bisher haben noch wenige Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianer die Problemstellungen der Afrobrasilianistik bearbeitet. Zu nennen ist hier vor allem der Künstler und Politiker Abdias do Nascimento z. B. mit seinem engagierten Buch »O genocdio do negro brasileiro« (1978), in dem u. a. nachgewiesen wird, wie die katholische Kirche das Sklavereisystem aktiv aufrechterhalten hat (vgl. auch CEHILA, 1987 !Missionierung). Die afrobrasilia- Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik 21 nische Psychiaterin Neusa Santos Souza legte z. B. eine mit vielen eindrucksvollen biografischen Skizzen versehene psychoanalytische Studie »Tornar-se negro« (1983) vor. Sie stellt darin u. a. fest (Santos-Souza, 1983:29), daß in Brasilien !»negro« mit »sujo« (= schmutzig) assoziiert wird. Sie kritisiert, daß sogar das wichtigste Sprachlexikon, der »Aur¦lio«, bei dem Begriff »negro« 10 pejorative Attribute aufführt, nämlich: sujo, triste (= traurig), maldito (= verflucht), melancûlico, perverso, escravo (= Sklave), funesto (= finster), lutuoso (= traurig), sinistro (= unheimlich), encardido (= vergilbt). Die Sozialwissenschaftlerin und Afrobrasilianistin Chirly dos Santos-Stubbe (1990ff) hat in vielen Publikationen vor allem die Situation der afrobras. Frauen sozialpsychologisch bearbeitet und eine kurze Einführung in die Afrobrasilianistik vorgelegt. Moema Parente Augel (1980ff) hat nicht nur !Reiseberichte (vor allem in Bahia) analysiert, sondern auch in vielen Schriften die künstlerischen und literarischen und kulinarischen Aktivitäten der Afrobrasilianer dargestellt. Im Rahmen des 100jährigen Jubiläums der Abolition in Brasilien (1888) entstand um das Jahr 1988 eine Vielzahl von Forschungsarbeiten über die fast 350 Jahre existierende !Sklaverei. Die afrikanische Sklaverei in Brasilien läßt sich grob in drei verschiedene Phasen einteilen: 1. Die erste reicht vom Beginn der Kolonisation (1500) bis Mitte des 17. Jh.s. In diesem Zeitabschnitt wurde das Zuckerrohr-Plantagensystem errichtet, das vor allem auf der Arbeit afrikanischer Sklaven beruhte. Nach 1620 übertraf die Anzahl der afrikanischen bereits die der indianischen Sklaven. 2. In der zweiten Phase von Mitte des 17. Jh.s bis 1791 kam es zu einer Expansion der Plantagenwirtschaft und einem rapiden Aufschwung der Ausbeutung von Gold-und Diamanten-Minen, in denen Sklaven arbeiteten. Neben Zucker (aÅucar), wurden auf den Plantagen auch zunehmend Produkte wie !Tabak, Indigo, Kakao und Baumwolle angebaut. Diese wirtschaftliche Entwicklung führte zu einer grossen Nachfrage nach afrikanischen Sklaven (möglicherweise ca. 2 Millionen). 3. Die letze Phase von Ende des 18. Jh.s bis zur !Abolition (1888) ist geprägt von der Expansion der Kaffeeproduktion, der europ. Einwanderung und stufenweisen Einschränkung der Sklaverei. Insbes. in den Provinzen Rio de Janeiro, S¼o Paulo und Minas Gerais kam es zu einem grossen Zustrom von neuen Sklaven (vgl. Cardoso, 1982:20 – 22; Marcondes de Moura, 1994:9) Grundsätzlich lassen sich in der Forschung über die afrikanische Sklaverei in Brasilien mindestens folgende verschiedene (sich teilweise auch überschneidende) Richtungen unterscheiden: 1. Die historische Forschungsrichtung (z. B. Malheiro, 1976; Skidmore,1998; Cardoso, 1982; J. Jobson de A. Arruda et al., 2005; !Sklaverei in der 22 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. Einführung Weltgeschichte und als weltgeschichtliches Phänomen, z. B. Meyer, 1990; Osterhammel, 2000) Die ökonomische Forschungsrichtung (z. B. Sombart, 1928; Furtado, 1975; Cardoso & Brignoli, 1984; marxistische Analysen: z. B. Ihde, 1975; Gorender, 1978, Buescu, 1982; Hell, 1986; Tanezini, 1994:1 – 18) Die quantitative, statistische Forschungsrichtung (z. B. Anzahl der »importierten« Sklaven auf den »tumbeiros«, vgl. B. Conrad, 1985; Klein, 1978, 1987; Scisnio, 1997) Die soziologische und sozialpsychologische Forschungsrichtung (z. B. Ramos, 1936; Fernandes, 1965; Ianni, 1962, 1978; Santos-Stubbe, 1995; Stubbe, 2001) Die sprachwissenschaftliche Forschungsrichtung (z. B. Sprachenvielfalt der Sklaven, vgl. Garcia, 1934; MendonÅa, 1948; Scisnio, 1997; Lopes, 2006) Die kulturanthropologische Forschungsrichtung (z. B. Rassenideologie: Skidmore, 1976; Harris, 1967; Stubbe, 1987, 2001, 2012) Die politische Forschungsrichtung (z. B. »Quilombismo«; Slaverei im internationalen politischen System; die afrobras. polit. !Organisationen, vgl. A. do Nascimento, 1982; !Quilombo als politische Utopie der Zukunft) die Auswirkungen der Sklaverei auf die brasilianische Gesellschaft, Kultur, Religion und Wissenschaft bis in die Gegenwart (z. B. Psychologie: SantosStubbe, 1992; !Anthropologie: Schwarcz, 1993; Sprachwissenschaft: Cunha-Henckel, 2007; Medizin/!Gesundheit: Pies, 1981; Scisnio, 1997; ! Musik: Houaiss, 2006; !empregadas dom¦sticas: Santos-Stubbe, 1995; ! Religion/Synkretismus: Lody, 2003 etc.) Die gender-bezogene Forschungsrichtung/Frauenforschung: z. B. SantosStubbe, 1994ff, !Frauen Die lebensalterbezogene und biografische Forschungsrichtung (z. B. ! Sklavenkindheit, !Biografien, z. B. Priore, 2000; Stubbe, 1994, 2012:573ff) Die historische !Quilombo-Forschung, die interdisziplinär, und heute auch archäologisch arbeitet (vgl. z. B. !Palmares) Kunsthistorische Forschungsrichtung, z. B. Nina Rodrigues, 1904; Carneiro da Cunha, 1994; Lody, 2003 !Kunst !»Made in Africa«-Forschung: die afrikan. Wurzeln der bras. Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit, Sprache etc. (z. B. Cmara Cascudo, 1965; Diegues Jfflnior, 1977, 1997; vgl. auch zur Sklaverei in Afrika, z. B. N’Diaye, 2010) Die literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung (z. B. Sayers, 1958; Trigo, s.d.; Carvalho FranÅa, 1998 !Literatur) In der Revista do Patrimúnio Histûrico e Artstico Nacional (N8 25, 1997) werden viele wichtige Aspekte der neueren Afrobrasilianistik (Kultur, Medien, Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik 23 Sport, Kunst, Literatur etc.) der Gegenwart von Fachleuten wie J. R. dos Santos, M. Di¦gues Junior, M. Sodr¦, H. Buarque de Hollanda, M. Augras, A. do Nascimento, N. Lopes, L. S. de Almeida, M. B. Nascimento, C. Vogt & P. Fry, E. Ferraz u. a. übersichtsartig behandelt. Der afrobras. Jurist Alaúr Eduardo Scisnio (1927 – 1999) hat in seinem wertvollen »Dicionrio da escravid¼o« (1997) akribisch vor allem die historischen und legislativen Aspekte der Sklaverei herausgearbeitet. Nei Lopes (*1942), Jurist, Sprachwissenschaftler, Musiker und afrobras. Aktivist, legte eine Vielzahl von Publikationen, Enzyklopädien (2004) und Lexika (2003, 2006) über afrobrasilianische Themen vor. Raul Lody (*1951) hat die afrobras. Religiosität vor allem in ihren künstlerischen, kulinarischen, technischen und liturgischen Aspekten erschöpfend behandelt (vgl. z. B. Lody, 2003). Auch viele deutschsprachige Forscher und Forscherinnen haben vor allem im Rahmen der Lateinamerikakunde bzw. Brasilianistik (vgl. z. B. Cannstatt, 1902; Rescher, 1979; Stubbe, 1980ff; Holtz, 1981; Werz, 1992; Institut für Iberoamerika-Kunde, 1993; Universität Bielefeld, 1990; Briesemeister et al., 1994; SantosStubbe, 1995ff; Costa et al., 2010) afrobrasilianische Themen bearbeitet. Ebenfalls in Portugal, Frankreich, den USA und England existiert eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen, Periodika, !Bibliografien und Sklavereispezialisten (vgl. Bastide, Ribeiro, Boxer, Skidmore, Klein, Conrad, Karash, Slenes, Levine, etc.), die sich intensiv mit den Afrobrasilianern, ihrer Geschichte, ihrer Religion, ihrer Kultur, den »Rassenbeziehungen« etc. beschäftigt haben. Die gegenwärtige Situation: Um sich ein umfassenderes Bild der soziologischen und sozialpsychologischen Gegebenheiten der Afrobrasilianer der Gegenwart machen zu können sollen noch einige Aspekte ihrer Situation beleuchtet werden: Zunächst einmal ist die Erfassung der !Hautfarbe ein sozialpsychologisches Problem. Harris (1970) fand allein 492 verschiedene Ausdrücke für die Hautfarbenbeschreibung in Brasilien! (vgl. auch Stephens, 1989; Stubbe, 1992). Der Soziologe und Afrobrasilianer Clûvis Moura (188: 63) berichtet, daß bei der Volkszählung von 1980 die nicht-weiße Bevölkerung nach ihrer Hautfarbe gefragt, insgesamt 136 verschiedene Hautfarben angab. Moura interpretiert dieses Phänomen als eine Identitätskrise und Flucht vor der ethnischen Realität. Über die Afrobrasilianer liegen bereits einige umfangreiche !Bibliografien vor, die insgesamt einige Tausend Titel umfassen (vgl. z. B. Biblioteca Nacional, 1962; Alves, 1979; Biblioteca Amaral, 1988; Casa Ruy Barbosa, 1988; CEAA, 1991 etc.). Dabei ist auffallend, daß die meisten Arbeiten in die Kategorien ! »Folklore«, !»Geschichte«, !»Religion« und !»Sklaverei« fallen. Die 100Jahrfeier der Sklavenbefreiung im Jahre 1988 hat eine Fülle von Untersuchungen 24 Einführung und Projekten zu diesem Thema hervorgerufen. (Sozial-)Psychologische Untersuchungen zu afrobrasilianischen Themen sind dagegen bisher noch äußerst selten (vgl. Stubbe, 1987, 1988, 1994; Santos-Stubbe, 1998; Journal of African Psychology, 1988ff; Peltzer & Ebigbo, 1989). Betrachtet man z. B. die Ergebnisse der Volksbefragungen von 1940 bis 1980 so kann man ein allmähliches Anwachsen des afrobrasilianischen Bevölkerungsteils feststellen (!Demo-grafie): 1980 werden bereits 45 % der brasilianischen Bevölkerung als Afrobrasilianer bezeichnet (vgl. IGBE, 1987; IBASE, 1989:11). Hinsichtlich der Altersstruktur der Afrobrasilianer ergibt sich folgendes Bild: 0 – 14 Jahre (42 %), 15 – 24 Jahre (21 %), 25 – 44 Jahre (23 %), 45 – 54 Jahre (7 %), 55 Jahre und älter (7 %) (IBASE, 1989: 12). Es handelt sich also um eine ausgesprochen junge Bevölkerungsgruppierung. Gegenüber den Weißen ist bei den Afrobrasilianern eine höhere Kinderzahl, sowie eine geringere Lebenserwartung zu beobachten (vgl. auch IGBE, 1990). Die afrobrasilianische Bevölkerung ist nicht gleichmäßig über das Land verteilt. Während in den urbanen Zentren das weiße Element dominiert (60 % gegenüber 40 %), findet man das afrobrasilianische Element stärker in den ruralen Gebieten (56 % gegenüber 44 %). Im Vergleich zu den Weißen nehmen die Afrobrasilianer im brasilianischen Wirtschaftsleben eine eindeutig ungünstigere Position ein. Man findet Afrobrasilianer vorwiegend in geringer qualifizierten Tätigkeiten, sie stellen auch die Mehrheit der Arbeitslosen und erhalten geringere Löhne. Außerdem besitzen sie schlechtere berufliche Aufstiegschancen auch bei gleicher Qualifikation (vgl. Hasenbalg, 1979; Oliveira et al., 1985; Moura, 1988; IBASE, 1989; Lovell, 1994; Lopes, 2006). Eine !Diskriminierung läßt sich also deutlich auf dem Arbeitsmarkt beobachten. Selbst wenn die Afrobrasilianer über eine ebenbürtige Schulausbildung verfügen wie die Weißen, werden ihnen dennoch geringere Aufstiegs-chancen eingeräumt. Im Hinblick auf die Arbeitsstundenzahl liegen die Afrobrasilianer entgegen einem verbreiteten Vorurteil jedoch über derjenigen der Weißen. Auch hinsichtlich der Löhne und Gehälter wird die Diskriminierung in den späten 80er Jahren sichtbar (!Ökonomie und Arbeitswelt). Vor allem die Afrobrasilianerin wird diskriminiert. Auf den Verwaltungsposten finden wir im Jahre 1980: 34 % gelbe, 19,6 % weiße und nur 3,9 % schwarze Frauen (vgl. IBASE, 1989:44). Dagegen arbeiten 56,4 % der Afrobrasilianerinnen im Dienstleistungssektor, d. h. vor allem als !»empregadas« (= Hausangestellte) (vgl. Carneiro & Santos, 1985; Santos-Stubbe, 1995). Hinsichtlich der Bildungssituation der weißen und schwarzen Frauen ergibt sich in den späten 80er Jahren ein ähnliches Bild. ! Bildung Unter den Alleinerziehenden fanden sich allein im Jahre 1980: 2.030.898 schwarze Mütter (IBGE, 1980). Ihre spezifischen sozialpsychologischen Probleme wurden von Rosane da Silva Ferreira in ihrer Dissertation »Vida de mulher – Um estudo em classe popular« (1987) für Rio de Janeiro ausführlich Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik 25 bearbeitet. R. Lustosa Bastos (1987) hat in seiner Magisterarbeit die !Suizide in verschiedenen Stadtteilen (u. a. Favela St. Marta, Copacabana) Rio de Janeiros miteinander verglichen (vgl. Stubbe, 1996:93 – 117). Verschiedene Versuche wurden in Brasilien unternommen, die Situation der Afrobrasilianer zu verbessern. Von staatlicher Seite wurde in die neue !Verfassung von 1988 ein »Rassismus-Paragraph« aufgenommen der die Praktik des !Rassismus unter Strafe stellt (Ttulo II, Cap. I, Art. 6, § III). Verschiedene pädagogische Projekte versuchen, in der schulischen !Bildung den bedeutenden kulturellen Beitrag der Afrobrasilianer und ihre !Geschichte stärker in das Bewußtsein der Schüler und Schülerinnen zu bringen (vgl. z. B. IBASE, 1989: 28 f; Revista do Patrimúnio Histûrico e Artistico Nacional, N825, 1997; Lopes, 2006). Auch haben sich viele !Organisationen gebildet, in denen sich Afrobrasilianer aus politischen, religiösen, sozialen und kulturellen Motiven zusammengeschlossen haben, sowie Institutionen, die der afrobrasilianischen Forschung dienen (vgl. z. B. IBASE, 1989: 55ff; Santos-Stubbe, 2001). Heute wird die !Afrobrasilianistik interdisziplinär und in methodischer Vielfalt im Rahmen der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie, der Sozialwissenschaften, der Humanwissen-schaften, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften betrieben. !Anhang !Afrobrasilianistik !Anthropologie !Bibliografien !Demografie !Folklore !Geschichte !Gesellschaft !Reiseberichte !Sklaverei ! Sozialpsychologie !Vorurteile A. J. Antonil (Jo¼o Antonio Andreoni, SJ) (1711, 1923): Cultura e opulencia do Brazil por suas drogas e minas. S¼o Paulo (Introd. A. de E. 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B. »Positivistas do Brasil«) motivierte Bewegung zur Sklavenbefreiung, vor allem in den USA (Nordstaaten: 1787, allgemein: 1863/65), in England (1833) und in Brasilien (1888) im Gefolge der europ. Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s. Aber auch ökonomische Interessen förderten die Abolition. Furtado (1975:114 f) konstatiert z. B. im Hinblick auf einige Regionen: »Tatsächlich beschränkte sich die Abschaffung der Sklaverei nur unter ganz besonderen Bedingungen auf eine lediglich formale Umwandlung der Sklaven in Lohnarbeiter.« In Brasilien stand die Abolition bereits auf dem Programm der »Conjurażo Mineira« im Jahre 1789, die von der Französischen Revolution inspiriert worden war. Auch Jos¦ Bonifcio Andrada e Silva (1763 – 1838), der »Patriarch der bras. Unabhängigkeit«, hatte in seinem Verfassungsprojekt bereits die Befreiung der Sklaven gefordert. Eigentlich hatte aber der A. bereits mit der Bildung der !Quilombos in Brasilien begonnen, denn in ihnen waren die Sklaven bereits »befreit«. 1757 forderte der Pater Manuel Ribeiro da Rocha in seinem Werk »Etope Resgatado« schon die Befreiung der Kinder von Sklavenmüttern. 1798 protestierte Lucas Dantas, einer der Führer der »Conjurażo Baiana«, gegen die Diskriminierung der !»mulatos«. 1809 schlug Hipûlito Jos¦ da Costa im »Correio Brasiliense« eine gradative Befreiung der afrobras. Sklaven durch »freie« Arbeiter vor. Trotz des engl. Druckes intensivierte sich dennoch aufgrund der hohen Nachfrage der Plantagenwirtschaft der Sklavenhandel nach Brasilien. In den frühen 30 Jahren des 19. Jh.s schlug der Abgeordnete Antúnio Ferreira FranÅa ein Projekt der gradualen Abschaffung der Sklaverei vor (was endgültig erst am 25. März 1881 geschehen sollte). 1831 deklarierte die bras. Regierung ein wenig beachtetes Gesetz, wonach alle ab diesem Zeitpunkt eingeführten Sklaven frei sein sollten (Padre Feijû, 1784 – 1843). Auf Druck der engl. »Bill Aberdeen« (1845) wurde im Jahre 1850 mit dem »Lei Eus¦bio de Queirûs« 30 A der Sklavenhandel nach Brasilien definitiv verboten. Im Jahre 1853 untersagte man auch den internen Sklavenhandel (vgl. auch die beiden eindrucksvollen Anti-Sklaverei-Gedichte der damaligen Zeit: »Das Sklavenschiff« (1853/54) von Heinrich Heine (1797 – 1856) und »O Navio Negreiro« (1883) von Castro Alves (1847 – 1871); Stubbe & Santos-Stubbe, 1990:131 f). Am 28. September 1871 wurde das »Lei do Ventre Livre« erlassen, das die Kinder von Sklavinnen befreite. Es bildete sich u. a. eine »Sociedade Brasileira contra a Escravid¼o«, die von dem afrobras. Ingenieur Andr¦ RebouÅas gegründet, sowie eine »Confederażo Abolicionista«, die von Jo¼o Clapp, Joaquim Nabuco, Jos¦ do Patrocinio u. a. organisiert wurde (zu den »Sociedades abolicinistas«, vgl. z. B. Scisnio, 1997:3001 f). Berühmte afro-bras. »abolicionistas« des 19. Jh.s waren Luiz Gama (1830 – 1882), Andr¦ RebouÅas (1838 – 1898), Jos¦ do Patrocnio (1854 – 1905), Ferreira de Menezes (1845 – 1881) und die Afrobrasilianerin Adelina Charuteira (vgl. Lopes, 2006:13). Am 24. Mai 1884 führte der Präsident der Provinz von Manaus die sog. »Emancipażo em Manaus« durch, die völlige Befreiung der Sklavenbevölkerung (vgl. Scisnio, 1997:134 f). Unter dem Ministerium des Bar¼o de Cotegipe (1815 – 1889), wurde am 28. September 1885 dann das »Lei dos Sexagenrios« bzw. das »Lei Saraiva-Cotegipe« erlassen, das die über 65jährigen Sklaven befreite. In Abwesenheit des nach Europa gereisten Kaisers Dom Pedro II. (1825 – 1891) wurde dann endlich durch die Prinzessin D. Isabel (1846 – 1921) am 13. Mai 1888 das sog. »Lei Ýurea«, die völlige, definitive Sklavenbefreiung erlassen (die Originalurkunde befindet sich im »Arquivo das ndias«, Sevilha!; vgl. Núvo Dicionrio de Histûria do Brasil, 1970:16ff), aber die Leidens- und Emanzipationsgeschichte der Afrobrasilianer war damit noch nicht beendet. !Abolition !Anhang !Geschichte der Afrobrasilianer !Quilombos ! Sklaverei !Zumbi M. Ribeiro Rocha (1758, 1992): Etope resgatado. Empenhado, sustentado, corrigido, instrudo e libertado. Petrûpolis; H. D. Thoreau (1848, 1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. (darin: Die letzten Tage des John Brown (1860), S. 63 – 69). Zürich; J. do Patrocnio & A. RebouÅas (1863): Manifesto da Confederażo Abolicionista do Rio de Janeiro. Rio de Janeiro; J. Nabuco (1883): O abolicionismo (conferÞncias e discursos abolicionistas). London; R. Barbosa (1884): Emancipażo dos escravos. Rio de Janeiro; A. G. de Azevedo Sampaio (1890): Abolicionismo. … S¼o Paulo; A. J. de Macedo Soares (1923): Campanha jurdica pela libertażo dos escravos (1867 – 1888). Obras Completas. Rio de Janeiro; E. de Morais (1924): A campanha abolicionista 1879 – 1888. 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Lopes (2006): Dicionrio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo Abolition und was geschah nach der Abolition? Am 13. Mai 1888 wurde die afrikanische Sklaverei in Brasilien de jure aufgehoben, sie hat aber de facto wenig positive Veränderungen in der Lebenssituation dieser Bevölkerungs-gruppe bewirkt. Der 14. Mai war ein Feiertag für die meisten Sklaven, insbesondere in den Städten, die sich aus ihren Sklavenketten befreit fühlten. Der Glaube nun vollkommen befreit zu sein und als egalitärer Bürger einen würdigen Platz innerhalb aller gesellschaftlichen Instanzen zu erhalten, blieb in der Tat nur eine Illusion. Dieser historische Augenblick kann als der Anfang des immer noch existierenden Kampfes der Afrobrasilianer für den Erhalt ihrer vollständigen Bürgerschaft (=cidadania) in Brasilien gelten. Sie waren jetzt zwar de jure frei, aber befanden sich weiterhin in einem eingeengten Bewegungsraum innerhalb dieser »Freiheit«, der für ihre sozio-ökonomischen Chancen bis heute immer noch bedeutende Auswirkungen besitzt. Die Integration der Ex-Sklaven/innen in die sich industrialisierende !Gesellschaft und darüber hinaus in den wachsenden Arbeitsmarkt der Post-Abolitionszeit wurde ihnen selbst überlassen. Ein effektiver Eingliederungsversuch in den allmählich wachsenden Wirtschaftssektoren wurde ihnen nicht angeboten, da sich der urbane Zweig der Wirtschaft stark an der Arbeitskraft der europäischen Immigranten orientierte und diesen Arbeitsraum für sie reservierte. Ab ca. 1850 wurde eine starke Einwanderungsbewegung nach Brasilien gefördert als Lösung für die nach der Sklavenbefreiung potenziell fehlende Arbeitskraft. Diese Einwanderungspolitik hatte auch eine starke rassen-ideologische Basis. Der »imi- 32 A grantismo« (im Jahre 1866 wurde die Internationale Gesellschaft für Einwanderung in Brasilien gegründet) zielte auf ein »branqueamento« (= Weißwerdungsprozeß) bzw. eine »Arianisierung« der brasilianischen Bevölkerung ab, die durch den Ersatz der Europäer stattfinden sollte. Der afrikanische Bevölkerungsanteil würde sich nach Meinung der Vertreter dieser Immigrantismusbewegung im Laufe der Zeit von selbst auflösen. Diese Bewegung wurde stark sowohl von Politikern als auch von Wissenschaftlern (z. B. Nina Rodrigues, Oliveira Vianna) unterstützt. Die europäische Einwanderungsbewegung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jhrs. seitens der Brasilianer u.a . konzipiert wurde, hatte zum Ziel einen vollständigen Ersatz der Afro-Bevölkerung in allen Wirtschaftssektoren zu erreichen, insb. in den urbanen Zentren, wo sie eine potenzielle Konkurrenz für die Migranten darstellen könnten. Als die erste brasilianische Volkszählung im Jahre 1872 durchgeführt wurde, waren 72 % der AfroBevölkerung bereits von der Sklaverei befreit, aber arbeiteten noch überwiegend im Agrarsektor. Im Laufe der sukzessiven Sklavenbefreiung wuchs eine Masse von Menschen heran, die keine reguläre Arbeit besaß. Im Jahre 1882 gab es z. B. in den fünf Hauptprovinzen des Landes nach offiziellen Statistiken 2.822.583 »desocupados« (= Beschäftigunslose): fast alle waren freigelassene Sklaven. Die Afro-Bevölkerung wanderte ab Anfang der achtziger Jahre des 19. Jh.s allmählich vom Zentrum eines Ökonomie-agrarsystems, in dem sie durch ihre Arbeitskraft Jahrhunderte als Sklaven gedient hatten, in die Peripherie des neuen kapitalistischen urbanen Sytems ab. Für das neue Produktions- und Arbeitssystem wurden sie aber als nicht geeignet angesehen. Sie besaßen einerseits für die expandierende industrielle Manufakturproduktion keine schulische, technische oder zusätzliche berufliche Ausbildung, die sie an dieses neue Produktionsverhältnis angepaßt hätte, um eine freie Konkurrenz mit den zum Teil besser ausgebildeten Immigranten überstehen zu können. In dieser Hinsicht können wir feststellen, daß die verprochene und zum Teil von den Abolitionisten durchaus geplante Veränderung der Lebensbedingungen der befreiten Sklaven in keinerlei Form stattgefunden hat. Ideologische rassistische Barrieren blockierten zusätzlich die Integrations-möglichkeiten der Afrobrasilianer auf dem freien Arbeitsmarkt nach der sog. Sklavenbefreiung. Sie wurden abgelehnt gegenüber den bevorzugten weißen Immigranten, da diese letzteren als Mitglieder einer »höheren« Rasse, als »intelligenter«, ehrlicher, fleißiger, moralischer etc. galten, sowie als Besitzer eines gehobenen Ausbildungsniveaus und »Zivilisationsgrades«. Die aus Afrika abstammende Bevölkerung wurde, im Gegensatz zu den idealisierten Einwanderern, als dumm, faul, gefährlich, ohne Moral, unzivilisiert, etc. betrachtet und als Hindernis für die zivilisatorische Entwicklung Brasiliens angesehen. Durch diese positiven Eigenschaften der europäischen Immigranten und die negativen der Afro-Bevölkerung, wie sie in den Augen der weißen brasilianischen Elite existierten, sollten die ersteren die brasilianische Abolition und was geschah nach der Abolition? 33 Nation von dem Unheil der Afro-Sklaven (aber auch der »Indianer«!), die auch durch die »Rassenmischung« das Land degradiert und »degeneriert« hätten, befreien und durch »neues reines Blut« (sangue puro) die brasilianische Nation »entwickeln und heilen.« Anhand dieser Barrieren wurde der »befreiten« AfroBevölkerung keine neue Chance gegeben auf der gleichen Ebene und unter den gleichen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu konkurrieren und dadurch einen vertikalen Aufstieg zu erreichen, so daß ihnen schließlich nur ein marginaler Arbeitbereich übrig blieb. Für ihr Überleben mußten sie weiterhin sklavenähnliche Tätigkeiten ausüben. Die Aktivitäten, die die Mehrzahl der Afro-Bevölkerung ausübte, wurden teilweise auch mit der zunehmenden Immigrationswelle umstrukturiert, da die neuangekommenen europäischen Einwanderer sich anfänglich in die niedrigeren urbanen Tätigkeiten eingliedern mußten, aber dies nur als Übergangsaktivitäten. Diese überließen sie wieder den als niedriger angesehenen ethnischen Gruppen, sobald sie aufsteigen konnten. Auch eine Agrar- und Landreform, in der den befreiten Sklavinnen und Sklaven Land (das es in Brasilien zur Genüge gibt!) zur Bewirtschaftung zur Verfügung gestellt worden wäre, fand (obwohl solche Pläne existierten) nicht statt. Projekte der Abilitionisten und solche aus dem Anfang des Jahrhunderts wie beispielsweise der Entwurf von Jos¦ Bonifcio (1763 – 1838), der eine Übergabe von Grundstücken an die früheren Landarbeitersklaven und die Gründung von Handwerkerschulen und Einrichtungen von Grundschulen vorsah, wurden nicht realisiert, so daß der soziale Gegensatz weiterhin latent blieb und bis in die Gegenwart hineinwirkt. Aus der Schilderung des Sozialwissenschaftlers Fernandes (1965) über die Arbeitsalternativen der Afro-Bevölkerung in der Industrialisierungs-Zeit um dreißig Jahre nach der Sklavenbefreiung in S¼o Paulo werden diese Hindernisse noch deutlicher : »In den Fabriken kommt die Gelegenheit zur Arbeit selten in ihre Hände (der Afro-Bevölkerung), nur wenn es sich um »Neger-Dienste« handelt … , solche, die die Italiener nicht machen wollen; nämlich die schweren und lebensgefährlichen Arbeiten. Die schwarzen Frauen, ihrerseits, hatten bisher Schwierigkeit sich auszubilden und Weberinnen zu werden, sie mußten sich begnügen mit den Arbeiten als »dom¦sticas«, hauptsächlich bei traditionellen Familien … So mußten die Schwarzen und »Mulatten«, die ihr Leben verdienen wollten sich den »Neger-Diensten« unterwerfen (das Putzen, das Tragen, Schaufeln …). In ihrer Mehrzahl waren diese Tätigkeiten schlecht bezahlt und verlangten wenige oder gar keine Qualifikation« (apud Rissone, 1968:145). Die hier zusammengetragenen rassistisch-ideologischen Barrieren, die in der PostAbolitionszeit entscheidend waren für die Ausgliederung der Afrobrasilianer aus dem Entwicklungsprozeß der brasilianischen Gesellschaft, haben eine Nachwirkung von über 100 Jahren. Sie können u. a. für die Notsituation der Mehrzahl dieser Bevölkerungsgruppe gegenwärtig verantwortlich gemacht 34 A werden, sowie für das vorurteilsreiche Bild, das sowohl in den !Schulbüchern gezeigt wird, als auch Bild in der Gesellschaft vorhanden ist. 13. Mai oder 20. November? »A Princesa Imperial Regente, em nome de Sua Majestade o Imperador, o Senhor Dom Pedro II, faz saber a todos os sfflditos do Imp¦rio que a Assembl¦ia Geral declarou e ela sancionou a lei seguinte: Art. 18 – Ê declarada extinta desde a data d’esta lei a escravidao no Brasil. Art. 28 – Revogam-se as disposiÅoes em contrrio.« (»Die regierende kaiserliche Prinzessin, im Namen ihrer Majestät des Kaisers, Herrn Dom Pedro II., macht allen Untertanen des Reiches bekannt, daß die General-Versammlung folgendes Gesetz erklärt und somit anerkannt hat: Art. 18 – Es wird ab dem Datum dieses Gesetzes die Sklaverei in Brasilien für abgeschafft erklärt. Art. 28 – Gegenteilige Anordnungen werden widerrufen.«) Was ist schon ein Datum? Am 20. November 1695 wurde !Zumbi dos Palmares ermordet, der Held und Führer eines demokratischen !Quilombos, in dem allediejenigen, die mit den offiziellen politischen und ökonomischen Verhältnissen nicht einverstanden waren, Zuflucht fanden, unabhängig von ihrer Hautfarbe und ihrem Glauben. Dieses Datum wurde in der brasilianischen Historiographie jahrhundertelang vollkommen »vergessen« bzw. verdrängt. Erst ab den 70er Jahren dieses Jahrhunderts begann ein allmählicher Prozeß des Wiedererinnerns. Dieser verstärkte sich noch in den 80er Jahren, da zahlreiche Gruppierungen der afrobrasilianischen Bewegung dieses Ausgangsdatum für ihren Widerstand gegen !Sklaverei, !Rassismus und !Diskriminierung in Brasilien einsetzten. Dieses Datum wurde nun als Repräsentation für die eigene Stärke und Kampfbereitschaft von »unten« von der versklavten Bevölkerung und von der unterprivilegierten Afro-Bevölkerung erlebt, um gesellschaftliche, politische und ökonomische Veränderungen zu erzielen. In diesem Sinne wurde dieser Tag als symbolischer Jahrestag der schwarzen Widerstandsbewegungen und als »Tag des Schwarzen Bewußtseins« (= Dia da ConsciÞncia Negra) gefeiert. Offiziell durchgesetzt hat sich aber eher der 13. Mai. An jenem Tage des Jahres 1888 hatte die Prinzessin Isabel die afrikanische Sklaverei in Brasilien offiziell abgeschafft. Die Resonanz dieses Datums in der Geschichte Brasiliens ist unvergleichbar größer, weil hier eine juristische und strukturelle Veränderung seitens der Machtinhaber in Gang gesetzt wurde und dadurch die soziale und ethnische Teilung des Landes sowie seine Produktionsweise (-von der Sklave- Abolition und was geschah nach der Abolition? 35 reiwirtschaft zum Kapitalismus-) und einer neuen Regierungsform (ein Jahr später, 1889 erfolgt der Übergang von der Monarchie zur Republik) offiziell, das erste Mal mit einer solchen Komplexität neudefiniert wurde. Dieses Datum bewirkte die erste und komplexeste Restrukturierung des Landes. Der 13. Mai 1888 kann heute angesehen werden als das juristische und politische Ergebnis dessen, was seit !Palmares in Gang gesetzt wurde, d. h. als Folge des 20. November 1695 und als Teil des »schwarzen« Widerstandes. Der Akt des 13. Mai hatte jedoch nur juristisch das Ende der Institution Sklaverei bestätigt, die zu dem Zeitpunkt bereits kaum noch existierte. Im Jahre 1818 beispielsweise bestande 50,5 % der brasilianischen Bevölkerung aus Sklaven, dagegen lag im Jahr der offiziellen Sklaven-Befreiung (1888) die Prozentzahl der versklavten Bevölkerung nur noch bei 5,6 %. Der 13. Mai repräsentiert nicht nur ein Datum für die ersehnte Freiheit der versklavten afrikanischen Bevölkerung, die dadurch nur juristisch konkretisiert wurde, sondern vielmehr ein nationales Datum mit dem sich alle Brasilianer unabhängig von ihrer !Hautfarbe und sozio-ökonomischen Herkunft identifizieren können. Hierbei hängt es nur von der Auslegung jeder Seite ab, d. h. wie ein jeder für sich und seine Interessen dieses Ereignis betrachtet, aber die Anerkennung der offiziellen Tat, »Abschaffung der Sklaverei«, ist für die bras. Nation insgesamt einigend, was für eine breitere Demokratisierung und Entdiskriminierung der Afro-Bevölkerung ein grundlegendes Datum sein könnte. Trotz aller Bekanntheit beider Daten können wir heutzutage feststellen, daß der Kampf für die breitere Aufnahme und Akzeptanz des 20. November immer noch unterdrückt und diskriminiert wird. Dieser Tag wird heute oftmals als ein Datum verstanden, dessen Hauptbedeutung die Trennung zwischen Weißen und »Schwarzen«, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen politisch Engagierten und Unpolitischen, zwischen »macumbeiros« (diejenigen Anhänger des synkretischen afro-brasilianischen Kults !»macumba«) und Katholiken hervorhebt. Er wird oftmals als eine Gegen-Feier einer kleinen Gruppe von intellektuellen Afrobrasilianern zu der des 13. M ai verstanden, der wiederum als eine allgemeine, populäre Feier angesehen wird. Gegenwärtig wird versucht durch den 20. November eine tatsächliche »Abschaffung der Sklaverei« der afrobrasilianischen Bevölkerung aus Armut, aus diskriminierenden und rassistischen ungerechten Verhältnissen auf der sozialen, politischen und ökonomischen Ebene im Land zu bewirken. Dieses Datum versucht durchzusetzen, was der 13. M ai proklamierte, aber nicht durchsetzen konnte, da die wirtschaftlichen Machtinteressen dies nicht zuließen. Es scheint in einigen Augenblicken widersprüchlich, aber der 20. November beabsichtigt genau die Umsetzung dessen, was am 13. Mai rechtlich auf einem Dokument festgehalten wurde. Der 20. November kann betrachtet werden als der Ursprung eines Befreiungs- und 36 A !Emanzipationsprozesses und der 13. Mai als offizieller Meilenstein für ein populäres Fest. Gegenwärtig können wir eine starke Tendenz beobachten, insbesondere in den aktiven politischen und intellektualisierten afro-brasilianischen Gruppierungen, den 13. Mai auf der politischen Ebene zu negieren. Gegen ihn wird argumentiert, daß dieser Tag eine »Lüge« (mentira, farÅa) sei, da die effektive »Freiheit« für die Afro-Bevölkerung sich immer noch nicht konkretisiert habe. Diese Auslegung muß jedoch mit Bedacht betrachtet werden: Die großen Entbehrungen in der Lebenssituation der Mehrzahl dieser Bevölkerungsgruppe, unter denen sie seit der »Abschaffung der Sklaverei« bis heute lebt, können den juristischen Akt der »Abschaffung« in seiner Vollkraft nicht in Frage stellen. Man kann sich fragen, wie wäre es, wenn dieser Akt nicht vollgezogen worden wäre und das vom Kaiser D. Pedro II. bevorzugte Modell der allmählichen »Entsklavung« sich durchgesetzt hätte? Effektiv kann behauptet werden, daß nicht die Schwäche der »Lei Ýurea« (des Goldenen Gesetzes) für die prekäre Lage dieser Bevölkerung veratwortlich ist. Wenn nach ihrer Proklamierung keine Initiative zur Integration dieser Bevölkerungsgruppe in die wachsende kapitalistische Gesellschaft von der offiziellen Seite angestrebt wurde, kann dieses Gesetz nicht beschuldigt werden, aber die ökonomischen und politischen Machtinhaber – insb. zu Beginn der republikanischen Regierung -, die kein Interesse an einer Verteilung des Landes, an einem breiteren Zugang zur ! Bildung für die Bevölkerung im Allgemeinen, etc. hatten. Außerdem wird häufig argumentiert, daß der 13. Mai ein offizielles Datum sei, das von oben, also von den Herrschenden, nach unten institutionalisiert bzw. aufoktroyiert wurde. Trotz alledem hat der 13. Mai eine tiefe Bedeutung in zahlreichen afro-brasilianischen Kulten. An diesem Tag werden die »Pretos Velhos« (=alte weise Schwarze) gefeiert, d. h. es ist der Tag, an dem alle spirituellen afrikanischen Vorfahren, die Macht und Wissen in religiöser Hinsicht über Gesundheit, Wohlbefinden, Magie, etc. besitzen, feierlich angerufen werden. Dieser Tag ist sehr präsent im populären Denken und Handeln. In den Schulen, in den religiösen Zentren, in den Rathäusern, in den Kirchen, auf den Straßen, von Reichen, Armen, Monarquisten, Republikanern, von Weißen, Schwarzen und ! pardos wird der Tag freudig begrüßt und hat auch die Unterstützung des Staates, obwohl er trotz seiner Wirkung nicht als Feiertag gilt. Diese Tatsache zeigt wiederum deutlich, daß der Akt der »Abschaffung der Sklaverei« noch immer nicht allgemein als ein würdiger Tag akzepiert und betrachtet wird. Dies kann noch als Zeichen eines tiefsitzenden Ressentiments gegenüber dieser »Freiheit« seitens der Herrschenden gedeutet werden. Der 20. November wird trotz seiner noch etwas schwächeren Bedeutung vom Staat unterstützt im Rahmen des Kultus- und Erziehungs-ministeriums. Wesentlich bei der Diskussion dieser beiden Daten ist ihre Repräsentation für Abolition und was geschah nach der Abolition? 37 die brasilianische Gesellschaft: Es ist und es soll ein Kampf sein der afro-brasilianischen Bevölkerung, mit dem Ziel einer egalitären Gesellschaftsordnung für alle sozialen Gruppierungen im Lande. Die Bewußtwerdung beider Daten bedeutet einen Schritt nicht nur für eine Neufassung der afro-brasilianischen Geschichte, sondern auch den ersten Schritt, um die Geschichte aller Brasilianer/ innen bzw. des Landes selbst umzuschreiben. Die gefeierten Tage eines Kalenders besitzen in jeder Kultur wichtige Funktionen, beinhalten eine tiefgehende Symbolik und haben ebenfalls eine starke Aussagekraft, deshalb kann man zu beiden Daten sagen: Sowohl der 20. November, als auch der 13. Mai! !abolicionismo !Anhang !Geschichte der Afrobrasilianer !Sklaverei D. A. B. Moniz Barreto (1837): Memûria sobre a aboliżo do comercio da escravatura. Rio de Janeiro; L. Gama (1881): Quest¼o jurdica. Abolicionista, n8 6 e 9, (1. abril e 1.julho). Rio de Janeiro; Duque Estrada (1918): A aboliżo: esboÅo historico, 1831 – 1888. Rio de Janeiro; J. Nabuco (1938): O abolicionismo. S¼o Paulo; Cons. Macedo Soares (1938): Campanha juridica pela libertażo dos escravos (1867 – 1888). Rio de Janeiro; I. Monteiro de Barros Lins (1938): TrÞs abolicionistas esquecidos (B. Constant, M. Lemos, T. Mendes). Rio de Janeiro; Th. Davatz (1941): Memûrias de um colono no Brasil. S¼o Paulo; R. Gir¼o (1956): A aboliżo no Cear. Fortaleza; A. T. D’Albuquerque (1970): A maÅonaria e a libertażo dos escravos … Rio de Janeiro; M. O. Andrade (1972): A aboliżo antes da Lei Ýurea. Rio de Janeiro; E. F. Moran (1973): Rui e a aboliżo. Rio de Janeiro: Fund. Casa de R. Barbosa; O. J. Ferreira Guilhon (1974): Jos¦ do Patrocnio. S¼o Paulo; R. Conrad (1975): Os fflltimos anos da escravatura no Brasil – 1850 – 1888. Rio de Janeiro; P. Beiguelman (1981): A crise do escravismo e a grande imigrażo. S¼o Paulo; M. Correia de Andrade (1987): Aboliżo e reforma agraria. S¼o Paulo; Comiss¼o Estadual do Centenrio da Aboliżo (org.) (1988): Libertador. rg¼o da Sociedade Cearense Libertadora: 1 – 1 – 1881 a 9 – 4 – 1892. Ed. fac-similar. Fortaleza: Secretaria da Cultura, Turismo e Desporto; A. Torres Montenegro (1988): Aboliżo. S¼o Paulo; J. M. Pedro et al. (1988): Aboliżo e branqueamento. CiÞncia Hoje (RJ), 8(48), p. 28 – 30; E. J. Reis & E. P. Reis (1988): As elites agrrias e a aboliżo da escravid¼o no Brasil. Dados (RJ), 31(3), p. 309 – 341; F. da Cruz Gouveia (1988): Aboliżo: a liberdade veio do norte. Recife; L. A. da Fonseca (1988): A escravid¼o, o clero e o abolicionismo. Fund. J. Nabuco. Recife; C. Fl. S. Cardoso (ed.) (1988): Escravid¼o e aboliżo no Brasil. Novas Perspectivas. Rio de Janeiro; M. R. dos Reis Luna & E. M. Bezerra CoÞlho (1988): Cem anos de aboliżo ou sem anos de aboliżo? Cadernos de Pesquisa (S¼o Luz), 4(1), p. 21 – 28; Cem anos de aboliżo. A liberdade passada limpo. Isto¦ (Especial), N8 591, 20 de abril 1988; Fl. Fernandes (1989): Significado do protesto negro. S¼o Paulo, p.30ff; A. L. D. Lanna (1989): A transformażo do trabalho. Campinas; S. Chalhoub (1990): Visþes da liberdade: uma histûria das fflltimas d¦cadas da escravid¼o na corte. S¼o Paulo; N. Werneck Sodr¦ (1990): Formażo histûrica do Brasil. Rio de Janeiro (13.ed.); A. E. Scisnio (1997): Dicionrio da escravid¼o. Rio de Janeiro; Ch. dos SantosStubbe (2001): Die Afrobrasilianer. Bad Honnef: DSE (2. Aufl.); N. Lopes (2006): Dicionrio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo 38 A Abwehrmagie (auch: apotropäische Magie) Einführung: Zauberische Abwehr. Wenn sich der Mensch bösen Einflüssen ausgesetzt fühlt, sei es von Seiten unpersönlicher Kräfte, sei es von !Geistern, setzt er eine A. ein. Gegen diese Gefahren kann man sich mit Kraftmitteln aller Art schützen: Worte (magische Sprüche), Blut (Blutzauber), Speichel (Bespucken), !Tatauierung, Abwehrauge (vgl. Stubbe, 2012:15) etc. Die magische Abwehr beruht häufig auf dem Prinzip der Analogie (z. B. blaue Glasperlen gegen den bösen Blick der blauen Augen). Amulette dienen als bleibende Abwehrmittel. Die gefahrdrohende Macht kann auch durch Schleier/Verhüllung, !Masken etc. abgelenkt bzw. getäuscht werden oder man versucht sie durch Lärmen, Helligkeit, Gerüche, Stahl etc. zu vertreiben. Auch Opferhandlungen, Beschwörungen und !Gebet können einen apotropäischen Charakter annehmen. Das Abwehrauge und »mal olhado« in Brasilien: Das Abwehrauge ist ein magisches Symbol in unterschiedlicher Darstellung und starker Verbreitung. Das Grundschema entspricht in allen Fällen einer deutlich als Auge oder Augenpaar erkennbaren Darstellung. Anbringungsort und Bedeutung gehören in den Funktionsbereich des Beaufsichtigens, Abwehrens, Ablenkens und Schützens, aber auch des Wahrnehmens und Blickfanges wie z. B. im Heilzauber oder in der modernen Werbepsychologie. Der »Böse Blick« (mal olhado) ist eine in vielen Gebieten der Erde (vor allem im Mittelmeerraum und LA; vgl. Coluccio, 1984:182ff) verbreitete Vorstellung von der Schadenswirkung des Auges bzw. des Blickes. Ethnopsychologisch wird der »mal olhado« durch Neid motiviert verstanden. Gegen den bösen Blick gibt es in Brasilien eine Vielzahl von Abwehr- und Schutzmitteln wie das !Amulett, die !»figa« (Brasilien), Halsketten, augenähnliche Broschen etc. In Lateinamerika und im Mittelmeerraum gilt der böse Blick als mögliche Krankheitsursache und wird oftmals von traditionellen !HeilerInnen behandelt. ! Amulett ! Figa !Krankheitsvorstellungen !macumba !patu !Zauber S. Seligmann (1922): Die Zauberkraft des Auges und das Berufen. Hamburg; ders. (1927): Die magischen Heil- und Schutzmittel aus der unbelebten Natur mit besonderer Berücksichtigung der Mittel gegen den bösen Blick. Stuttgart; O. Koenig (1970): Kultur und Verhaltensforschung. Einführung in die Kulturethologie. München; ders. (1975): Urmotiv Auge. Neuentdeckte Grundzüge menschl. Verhaltens. München; L. da Cmara Cascudo (1980): Dicionrio do folclore brasileiro. S¼o Paulo(5.ed.); T. Hauschild (1982): Der böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen. Berlin; F. Coluccio (1984): Diccionario de Creencias y Supersticones. Buenos Aires; O. Monteiro (1986): Magia e pensamento mgico. S¼o Paulo; A. Dundes (ed.) (1992): The evil eye. Madison; Africanos livres 39 T. Morone (1998): Malocchio. Die latente Gefahr des Neides. Ethnopsychologische Mitteilungen,7(2), S. 163 – 174; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, p.86 Adoption Während der Sklavereizeit war es möglich, dass weiße Familien !Sklavenkinder rechtmäßig adoptierten oder als »filhos de criażo« hielten. Nei Lopes (2006:13) weist darauf hin, dass solche Kinder in psychologischer Hinsicht oftmals Persönlichkeitskrisen bzgl. ihrer Identität und Selbstwertprobleme entwickeln können. !Sklavenkindheit !Sozialpsychologie A. E. Scisnio (1997): Dicionrio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicionrio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, p. Africanismos (auch: Afrikanismen) Die vielen Afrikanismen im Brasil-Portugiesischen (vgl. ähnlich auch in Angola, Mosambik und der übrigen port. sprachigen Welt) entstammen in ihrer überwiegenden Zahl den afrikanischen Bantu-Sprachen, aber auch das Yorub und die rel. Sprache im afrobras. Synkretismus haben einen bedeutenden Einfluss ausgeübt. Die von den Sklaven gesprochenen afrikanischen !Sprachen (z. B. quimbundo, conguÞs, herero, lulundo, bassutu, bitonga, suali, etc.) behandelt z. B. Scisnio (1997:233 – 236) ausführlich. !Bibliografien !Kultur !Literatur !Made in Africa !Sprache D. de Laytano (1936): Os africanismos do dialeto gaucho. Revista do Instituto Histûrico e Geogrfico do Rio Grande do Sul (Porto Alegre); R. MendonÅa (1948): A influÞncia africana no portuguÞs do Brasil. Porto (2. ed.); C. Bandeira (1962ff): Vocabulrio afro luso-brasileiro. Jornal do Comm¦rcio (RJ), 16.dec. 1962, 30.dec. 1962, 20.jan. 1963, 3.feb. 1963, 24. feb. 1963, 10. Mar. 1963, 31 mar. 196321. abr. 1963; A. E. Scisnio (1997): Dicionrio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicionrio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; Michaelis. Dicionrio escolar lingua portuguesa. S¼o Paulo, 2008 Africanos livres Bezeichnung für Afrikaner, die nach dem Verbot des Sklavenhandels (1831) nach Brasilien kamen. Sie wurden als »emanzipiert« betrachtet und arbeiteten 40 A unter dem Schutz der Regierung (tutela do governo) in öffentlichen städtischen Projekten, insbes. den langwierigen. Sie warteten auf ihre Rückreise (auf Kosten der Sklavenhändler), was jedoch nie geschah, ganz im Gegenteil wurden sie allmählich unter die allgemeine Sklavenbevölkerung gemischt d. h. auch versklavt. Erst im Jahre 1864 wurden durch ein kaiserliches Dekret alle »africanos livres« emanzipiert. !Alforria !Emanzipation !Fluxus und Refluxus !Geschichte !Sklaverei E. de Mesquita Samara (1988): Os testamentos de libertos como fonte para a histûria da escravid¼o. Revista Brasileira de Histûria (SP), 8(16), p. 266 – 268; A. E. Scisnio (1997): Dicionrio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicionrio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo Afrobrasilianer Nei Lopes (2006:15) definiert klar : »afro-brasileiro – qualificativo do indivduo brasileiro de origem africana e de tudo que lhe diga respeito. Relativo, ao mesmo tempo, Ýfrica e ao Brasil, como o indivduo brasileiro de ascendÞncia africana.« A. hebt also vor allem die qualitativen Kennzeichen eines brasilianischen Individuums mit afrikanischem Ursprung hervor und bezieht sich gleichzeitig auf Afrika und auf Brasilien«. »Afro-brasileiro« wird oft mit !»negro« gleichgesetzt. !»mulata/mulato« !»negro« Cl. Moura (1977): O negro. De bom escravo a mau cidad¼o. Rio de Janeiro; ders. (1989): Histûria do negro brasileiro. S¼o Paulo; A. Dzydzenyo (1979): Afro-Brazilians. London; R. Motta (org.) (1985): Os afrobrasileiros. Anais do III. Congresso Afro-Brasileiro. Recife; D. J. Davis (2000): Afro-Brasileiros Hoje. S¼o Paulo (engl. Ausg. 1999); N. Lopes (2006): Dicionrio escolar afrobrasileiro. S¼o Paulo Afrobrasilianistik (auch: Estudos afrobrasileiros) A. ist die Wissenschaft von den Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianern in ihrer ca. 500jährigen Geschichte und Kultur in Brasilien. Sie erforscht als wissenschaftliche Disziplin jedoch nicht nur ihre !Geschichte (insbes. die ca. 350 Jahre dauernde Sklaverei), sondern auch ihre !Kultur, (Kultur-)Anthropologie, !Religionen, Soziologie, !Politik, !(Sozial-) Psychologie, ! (interkulturelle) Philosophie, !Kunst(wissenchaft), !Musik, !Literatur, ! Sprachen, !Bildung, Arbeitsverhältnisse, Bedingungen des !Wohnens, ! Gesundheit etc. (vgl. Santos-Stubbe,1998:4). Die Forschungsthematik der A. erstreckt sich demnach historisch grob auf drei Zeitabschnitte: die Vergan- Afrobrasilianistik (auch: Estudos afrobrasileiros) 41 genheit dieser Gruppen in Afrika, den Zeitraum der afrikanischen !Sklaverei in Brasilien (ca. 1538 – 1888) und den neuzeitlichen Zeitabschnitt bis zur Gegenwart (1888 bis heute) (zur Geschichte der A. und ihrer anthropologischen Theorien vgl. !Einführung; z. B. Ribeiro, 1988:63 – 110). A. ist somit eine interdisziplinäre Wissenschaft und eine »Schnittwissenschaft« zwischen Afrikanistik (auch: Afrikanologie) und (Latein-)Amerikanistik bzw. Brasilianistik, die sowohl naturwissenschaftliche, als auch geisteswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und humanwissenschaftliche Methoden verwendet. A. ist auch eine internationale Wissenschaft, die allein schon wegen der jahrhundertelangen (kolonialen) ökonomischen und politischen (kolonialen) Abhängigkeit Brasiliens (dependÞncia), vor allem während der Sklavereizeit, nicht nur in Brasilien betrieben werden kann, da wichtige (z. B. politische bzw. den Sklavenhandel betreffende) Dokumente und wissenschaftliche Institutionen und Publikationen auch außerhalb Brasiliens existieren z. B. in Portugal und anderen Ländern Europas, Amerikas und Afrikas. Bisher existiert bedauerlicherweise noch kein Lehrstuhl der Afrobrasilianistik! Abdias do Nascimento & E. Larkin Nascimento (2000ff) sprechen bzgl. der A. kurz und klar von »Sankofa« d. h. einer »recuperażo e valorizażo da rica tradiżo cultural africana« (vgl. auch die gleichnamige Zeitschrift, N. F. 2007ff) und der »afrocentricidade« in den Wissenschaften (vgl. z. B. in der Psychologie: Azibo, 1996). In einer neueren Bibliografie der wissenschaftlichen Literatur über die Sklaverei und die »Rassenbeziehungen« (relaÅþes raciais) in Brasilien (1970 – 1990) werden folgende Häufigkeiten der Forschungsthemen der A. aufgelistet: Sklaverei und Abolition (47 %), polit. Teilnahme, Kultur und Identität (18,4 %), Religion (16,7 %), »Rassenbeziehungen« und »desigualidades« (10,9 %) und Bibliografien, allgemeine Studien, Drucke (7 %) (vgl. CEAA, 1991:19 f; Skidmore, 1998:335 – 351). A. ist nicht mit »Sklavereiforschung« gleichzusetzen, aber letztere bildet einen grundlegenden Teil der A. Die Sklaverei, die um 1538 begann, wurde in Brasilien erst im Jahre 1888 abgeschafft. Auch die afrikanischen Wurzeln der (afro)brasilianischen Kultur sind ein wichtiges Forschungsthema (!Made in Africa). A. ist jedoch keine »museale« Wissenschaft (vgl. »Musealisierung« des Anderen bzw. Fremden, Dean, 2010), auch wenn sie schon über 100 Jahren betrieben wird (vgl. Nina Rodrigues, 1862 – 1906), sondern sie erforscht die Afrobrasilianer in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (soweit dies überhaupt möglich ist!) in allen ihren Lebenslagen und -bereichen. Eine Übersicht über wichtige Institutionen, !Bibliografien und Periodika, Biblioteken, !Museen, !Organisationen und universitäre Kurse bzgl. der A. findet man z. B. in Santos (1985), IPCN (gegr. 1975, RJ), CEAA (1991:239 – 259), IBEA, Institut für Brasilienkunde (Mettingen), USP, Martius Staden-Institut 42 A (S¼o Paulo), Brasilien-Bibliothek der Robert Bosch GmbH (1986), Instituto Joaquim Nabuco de Pesquisas Sociais (Recife), Biblioteca Nacional, IberoAmerikanisches Institut/Bibliothek (Berlin), etc. Seit 2000 finden in regelmäßigen Abständen der »Congresso Luso-Afro-Brasileiro de CiÞncias Sociais« (auch unter dt. Beteiligung, vgl. Manfred Prinz, UNI-Gießen, 2011) oder die von Helmut Siepmann (ZPW- Köln) organisierten Tagungen und die »DeutschPortugiesischen Arbeitsgespräche« statt (vgl. Atas). A., wie sie in diesem Lexikon vorgestellt wird, sollte nicht aus einer einzigen Perspektive z. B. der Religionswissenschaft, der Sprach- und Literaturwissenschaft oder Geschichtswissen-schaft heraus betrieben werden, sondern es sollte versucht werden eine interdisziplinäre, internationale, vielfältige, lebenswirklichkeitsnahe Sicht der Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianerinnen und Afrobrailianer zu wagen. !Anhang !Anthropologie !Bibliografien !Bildung !Einführung ! Folklore !Frau !Geschichte !Gesellschaft !Gesundheit !Kunst !Museen !Ökonomie und Arbeitswelt !Organisationen !Religionen !Sklaverei ! Wohnen R. Nina Rodrigues (1904): As belas artes nos colonos pretos do Brasil. A escultura. Revista Kosmos (RJ), vol. 1, n8 8, agosto de 1904; ders. (1932, 1935): Os africanos no Brasil. S¼o Paulo (posthum, 2. ed.); ders. (1935): O animismo fetichista dos negros baianos. S¼o Paulo (posthum); G. Freyre (1933, 1969): Casa grande e senzala. 2 vol.s. Rio de Janeiro; ders. (1936, 1985): Sobrados e mucambos. 2 vol.s. Rio de Janeiro; 1. Congresso Afro-brasileiro. Pernambuco, anno de 1934. Recife (reed. Fundażo Joaquim Nabuco (ed.) Estudos AfroBrasileiros. Recife, 1988); Ramos (1935): O Folk-Lore Negro do Brasil. Rio de Janeiro; ders. (1934): O Negro Brasileiro. Rio de Janeiro; ders. (1971): O negro na civilizażo brasileira. Rio de Janeiro; ders. (1979): As culturas negras no Novo Mundo. S¼o Paulo (4.ed.); 2. Congresso Afro-Brasileiro. Bahia 1937. Rio de Janeiro, 1940; R. Bastide (1939): Ensaios de metodologia afro-brasileira. Revista do Arquivo Municipal (SP), 5(59), jul., p. 17 – 32; ders. (1945): Êtudes afro-br¦siliennes, ¦tude bibliografique (1939 – 1944): Bulletin des Êtudes Portugaises et de L’Institut FranÅais au Portugal; ders. (1983): Estudos afro-brasileiros. S¼o Paulo; A. G. Mesquitela (1963): Da importncia dos estudos bantos para a compreens¼o da problemtica sûcio-cultural brasileira. Luanda: I. I. C. A.; A. Dzidzienyo (1970): A Ýfrica vista do Brasil. Afro-Ýsia (Salvador), (10/1), p. 79 – 97; R. Guimar¼es (1974): Êdison Carneiro e os estudos afro-brasileiros. Revista Fluminense de Folclore (Niterû), 1(2), jul., p. 34 – 36; E. Bredford Burns (1974): Manuel Querino’s interpretation of the African contribution to Brazil. Journal of Negro History (Washington), 59(1), p. 78 – 86; W. Freitas Oliveira (1976): Desenvolvimento dos estudos africanistas no Brasil. Cultura (Braslia), 6(23), p. 110 – 117; ders. & V. da Costa Lima (1987): Cartas de Êdison Carneiro a Artur Ramos (4. 1. 1936 – 6.12. 1938). S¼o Paulo: Corrupcio; R. M. Cortez Motta (1976): Carneiro, Ruth Landes e os candobl¦s bantus. Revista do Arquivo Pfflblica (Recife), 30(32), p. 58 – 68; ders. (1977/78): De Nina Rodrigues a Gilberto Freyre; estudos afro-brasileiros (1896 – 1934). Revista do Arquivo Pfflblico (Recife), 31/32, (33/34), 1977/78: 50 – 59; M. Acosta Saignes (1976): Ideias de Bastide sobre as Am¦ricas negras. Afro-Ýsia (Salvador), Afrodescendentes 43 (12), P. 109 – 116; D. Menezes (1978): Teses brasilianistas e anttheses brasileiras. Revista de CiÞncia Poltica (RJ), 21(2), p. 17 – 22; M. I. Pereira de Queiroz (1978): Uma nova interpretażo do Brasil: a contribuiżo de Roger Bastide sociologia brasileira. Revista do Instituto de Estudos Brasileiros (SP), (20), p. 101 – 122; R. de Barros Laraia (1979): RelaÅþes entre negros e brancos no Brasil. bib (RJ), (7); L. Nogueira Negr¼o (1979): A crtica de Douglas Teixeira Monteiro sociologia da religi¼o de Roger Bastide. Religi¼o e Sociedade (RJ), 4, p. 31 – 36; E. Beuchelt & W. Ziehr (1979): Schwarze Königreiche – Völker und Kulturen Westafrikas. Hamburg; E. Beuchelt (1981): Die Afrikaner und ihre Kulturen. Berlin; M. CorrÞa (1982): As ilusþes da liberdade: a escola de Nina Rodrigues e a antropologia no Brasil. Doutorado. S¼o Paulo: USP-FFLCH; R. Ribeiro (1982): Antropologia da religi¼o e outros estudos. Recife; ders. (1988): O negro na atualidade brasileira. Estudos de Antropologia Cultural e Social, N8 15. Lisboa; E. dos Santos (1982): Pierre Verger e os residuos coloniais. O »outro« fragmentado. Religi¼o & Sociedade (RJ), (8), jul., p. 11 – 14; H. Jungraithmayr & J. G. Möhlig (Hrsg.) (1983): Lexikon der Afrikanistik; C. Moreira Henriques Serrano (1983): Contribution de l’histoire et de l’anthropologie aux nouvelles ¦tudes afro-br¦siliennes. Recherche: P¦dagogie et Culture (Paris), 64, p. 11 – 14; W. Hirschberg (1984): Die Kulturen Afrikas. Frankfurt/M.; P. R. dos Santos (1985): InstituiÅþes afro-brasileiras. Rio de Janeiro: CEAA; O. R. de Morais Simon (org.) (1986): Revisitando a terra de contrastes. A atualidade da obra de Roger Bastide. S¼o Paulo: USP; J. V. Freitas Marcondes (1987): Gilberto Freyre »Casa Grande e Senzala« e a escravid¼o negra. CiÞncia & Trûpico (Recife), (15), p. 41 – 54; H. Stubbe (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Von den indianischen und afrobras. Kulturen bis in die Gegenwart. Berlin; M. J. Maestri Filho (1988): Notas de Artur Ramos de um depoimento de um ex-escravo. Estudos Ibero-Americanos (Porto Alegre), 14 (2), p. 215 – 230; R. Nagel & E. I. Schirmer Richter (1988): Elementos de arquivologia. Santa Maria: UFSM; C. Christoforo (1988): A Ýfrica no Instituto de Estudos Brasileiros. Revisa do Instituto de Estudos Brasileiros (SP), (28), p. 157 – 185; Centro de Estudos Afro-Asiticos (CEAA) (ed.) (1991): Escravid¼o e relaÅþes raciais no Brasil. Cadastro da produżo intelectual (1970 – 1990). Rio de Janeiro; D. A. Azibo (1996): African Psychology in historical perspective and related commentary. Trenton: Africa World Press Inc.; A. E. Scisnio (1997): Dicionrio da escravid¼o. Rio de Janeiro; Revista do Patrimúnio Histûrico e Artstico Nacional (IPHAN), N8 25, 1997: »Negro Brasileiro Negro«; Th. E. Skidmore (1998): Uma histûria do Brasil. S¼o Paulo (2.ed.); Ch. dos Santos-Stubbe (1998, 2001): Die Afrobrasilianer. Bad Honnef (2. Aufl.); N. Lopes (2003): Enciclop¦dia brasileira da dispora africana. S¼o Paulo; ders. (2006): Dicionrio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; I. Dean (2010): Die Musealisierung des Anderen. Stereotype in der Ausstellung ›Kunst in Afrika‹. Tübingen; W. Schicho (2010): Geschichte Afrikas. Stuttgart; Internet: www. EUBRAS.de; www.cibera.de Afrodescendentes Nei Lopes (2006:15) definiert kurz und knapp: »afro-descendente – termo modernamente usado no Brasil para designar o indivduo descendente de africanos, em qualquer grau de mestiÅagem.« A. – bezeichnet also gegenwärtig in Brasilien ein von Afrikanern abstammdes Induviduum, in allen Abstufungen 44 A der »mestiÅagem«. In einer neueren repräsentativen IBGE-Untersuchung (2008) bezeichneten sich 21,5 % der Interviewten als »afrodescendentes«. !Afrobrasilianer !»mestiÅo« !»mulata/mulato« !»negro« !»pardo« R. F. Ferreira (2000): Afro-Descendente. Identidade em construżo. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicionrio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; Film: DVD: 2011 International Year for People of African Descendent; Internet: wikipedia.org/wiki/Afro-brasileiros Afrolateinamerikaner Es ist sozialpsychologisch nicht korrekt, die Afrolateinamerikaner als eine »Minorität« zu betrachten, wenn man darunter eine zahlenmäßige !Minderheit versteht, denn in vielen lateinamerikanischen Regionen liegt ihr Bevölkerungsanteil nämlich weit über 50 % (z. B. Haiti: über 80 % Schwarze und 15 – 20 % »Mulatten«; Kolumbien: ca. 25 % »Mulatten« und 5 % Schwarze; Venezuela: ca. 33 % »Mulatten« und ca. 9 % Schwarze; vgl. Nohlen, 2000; Lopes, 2004, 2006). Brasilien kann man mit Recht als zweitgrößtes »afrikanisches« Land der Erde (nach Nigeria) bezeichnen. Santos-Stubbe (1995) und Stubbe (1987, 1988, 2001) haben mehrfach darauf hingewiesen, daß bereits die Erfassung der !Hautfarbe (die in vielen offiziellen Dokumenten und Ausweisen immer noch erfaßt wird) in LA ein sozialpsychologisches Problem ist. Allein in Brasilien existiert eine über 900 verschiedene ethnische und rassische Ausdrücke umfassende Terminologie (vgl. Stephens, 1989; Harris, 1970) und bei der Volksbefragung im Jahre 1980 kennzeichnete der nichtweiße brasilianische Bevölkerungsanteil seine Hautfarbe mit insgesamt 136 verschiedenen Ausdrücken (vgl. Stubbe, 1992)! Viele Soziologen und Sozialpsychologen konnten konstatieren, daß den offiziellen Hautfarbenstatistiken in LA nur eine geringe Objektivität zukommt, da sie auf Selbsteinschätzung beruhen und wir im allgemeinen eine Tendenz zum »branqueamento« (Skidmore, 1976) beobachten können. Insgesamt kann man feststellen, daß deutschsprachige (Sozial-)Psychologen bisher den (sozial-) psychologischen Problemen dieser großen Bevölkerungsgruppe wenig Interesse entgegengebracht haben, wohingegen über den afrolateinamerikanischen Synkretismus schon viele Aufsätze und Dissertationen vorliegen (vgl. z. B. Woehlcke, 1972; Kasper, 1984; Richeport, 1987; Figge, 1980; Stubbe, 1987, 1989, 1991; Hohenstein, 1991). Die von Peltzer, Ebigbo, SantosStubbe, Stubbe und Collignon 1988 gegründete internationale Fachzeitschrift »Journal of Psychology in Africa (South of the Sahara, the Caribbean and AfroLatinamerica)« versucht die Psychologie der Afrolateinamerikaner stärker ins Bewußtsein der psychologischen Fachwelt zu rücken. Die Frage, ob es in LA eine Rassenideologie und Rassendiskriminierung gibt, Ahnen (auch: Vorfahren, ancestrais) 45 wurde vor allem von Historikern (vgl.z. B. Geiss, 1988) und Soziologen (z. B. Moura, 1988) untersucht. In seiner sozialhistorisch und kulturanthropologisch orientierten Monographie »Geschichte der Psychologie in Brasilien« ist H. Stubbe (1987) erstmalig ausführlich auf verschiedene ethnopsychologische Aspekte der Afrobrasilianer wie !Banzo !Candombl¦ !indigene Psychologie !Suizide, !Trauer(-Riten), !Ethnotherapie etc. eingegangen. Die !Sozialpsychologie der Sklaverei ist von der Forschung bisher stark vernachlässigt worden. Psychische Reaktionen auf diese Extremsituation wie suizidales Verhalten und !»banzo« wurden von Stubbe (1985, 1987, 1990, 1995, 2001) und Santos-Stubbe (1986, 1988, 1998) untersucht. Sie interpretieren »banzo« als eine kulturspezifische und sozio-ökonomisch bedingte Form eines psycho- bzw. soziogenen Todes bei den afrobrasilianischen Sklaven (vgl. Stubbe & Santos-Stubbe, 1990). Die Zusammenhänge von Rassenideologie und der politischen Entwicklung diskutiert z. B. Max Paul (1982) am Beispiel Haitis und Bermudas. Er vertritt die These, daß sog. Rassenprobleme eher in einem sozioökonomischen als in einem politischen Kontext verwurzelt sind und in letzterem mehr eine instrumentale Bedeutung haben. Paul zeigt auf, daß Rassenideologien in Haiti und Bermuda von den jeweiligen Eliten mobilisiert oder bekämpft werden, je nachdem wie es dem Aufbau oder der Verteidigung ihrer Machtposition gerade nütze. In beiden Ländern ist jedoch eine grundsätzliche Konstanz der sozialen Strukturen hinsichtlich der Klassenschichtung und der Formen der Machtausübung der jeweiligen Eliten festzustellen. !Afrobrasilianer !Bibliografien !Hautfarben R. L. Lûpez Vald¦s (1985): Componentes africanos en el etnos cubano. La Habana; H. Stubbe (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Berlin; ders. (1992): Psychologie, In: Handbuch der deutschsprachigen Lateinamerikakunde. Freiburg/Brsg.; ders. (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; E. Heinemann (1990): Mama Afrika. Das Trauma der Versklavung. Eine ethnopsychoanalytische Studie über Persönlichkeit, Magie und Heilerinnen in Jamaica. Nexus; H. Stubbe & Ch. dos Santos-Stubbe (1990): Banzo- Eine afrobrasilianische Nostalgie? Curare, vol.13, 1990:123 – 132; B. NuÇez (1980): Dictionary of Afro-Latinamerican Civilization. Westport; N. Lopes (2003): Enciclop¦dia brasileira da dispora africana. S¼o Paulo; ders. (2006): Dicionrio escolar afrobrasileiro. S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen Ahnen (auch: Vorfahren, ancestrais) Einführung: Unter A. versteht man die nach dem physischen Tod im Gedächtnis ihrer Verwandten weiterexistierenden Familienmitglieder. A. erfahren oftmals eine be- 46 A sondere Verehrung, weil sie schon zu Lebzeiten Ansehen genossen und eine große Nachkommenschaft hinterlassen haben. Bei ihrem Tod werden sie durch kulturspezifische Rituale als A. in die Verwandtengruppe aufgenommen. Manchmal ist ein Prozeß der »Sanktifizierung« der A. zu beobachten (A.kult). A. gelten als Wächter über die Traditionen und üben eine gewisse Kontrolle über ihre Nachkommen aus. Über Opfer und !Gebete wird Kontakt zu ihnen aufgenommen und gepflegt. In der evolutionistischen Ethnologie des 19. Jh.s galten die A. als Ursprung der Religion überhaupt (vgl. Tylor, Manismus, Animismus). Der Psychologe und Ethnologe Meyer Fortes (1906 – 1983) sah aufgrund seiner afrikanischen Feldforschungen die A. als eine Erweiterung der Sozialordnung an. In manchen Teilen Afrikas werden A. wie die Ältesten der Familie behandelt, weshalb manche Forscher (z. B. Driberg, 1936) der A.verehrung jegliche religiöse Natur abgesprochen haben. Im antiken Rom existierte als Teil des A.kultes ein »ius imaginum« (Recht auf Bilder), ein Vorrecht vornehmer Römer, von Verstorbenen ihrer Familie, die ein höheres Amt verwaltet hatten, eine Wachsmaske herstellen zu lassen. Starb ein anderes Mitglied der Familie, so legten Schauspieler diese Masken, die man über Generationen sorgfältig aufbewahrte, und die Amtstracht des in der Maske Dargestellten an und fuhren so vor dem Leichenwagen her. »Welch ein Anblick muß es gewesen sein, wenn bei der Bestattung eines Scipio die Scipionen vergangener Jahrzehnte, ja Jahrhunderte ihren Toten in die Unterwelt abholten und dann an dem Sarge oder Scheiterhaufen ein Verwandter, meist der Sohn des Verblichenen, die Leichenrede hielt!« (Wörterbuch der Antike, 1976:348) Ahnenkult der Afrobrasilianer: Auf der Insel Itaparca (BA) findet im Rahmen des !Candombl¦ ein Ahnenkult (culto dos ancestrais) statt (vgl. Elbein dos Santos, 1976). Nei Lopes (2006:19) betont, dass der Ahnenkult in einer Verehrung der Ahnengeister besteht, um die von ihnen ausgehende Energie zu empfangen. In der afrikanischen Tradition, war der Glaube an das Überleben der Seele nach dem Tode immer eine Garantie für die innere soziale Stabilität und familiäre Einheit (zur Ahnenseele vgl. auch Frikel, 1995:98 – 102). Der hochgeehrte »Mestre Didi« (*1917), der Sohn der ialorix M¼e Senhora, hat sich als ein direkter Nachfahre von Afrikanern (Ketu) für den Ahnenkult (nagús) in Bahia eingesetzt. !Geister !indigene Psychologie !Literatur J. H. Driberg (1936): The secular aspect of ancestor worship in Africa. Journal of the Royal African Society, 35; P. Frikel (1941, 1995): Die Seelenlehre der GÞge und Nagú. Brasilien Dialog, 3/4/95, S. 89 – 196; M. Fortes & G. Dieterlen (ed.s) (1965): African system of thought. Oxford; J. Elbein dos Santos (1976): Os nagú e a morte. Petropolis; dies. & D. M. Santos (1981): O culto dos ancestrais na Bahia: O culto dos Êgun. In: R. Bastide et al. (ed.), Akkulturation 47 Escritos sobre a religi¼o dos orixs. S¼o Paulo; H. Stubbe (1983): Verwitwung und Trauer im Kulturvergleich. Mannheim/Rio de Janeiro; ders. (1986/87): Tod, Trauer und Verwitwung in der brasilianischen Folklore. Staden Jahrbuch, 34/35, p. 11 – 29; J. Santana Braga (1990): Ancestralidade afro-brasileira. Em: J. Santana Braga (org.), Religi¼o e cidadania. Salvador : UFBa/EGBA, p. 11 – 28; N. Lopes (2006): Dicionrio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo Akkulturation Einführung: Unter A. versteht man den Wandel der Kultur einer ethnischen Gruppe oder auch eines Einzelnen durch Übernahme von Elementen aus einer fremden Kultur. Der Begriff A. wird häufig mit !Assimilation verwechselt. A. entsteht aus nachhaltigem Kontakt und mehr oder minder kontinuierlicher Interaktion zwischen kulturell verschiedenen Gruppen. Im Prozeß der A. werden Techniken, Gegenstände der materiellen Kultur, Verhaltens- und Erlebensmuster, Werte, Institutionen etc. übernommen und je nach den Bedingungen modifiziert oder angepasst. Aus dem A.sprozeß können durch Verschmelzen von Elementen aus beiden Systemen neue, eigenständige Kulturprodukte entstehen z. B. ein afrobras. religiöser Synkretismus. A. ist häufig ein selektiver Vorgang bei dem aus einer bestimmten Machtposition der dominanten Kultur nur bestimmte Kulturelemente übernommen, andere jedoch abgelehnt werden. A. kann mit Streß verbunden sein (akkulturativer Streß, s. u.). Der Akkulturationsprozeß kann in vier Richtungen (Formen) verlaufen: der Integration, der !Assimilation, der !Ausgrenzung bzw. der !Segregation (Ghettoisierung, Separation) und der Marginalisation. Kritiker werfen der A.forschung vor, daß sie das Ziel einer Assimilierung in die dominante euro-amerikanische Kultur propagiere und lehnen sie deshalb als ethnozentrisch ab. Akkulturativer Streß bei Afro-Amerikanern: Die A., besonders wenn sie abrupt verläuft, ist häufig mit Streß verbunden. Unter Streß wird hierbei n. H. Selye die Verletzung der Integrität des Organismus durch abnorme Belastungen vorwiegend der vegetativen Funktionen verstanden, die ein allgemeines Adaptationssyndrom des Leibes auslösen kann. In diesem Sinne kann akkulturativer Streß ein belastendes Erlebnis sein, das in Zusammenhang mit anderen Faktoren oder allein eine körperliche, psychische oder psychosomatische Krankheit zur Folge haben kann, wie bei Migranten als eine potentielle Risikogruppe oftmals zu beobachten ist. Die Life events-For- 48 A schung (z. B. mit der Holmes-Rahe-Skala) versucht akkulturativen Streß individuell messbar zu machen. J. W. Berry (1994) hat z. B. ein Modell des akkulurativen Streß entwickelt nach dem besonders die Situationen der Marginalisation und Segregation einer ethnischen Minorität einen stärkeren akkulturativen Streß bedeuten d. h. gesundheitliche Risiken darstellen. Faktoren, die das Verhältnis zwischen Akkulturation und Streß moderieren sind hiernach vor allem: – Die Art der Akkulturation: Integration, Assimilation, Separation, Marginalisation – Die Phase der Akkulturation: Kontakt, Konflikt, Krise, Adaptation – Die Ausrichtung der Bezugsgesellschaft: Multikulturalismus vs. Assimilationismus; !Vorurteil und !Diskriminierung – Die Charakteristika der akkulturierenden Gruppe: Alter, Status, soziale Unterstützung – Die Charakteristika des akkulturierenden Individuums: Schätzung (appraisal), Coping, Attitüden, Kontakt (vgl. Berry, 1994:213) Migranten und ethnische !Minderheiten sind oftmals einem stärkeren akkulturativen Streß unterworfen. So ist z. B. bekannt, daß die körperliche wie psychische !Gesundheit der Afro-Amerikaner und »Indianer« in den USA und Brasilien schlechter ist als die der Weißen (z. B. AIDS, Bluthochdruck, Suizide, Adipositas, !Alkoholismus etc.). Es besteht in der Forschung kein Zweifel, daß ein großer Teil des Problems mit der Armut der Afro-Amerikaner (damit verbunden schlechte Ernährung, hohes Maß an Gewalt, unzureichende Gesundheitfürsorge etc.) und einer Fülle von psychosozialen Belastungsfaktoren (z. B. Außenseiterstatus, Fremdheitsgefühl) zusammenhängt. In einer Studie über akkulturativen Streß bei Afro-Amerikanern unterschied Anderson (1991), sich auf das Streß-Modell von Richard S. Lazarus (1922 – 2002) stützend, drei allgemeine Kategorien von Stressoren: 1. Stressoren der Ebene 1 (chronisch). Hierunter fallen Stressoren wie !Rassismus, hohe Wohndichte, Lärmbelastung, schlechte Lebensbedingungen (daraus folgend eine höhere psychiatrische Hospitalisierungs-rate). 2. Stressoren der Ebene 2 (wichtige Lebensereignisse). Hierunter werden die Ereignisse verstanden, die auf der Life-Events-Skala von Holmes & Rahe aufgelistet sind. Soziökonomische Probleme gehören zu den wichtigsten Stressoren für Afro-Amerikaner. 3. Stressoren der Ebene 3 (tägliche Ereignisse, Mikrostressoren). Darunter sind alltägliche Ärgernisse, Verkehrsbeeinträchtigungen, unfreundliche Vorgesetzte, unerwünschte Telefonanrufe etc. zu verstehen. Anderson warnt jedoch davor, dieses Modell zu deterministisch zu interpretieren. Wie bei vielen Minoritätsgruppen gibt es auch bei den Afro-Amerikanern einen Zwang zur !Assimilation (die u. a. darin zum Ausdruck kommt, daß die weiße !Hautfarbe mit Überlegenheit gleichgesetzt wird Akkulturation 49 und Mittel zur Straffung des !Haares und zur Aufhellung der Haut eingesetzt werden; vgl. !Ethnoästhetik), während gleichzeitig Hemmnisse bestehen, von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert zu werden. Der akkulturative Streß kann auf allen Ebenen bestehen, wird jedoch meistens auf der Ebene des alltäglichen Ärgers wahrgenommen (vgl. Attributionen). Das Selbstwertgefühl der Angehörigen dieser !Minderheit kann hierunter beträchtlich leiden und der akkulturative Streß sich hierdurch verstärken. Williams & Anderson haben auch eine »Akkulturelle Streß-Skala« (Acculturative Stress Measure) entwickelt. Wie kann der akkulturative Streß abgebaut werden? Anderson betont die Veränderung potentiell belastender Umweltbedingungen und die Entwicklung effektiver Coping-Strategien (Bewältigungsstrategien d. h. Verhaltensweisen und Einstellungen, mit deren Hilfe belastende Situationen bewältigt werden können: z. B. Informationssuche, direkte Aktion, Aktionsaufschub, intrapsychische Verarbeitung, professionelle Hilfe, Sinnstiftung). Im Hinblick auf die Afro-Amerikaner wird herausgestellt, daß diese häufiger die !Religion und das !Gebet benutzen, um ihre emotionalen Reaktionen auf negative Situationen zu kontrollieren. Das Selbstwertgefühl kann auch durch die Schaffung einer positiven Identität mit der !»raÅa« verstärkt werden (z. B. »black is beautiful«, RastafariBewegung, Black-Muslims etc.), um der in der Gesellschaft vorherrschenden negativen !Stereotypen gegenüber den Afro-Amerikanern zu begegnen. Auch Formen der sozialen Unterstützung und gegenseitigen Hilfe (Mutualismus) wie sie in familiären, religiösen, sportlichen, kulturellen (vgl. Jazz), sozialen und politischen !Organisationen gelebt werden, können für Afro-Amerikaner wichtig sein und stressreduzierend wirken. Minoritäts- bzw. Migrantengruppen besitzen ihr eigenes Profil des akkulturativen Streß wie z. B. die »Latinos«, die asiatischen (Süd-)Amerikaner, die »Indianer« und Juden in den USA und in Brasilien. In Deutschland und Brasilien liegen bisher nur sehr vereinzelt systematische Studien über akkulturativen Stress und seine Auswirkungen auf die körperliche, soziale und seelische ! Gesundheit der Afrobrasilianer vor. !Favela !Gesellschaft !Migration !Minderheiten !Schönheitsoperationen E. Ozer (1986): Health status of minority women. Washington DC; US Department of Health and Human Services, Report of the secretary’s task force on black and minority health, vol. 1 – 8,1986; L. P. Anderson (1991): Acculturative stress: A theory of relevance to black Americans, Clin. Psychol. Review, 11, p. 685 – 702; W. J. Lonner & R. Malpass (1994): Psychology and culture. Boston; D. L. Sam & J. W. Berry (2006): The Cambridge Handbook of Acculturation. Cambridge; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen 50 A Alforria (arab. al-hurriiâ) Akt der Freilassung des Sklaven. Nei Lopes (2006:17) schreibt: »No Brasil, a alforria, conseguida por compra, doażo ou imposiżo legal, podia ser feita: por carta, no caso do escravo adulto que comprava ou recebia gratuitamente a liberdade; por testamento, na circunstncia de o escravo ser declarado manumisso no testamento do proprietrio falecido; de pia, quando a libertażo occoria no ato do batismo catûlico, mediante o pagamento, ao dono do escravo, de uma quantia previamente estipulada. Outra forma de concess¼o da alforria era a carta de liberdade condicional, na qual o outorgante estipulava a libertażo do escravo em data determinada, por exemplo, para depois do falecimento do proprietrio.« Die »carta de alforria« kann auch als ergiebige historische Quelle der Afrobrasilianistik genutzt werden (vgl. Queiroz Matoso, 1976; Gattiboni, 1990). Alaúr Scisnio (1997:21 f) hat die legislativen Aspekte der A. eingehend bearbeitet. !africanos livres !Sklaverei K. M. Queirûs Matoso (1976): A carta de alforria como fonte complementar para o estudo de m¼o obra escrava urbana (1819 – 1886): Em: C. Bala¦z & M. Buesco (ed.s), A moderna histûria econúmica. Rio de Janeiro; R. Gattiboni (1990): Cartas de alforria em Rio Grande (1874 – 79 e 1884 – 89). Estudos Iberoamericanos (Porto Alegre), 16(1/2), p. 117 – 136; A. E. Scisnio (1997): Dicionrio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicionrio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo Alkoholismus (auch: Trunksucht, alcoolismo) Einführung: Unter A. versteht man i.w. S. jeden über das sozial erlaubte Maß hinausgehenden Genuß von alkoholischen Getränken, einmalig oder dauernd, aus Gewohnheit oder in Form einer Sucht. Feuerlein (1989) betont, daß es außer den biologischen und psychologischen Sucht-Theorien gegenwärtig keine zusammenfassende oder gar eigenständige Theorie gesellschaftlicher Wurzeln des A. gibt. An soziokulturellen Einflüssen des A. lassen sich folgende aufzählen: 1. Einstellungen zum A.konsum. Hier werden üblicherweise 3 Grundeinstellungen unterschieden: Ritueller Konsum z. B. bei sakralen Handlungen, sozialkonvivialer Konsum z. B. tradierte Trinksitten, utilitaristischer Konsum z. B. zur Stimulation, Angstreduzierung, Enthemmung, Machtbefriedigung, aus hedonistischen oder geschmacklichen Gründen etc. In der strukturell-funktionalistischen Theorie werden vor allem die Spannungsreduktion, Ersatzbefriedigung, Alkoholismus (auch: Trunksucht, alcoolismo) 51 Untersozialisation bei mangelnden tragfähigen Primär- und Se-kundärbeziehungen, soziale Rollenkonflikte und Anomie hervorgehoben. 2. Regionale Unterschiede (»Kulturkreise«): Man unterscheidet vier Kulturformen des A.konsums bzw. -mißbrauchs: »Abstinenzkulturen« (z. B. islamische, hinduistische Gesellschaften), auf asketisch-puritanischen Auffassungen basierende »Ambivalenzkulturen« (z. B. Skandinavien, England, Kanada, USA), die seit der späten Kindheit an limitierten A.konsum gewöhnten »Permissivkulturen« (z. B. mediterrane Länder), die den Exzeß billigenden und den Rausch sozial akzeptierenden »Permissiv (funktions-gestörten) Kulturen« (z. B. Osteuropa, Russland, Südamerika). 3. »Griffnähe« der Alkoholgetränke: Sie reicht von dem totalen Alkoholverkaufsverbot (Prohibition) über ambivalenter zur permissiven Einstellung z. B. dem Ausschank in Werkkantinen sowie durch Automaten. 4. Sozialer Wandel und Wertewandel: Die Einstellungen zum Alkoholkonsum schwankten in den meisten Ländern im Laufe der Jahrhunderte zwischen der Verherrlichung und der völligen Verdammung vgl. Temperenzbewegung (D 1878), Prohibition (USA 1917): Wichtig sind in westlichen Industriegesellschaften außerdem die Alkohol-Sozialisation und En-kulturation, die Schichtzugehörigkeit, die Arbeitssituation, die Herkunftsfamilie, die Primärgruppen, Migration, Flüchtlingsschicksal, Arbeitslosigkeit, Nichtseßhaftigkeit, Emanzipation, Reizüberflutung, Konsumismus, Desintegration etc. (vgl. Feuerlein, 1989). Sowohl in Afrika als auch in (Süd-)Amerika (vgl. Trenk, 2000) wurde Alkohol von den Kolonisatoren gezielt eingesetzt, um die Kampfmoral und Widerstandskraft der unterworfenen Bevölkerung zu schwächen (vgl. Opium in China!) bzw. ihre Kultur und Gesellschaft zu zerstören. Z. B. konnten im südlichen Afrika die Kolonialsoldaten ihren spär-lichen Sold durch Alkoholverkaufslizenzen aufbessern. Die traditionellen Chiefs wandten sich häufig gegen diese Institution, was häufig zu Konflikten führte. Die Insel an der Mündung des Hudsonflusses, heute New York, erhielt den indianischen Namen »Manhattan« d. h. »Ort der Trunkenheit«, weil die Entdecker (H. Hudson, 1609) die lokalen »Indianer« mit Branntwein gefügig machten (Lokotsch, 1926). Auch der dt-bras. Ethnologe Nimuendajffl berichtet in seinen Briefen aus den 30er Jahren über die kulturvernichtende Wirkung des Alkohols bei den indianischen Ethnien Brasiliens im Zuge der Landbesetzungen durch die Neobrasilianer (mittels der »vendedores de cachaÅa«). Über die Kultur der Peb-kahk schreibt er z. B. am 30. 6. 1930 sie habe sich »wortwörtlich im Alkohol aufgelöst« (Welper, 2002:55, 56, 62). In der staatssozialistischen DDR wurden nach Paul Brieler (1992) »17 Millionen Menschen mit Alkohol ruhiggestellt«. 1988 konsumierte jeder der 17 Millionen DDR-Bürger durchschnittlich 143 Liter Bier, 12 Liter Wein oder Sekt und 16 Liter Spirituosen d. h. 24 Gramm reinen Alkohol pro Tag. Alkohol war die Droge Nummer eins in der DDR. Schätzzahlen für das Jahr 1989 gehen 52 A von bis zu 290.000 Alkoholabhängigen und bis zu 1.160.000 Alkoholmißbrauchern aus. Brieler hält den Alkohol für einen »Garant für die Existenz der DDR«. Einer von zehn Todesfällen in Europa ist auf den Konsum von Alkohol zurückzuführen. In Russland sterben z. B. jährlich 500.000 bis 700.000 Menschen an den Folgen des Alkoholkonsums. Die Hälfte der Todesfälle bei Männern zwischen 15 und 54 Jahren steht dort in direktem Zusammenhang mit exessivem Alkoholkonsum. Weltweit stirbt einer von 25 Menschen an den Folgen des Alkoholkonsums. Mehr als die Hälfte der Menschheit (vor allem in muslimen Ländern) lebte im Jahre 2009 abstinent. In vielen ökonomisch aufstrebenden Ländern wie z. B. Indien, China und Brasilien wird jedoch immer mehr getrunken mit allen damit verbunden gesundheitlichen Problemen (Leberzirrhose, Krebsarten, Herzkrankheiten, Verkehrsunfälle, Gewalt etc.). In Thailand trinken die Menschen z. B. heute 33mal mehr als noch vor 40 Jahren (vgl. Lancet, jun. 2009). In den beiden von G. Völger herausgegebenen reichbebilderten Bänden »Rausch und Realität« (1981) wird das Thema Alkohol in historischer und kulturvergleichender Sicht erschöpfend behandelt. Der Kölner Ethnologe Th. Schweizer kommt in seinem Aufsatz über »Alkoholkonsum im interkulturellen Vergleich« zu dem Ergebnis, daß Alkohol in unserer Kultur und auch weltweit eine der verbreitesten Drogen ist. Vier voneinander unabhängige Dimensionen des Gebrauchs von Alkohol haben sich kulturvergleichend als bedeutsam erwiesen: 1.die kulturelle Integriertheit des Alkoholkonsums, 2. Betrunkensein als Folge des Alkoholgenusses, 3. Aggressivität während des Trinkens, 4. Quantität des Alkoholkonsums (inkl. der Alkoholabhängigkeit). Wenn Alkohol in einer Kultur vorkommt, unterliegt sein Gebrauch meist Regeln und Normen. Kulturspezifisch sind neben der Herstellung von Alkohol, auch der Umgang mit Alkohol, sowie die Form des Betragens im Zustand des Berauschtseins. Ein erster Ansatz zur Beschreibung des Alkoholkonsums versucht diese Regeln explizit zu machen. Ein zweiter Ansatz möchte darüber hinaus die symbolischen Bezüge zu anderen kulturellen Bereichen bestimmen, die im Alkoholkonsum sichtbar werden wie z. B. Rang und Status, Zugehörigkeit zu Gruppen und zu sozialen Netzwerken. Angst, soziale Disorganisation, Kindheitstraumen und Machtlosigkeit sind einige der Gründe für den exzessiven Gebrauch von Alkohol in einer Kultur. Ohne Berücksichtigung des kulturellen Hintergrundes kann man weder den »normalen« noch den »exzessiven« Alkoholkonsum verstehen. In August Forel’s (1935) (des Schweizer Psychiaters und Begründers der internationlen Anti-Alkoholbewegung) Autobiografie »Rückblick auf mein Leben« finden sich interessante Ausführungen über seine eigene Abstinenz und den Beginn der internationalen Anti-Alkoholbewegung. In der Belletristik der sog. Dritten Welt existieren viele für die Kulturanthropologie aufschlußreiche Romane und Erzählungen, die das A.problem behandeln, wie z. B. »Recada« (Rückfall) des kapverdischen Schriftstellers Antûnio Aur¦lio Alkoholismus (auch: Trunksucht, alcoolismo) 53 GonÅalves (1901 – 1984). Auf die welthistorische Bedeutung des Alkohols macht Reichholf (2007:64) aufmerksam, wenn er schreibt: »Was jedoch in der amerikanisch-indianischen Bevölkerung die Krankheiten, denen sie hilflos ausgeliefert waren, nicht schafften, erledigte der Alkohol, das Feuerwasser. Kolumbus’ Inseln wurden zum Hauptquell eines teuflischen Gebräus, dessen Benennung in der deutschen Sprache zu Recht jener Buchstabe fehlt, der es in falscher Weise rühmen würde, der Rum. Zuckerrohr, ein uramerikanisches Gewächs, ist die Pflanze, aus der bald Alkohol in stärkster Form produziert wird. Mit dem Zucker bekommt die Alte Welt eines ihrer größten Übel aus der Neuen Welt, die dabei in Sklaverei blutet und leidet unter der Sucht nach Alkohol.« Cachaça in Brasilien: Die Etymologie des Wortes »cachaÅa« ist ungeklärt (vgl. da Cunha, 1982:133). Scisnio (1997:76) weist auf einen möglichen afrikan. Ursprung hin. Das Thema cachaÅa (Zuckerrohrschnaps) (auch: pinga, marafa, aguardente) wurde exhaustiv lexikalisch von dem Pernambukaner Mrio Souto Maior (1985) bearbeitet. 1927 heißt es z. B. in einem »folheto« in Recife: »Antigamente quem bebia Era o negro ou o mulato, Mas hoje gente de trato Bebe de noite e de dia, ..…………………..…» (zit. nach Souto Maior, 1985:19) Wir geben noch einige andere Beispiele: »beber« ist eine »obrigażo do pobre«, »banzeiro« bedeutet »meio embriagado«, »beijar o santo« bedeutet »ingerir bebida alcoûlica«, »esponja« gleich »cheio de cachaÅa«, »mulata« heißt ein Arguardente de Cana, !»mulata« und »mulatinha« dienen überhaupt als Euphemismen des cachaÅa, »Mata-Bicho« gleich »cachaÅa« (mata-bicho ist in Mosambik das Frühstück!), »Otim« Afrikanismus (nagú) für arguardente, »Omim-Fun-Fun« cachaÅa in den Candombl¦s von Bahia, »orogange« cachaÅa bei den afrobras. garimpeiros etc. Der Ethnomediziner Araffljo (1979) hat die Bedeutung der cachaÅa in der »medicina rfflstica« herausgearbeitet. Er schreibt: »A cachaÅa ¦ muito usada. Serve para esquentar, para esfriar, para abrir apetite, para as comidas gordurosas n¼o fazerem mal, para melhorar a voz, para matar as tristezas, afogar mgoas e saudades, para dar coragem para brigar, para evitar um resfriado. Al¦m destas h uma infinidade de usos e beneficios at¦ medicinais atribuidos cachaÅa.« (Araffljo, 1979:130). Jos¦ C. Curto (1999) betont die besondere Bedeutung der bras. cachaÅa im Sklavenhandel aus Luanda (Angola). 54 A Von Reisenden wurde immer wieder der (geförderte?) Alkoholabusus der Sklaven beobachet. »Sowohl in Afrika wie in Amerika wurde der Alkohol von den Kolonisatoren gezielt eingesetzt, um die Kampfmoral der unterdrückten Bevölkerung zu schwächen.« (Hoffmann, 1992:37; vgl. auch Welper, 2002:55ff; Stubbe, 2012:32). Octavio Ianni (1991:147) weist z. B. darauf hin, dass die »mscara de folha-de-flandres«, eine eiserne Gesichtsmaske, die den Mund verschloß, als !Strafe dazu diente die Sklaven von dem Alkoholismus, den Reisende wie z. B. Freyreiss immer wieder beobachteten (vgl. Freyreiss, 1968:99), zu befreien (vgl. hierzu auch Machado de Assis »conto« (Erzählung) »Pai contra m¼e«). !Anthropologie !Gesundheit !Maconha !Phytotherapie !Reiseberichte !Religion !Sklaverei !Strafen A. Seekirchner (1931): Der Alkohol in Afrika. In: Atlas Africanus, 8; A. Forel (1935): Rückblick auf mein Leben. Zürich; M. de Andrade (1944): Os eufemismos da cachaÅa. Hoje (SP), 75, 1 – 5, abril; A. A. GonÅalves (1947/48, 1993): Recada. Lisboa; G. Hartmann (1958): Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas. Berlin; A. Maynard Araffljo (1979): Medicina rfflstica. S¼o Paulo; G. Völger (Hrsg.) (1981): Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich. 2 Bd.e. Köln:Rautenstrauch Museum; W. Schivelbusch (1983): Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel. Frankfurt/M. (insbes. S: 159 – 214); M. Souto Maior (1985): CachaÅa. Recife; D. B. Heath (1987): Anthropology and alcohol studies. Current issues. Annual Review of Anthropology, 16; W. Feuerlein (1989): Alkohol-Mißbrauch und Abhängigkeit. Stuttgart; O. Ianni (1991): Ensaios de sociologia da cultura. Rio de Janeiro; P. Brieler (1992): Der Suff im Osten oder wie man 17 Millionen Menschen ruhigstellt. Psychologie Heute, S. 66ff; W. Pfeiffer (1992): Transkulturelle Psychiatrie. Stuttgart (2. Aufl); Kl. Hoffmann (1992): Psychiatrie in Afrika. Frankfurt/M.; J. C. Curto (1999): Vinho verso CachaÅa – A luta lusobrasileira pelo com¦rcio do lcool e de escravos em Luanda (1648 – 1703). Em: S. Pantoja & J. Fl. Sombra Saraiva (org.s), Angola e Brasil nas rotas do Atlntico do Sul. Rio de Janeiro, p. 69 – 126; M. Trenk (2000): Die Milch des weißen Mannes. Die Indianer Nordamerikas und der Alkohol. Berlin; W.-S. Tseng (2001): Handbook of cultural psychiatry. N.Y.; E. M. Welper (2002): Curt Unckel Nimuendajffl: um captulo alem¼o na tradiżo etnogrfica brasileira. Rio de Janeiro: Museu Nacional (PPGAS), 2002; J. H. Reichholf (2007): Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends. Frankfurt/M.; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen Amulett (lat. amuletum = Abwendungsmittel bei Plinius d.Ä.; arab. hammalat = Halsband) Mit geheimnisvoller Kraft/Macht geladene Gegenstände, die passiv als abwehrendes (apotropäisches) vorbeugendes Mittel vor Gefahren, Schaden, Krankheit, Verhexung etc. schützen sollen. Sie sind zu unterscheiden von dem im Sinne Amulett 55 eines Aneignungszauber wirkenden glück- oder erfolgbringenden Talisman (griech. t¦lesma = geweihter Gegenstand; arab. tilsaman = Zauberbilder). A. sind weltweit verbreitet und innerhalb aller Religionen vorhanden. In Viktor Hugos’s berühmten Mittelalter-Roman »Notre-Dame de Paris« (1832) sagt Esmeralda bezüglich ihres unter dem Mieder getragenen A.s folgende für alle A.e gültigen Sätze: »Rühre es nicht an! Es ist ein A. Du würdest dem Zauber schaden, oder der Zauber würde dir schaden.« A. werden besonders während kritischer Lebensabschnitte wie Geburt, Säuglingszeit etc.) oder zu bestimmten Anlässen wie Reise, Hochzeit) am Leib (oftmals verdeckt), in der Kleidung, aber auch unter dem Ehebett, an bestimmten Stellen des Hauses z. B. hinter der Tür oder im Auto befestigt. Im antiken Rom bekamen die Kinder kurz nach der Geburt eine Kapsel mit einem Amulett (bulla) um den Hals gehängt, die die Knaben bis zum Eintritt ins Mannesalter d. h. dem Anlegen der toga virilis mit 15 – 17 Jahren, und die Mädchen wohl bis zur Hochzeit trugen. In wohlhabenden Familien war die bulla eine runde oder herzförmige Kapsel aus Goldblech (bulla aurea), in einfachen Verhältnissen begnügte man sich mit einer Leder-Ausführung (bulla scortea) (vgl. Weeber, 2000). Das Abbild eines Gegenstandes kommt dem Gegenstand selber an Kraftwirkung gleich: runde Sönnchen oder sichelförmige Möndchen stellen den Träger unter den unmittelbaren Schutz der Sonnen- oder Mondgottheit. Koransprüche werden in kleinen Hüllen von Muslimen am Leibe getragen. Die A.anwendung spielt in der traditionellen Medizin in der Türkei eine bedeutsame Rolle. Der Glaube an die Djinnen, unsichtbare, übernatürliche, vorwiegend bösartige Krankheits-dämonen, aber auch an den !bösen Blick bestimmter neidischer Mitmenschen ist sehr verbreitet. Neben der Frömmigkeit, religiösen Sprüchen, !Gebeten, werden A. als die wirksamsten Schutzmittel gegen krankheitsverursachende und unglücksbringende Einflüsse. Die von berufenen Personen handgeschriebenen oder durch bestimmte Zaubersiegel abgestempelten Papierblätter werden umwickelt und in einem Schutzumschlag am Leib oberhalb der Gürtellinie getragen. Sie enthalten Wörter und Sätze aus dem Koran, neben Geheimzahlen, Zeichnungen, überlieferten Zaubermotiven, magischen Quadraten und nicht selten vom Träger selbst hergestellte und geheiligte Zeichen (vgl. Özek, 1994). Die Verwendung von A.en kann als eine autosuggestive kraftsteigenernde Maßnahme interpretiert werden und spielt in vielen Kulturen, so auch bei den Afrobrasilianern, im Gesundheitsverhalten eine bedeutende Rolle. !Abwehrmagie !Figa !Krankheitsvorstellungen !patu E. A. W. Budge (1961): Amulets and talismans; L. Hansmann & L. Kriss-Rettenbeck (1966): Amulett und Talisman. München; L. Hansmann (1977): Amulett und Talismann. Erscheinungsform und Geschichte. München; L. da Cmara Cascudo (1980): Dicionrio do Folclore Brasileiro. S¼o Paulo; A. & J. Knuf (1984): Amulette u. Talismane. Symbole des magischen Alltags. Köln; P. W. Schienerl (1992): Dämonenfurcht und böser Blick. Studien 56 A zum Amulettwesen. Aachen; M. Özek (1994): Traditionelle Heiler in Anatolien. Berlin; H. Stubbe (2012). Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; A. Epelboin et al. (2013): Un art secret: les ¦critures talismaniques de l’Afrique de l’Ouest. Catalogue. Paris Anthropologie (O. Casmann, 1594/96) Einführung: Die umfassende Wissenschaft vom Menschen. Der Begriff A. geht bis in die Zeit des Humanismus zurück: der protestantische Humanist Otto Casmann (1562 – 1607) publizierte ein Buch mit dem Titel »Psychologia anthropologica« (1594/96) und gilt als Begründer der philosophischen A. In Frankreich, den angelsächsischen und südamerikanischen Ländern ist A. zugleich Ethnologie (etnologia). In der dt. Wissenschaftsgeschichte unterscheidet man die »biologische A. (Physische, Somatische, Naturwissenschaftliche A.)«, die »philosophische A.«, die »religiöse A. (theologische A.)«, die »Kultur-A.« und die »Psychologische A.«. Die »neue A.« (H. G. Gadamer, 1972ff) beabsichtigte die Isolation der Fächer zu überwinden und eine Zusammenschau aller Strömungen (Biologie, Sozial-, Geistes- und Kulturwis-senschaften) zu bieten. In den USA umfasst die »Anthropology« vier Subdisziplinen: die »Cultural Anthropology« (wozu auch die »Psychological A.« gehört), die »Physical Anthropology«, die »Linguistics« und die »Archaeology«. »Die Begriffe Anthropologie und Kulturanthropologie im Boas’ Sinne konnten sich in Deutschland nicht durchsetzen – unter A. verstand man die hier so wichtig genommene Forschung über die Beziehung von Rasse und Kultur. Erst in den letzten Jahren ist der amer. Sprachgebrauch auf diesem Gebiet in den dt. Sprachraum zurückgekehrt.« (DTV-Atlas Ethnologie, 2005:11). In Brasilien wird »etnologia« weitgehend mit »antropologia« gleichgesetzt. Man spricht hier z. B. von »antropologia social« (Sozialanthropologie) (zur Geschichte der Ethnologie in Brasilien, vgl. Baldus, 1954, 1968, 1984; Carneiro da Cunha, 1986; CorrÞa, 1987; Stubbe, 2007, 2012:158 – 160). Die Anthropologie und die Afrobrasilianer: Nicht nur die bras. »Indianer«, sondern auch die Afrobrasilianer, !»negros« nannte man sie damals, waren (rassen-)anthropologisch »falsch vermessene Menschen« (Gould, 1999). In ihrer wertvollen historischen Arbeit über »O espectculo das raÅas. Cientistas, instituiÅþes e quest¼o racial no Brasil 1870 – 1930« hat Lilia K. M. Schwarcz (1993) diese Geschichte der physischen (Rassen-) Anthropologie in Brasilien gründlich aufgearbeitet. In diesem Zusammenhang Anthropologie (O. Casmann, 1594/96) 57 soll auch daran erinnert werden, dass sich zwei sehr einflußreiche frz. und usamer. Rassentheoretiker, nämlich Gobineau (1869) und Agassiz (1865/66), in Brasilien aufgehalten und darüber publiziert haben (vgl. Schemann, 1910:286; Raeders, 1997; Gould, 1999; Kümin, 2007). Gobineau charakterisiert z. B. die bras. Bevölkerung folgendermaßen: »Uma populażo toda mulata, com sangue viciado, esprito viciado e feia de meter medo« … »nenhum brasileiro ¦ de sangue puro; as combinaÅþes dos casamentos entre brancos, indgenas e negros multiplicaram-se a tal ponto que os matizes da carnażo s¼o infflmeros, e tudo isso produziu, nas classes baixas e nas altas, uma degenerescÞncia do mais triste aspecto.« (zit. nach Raeders, 1997:39) (vgl. !Reiseberichte) Cesare Lombroso (1836 – 1910) in Brasilien: Eine weitere Variante des europäischen Rassismus (vgl. z. B. Mosse, 1978; Saller, 1999) findet sich in Italien, das zwischen 1882 und 1900 sein afrikan. Kolonialreich aufbaut, in der damals sehr einflussreichen (auch in Brasilien rezipierten) kriminalanthropologischen und psychopathologische Schule um Cesare Lombroso (1836 – 1910). Lombrosos Konzeption stützte sich nicht nur auf die unbestimmte Behauptung, daß Verbrechen erblich sei, sondern auf eine besondere, auf anthropometrische Daten gestützte Evolutionstheorie, wonach Verbrecher und Verbrecherinnen (Prostituierte) eigentlich »Rückfälle der Evolution« (Atavismushypothese) seien. Lombroso vergleicht in rekapitulationstheoretischer Weise atavistische Verbrecher mit Tieren, Wilden und »Menschen niederer Rassen«. Das Kind ist für ihn ein vorgeschichtlicher Erwachsener, ein lebender Primitiver. Stephen Jay Gould hat in seiner lesenswerten Studie »Der falsch vermessene Mensch« (1999) die vielen Irrwege der quantifizierenden Rassen-Anthropologie und –Psychologie, auf der diese Konzeption basiert, bis in die Gegenwart klar herausgearbeitet. »Lombroso wagte sich auf das Gebiet der Ethnologie, um die Kriminalität als Normalverhalten unter tiefstehenden Völkern zu identifizieren. Er schrieb eine kleine Abhandlung (Lombroso, 1896) über das Volk der Dinka am oberen Nil. Darin sprach er von ihrer starken Tätowierung und ihrer hohen Schmerzschwelle – in der Pubertät werden ihnen die Schneidezähne mit einem Hammer ausgebrochen. Sie wiesen äffische Stigmata als normale Bestandteile ihrer Anatomie auf: ›Ihre Nase ist nicht nur abgeplattet, sondern dreiflügelig und ähnelt der von Affen.‹« (Gould, 1999:132) Diese kriminalanthropologischen Vorstellungen vom »degenerierten, angeborenen Verbrecher«, die mit der ital. Einwanderung nach Brasilien kamen (wie auch die ital. Freiheitsbewegung und der Anarchismus, vgl. z. B. Garibaldi), ließen sich leicht auf die !»negros« anwenden und haben lange Zeit nachgewirkt (vgl. Scisnio, 1997:108 – 110; Lopes, 2006:47 f).