Favelas,
Festas
und
Candomblé
Zum interkulturellen Austausch zwischen Afro-Brasilianern
und Touristen im Rahmen kultischer und profaner
Festveranstaltungen in Salvador da Bahia.
Inaugural-Dissertation
Zur Erlangung eines Dr. phil. des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaft II
der Freien Universität Berlin
Vorgelegt von: Christiane Pantke aus Gottmadingen
Tag der Disputatio: 12.12.1997
Erstgutachter: Prof. Dr. Hartmut Zinser
Zweitgutachter: Prof. Dr. Berthold Riese
Sonhe com um sonho
que ninguém sonhará
sonhe com um povo gêmeo síamês
que nenhuma fora pode seperar
que nasceu unido e
unido vai viver
(Milton Nascimento e Fernando Brant: Povo da Raça Brasil)
Träume einen Traum,
den noch niemand geträumt
Träume von einem Volk, das, wie siamesische Zwillinge,
nichts auseinanderbringen kann,
gemeinsam geboren und
verbunden weiterleben wird.
1
Einleitung ...................................................................................................... 1
1.1.1.1...................................... Vorgehensweise und Methodik4
1.2 Theoretische Ansätze und Auseinandersetzungen ...........................6
1.2.1.1.1 ..................................... Literatur zum Tourismus:7
1.2.1.1.2Ethnologische und soziologische Literatur zum
Tourismus ..................................................................7
1.2.1.1.3 .................................... Literatur zu Reisemotiven9
1.2.1.1.4 ... Literatur zur afro-brasilianischen Kultur und Religion10
1.2.1.1.5 .......................................................Belletristik12
1.3 Methoden der Feldforschung: Interviews und teilnehmende
Beobachtung ......................................................................... 13
1.3.1.1.1 .Interviews mit der Bevölkerung zum Thema Tourismus;
Fragestellungen, Problemstellungen, Ergebnisse.................. 14
1.4 Probleme der Feldforschung, der Rolle als Forscherin ................... 18
2
Kultur und Geschichte Brasiliens................................................................. 22
2.1 Entdeckung, Eroberung und Ausbeutung als Motive des frühen Reisens 23
2.1.1 .................................................................... Missionare25
2.2 Die verharmlosende Geschichtsschreibung und die grausame Realität 28
2.3 Brasiliens Reichtum: Schwarzes Elfenbein statt Gold..................... 29
2.4 Stolz und Schandmal der Geschichte Brasiliens............................ 33
2.5 Die Stärke des schwarzen Manns - Freiheitsbewegungen: die quilombos
36
2.6 Liberdade- der klägliche Anfang.............................................. 38
2.7 Liberdade II - die klägliche Gegenwart...................................... 41
2.8 Branqueamento - Weißwerdungsprozeß..................................... 43
2.8.1 Die sozio-ökonomische Situation nach Abschaffung der Sklaverei in
Brasilien .......................................................................... 45
I
2.8.2 .......................... Die Problematik des Weißwerdungsprozesses48
2.9 Religionen und Religionsgeschichte Brasiliens: ............................ 49
2.9.1 ...... Das Zusammentreffen der Religionen und die sich wandelnde
Bedeutung des Katholizismus in Brasilien................................... 49
2.9.2 ......................Einführung in die afro-brasilianischen Religionen54
2.9.3 ...................... Candomblé - Mutter des schwarzen Bewußtseins59
2.9.4 ............................... Der Erschaffer der Welt und seine Kinder63
2.9.5 ....................................................Das Pantheon der orixás68
2.9.5.1.....................Oxalá, weiser Vater, Schöpfer der Menschen70
2.9.5.2... Yemanjá, die schöne Göttin des Meeres, Mutter der Fische71
2.9.5.3... Oxóssi, der wendige Krieger des Waldes und Gott der Jagd72
2.9.5.4............ Ogum, der wilde Gott des Krieges und des Kampfes73
2.9.5.5Oxum, die sinnliche Göttin der Flüsse und der stillen
Gewässer ..................................................................... 73
2.9.5.6......................Xangô, der Herrscher über Donner und Blitz74
2.9.5.7.... Omolu, der gefährliche Gott der Pocken, Krankheiten und
des Wohlergehens .......................................................... 76
2.9.5.8.................................... Exú: Der listige Hüter der Wege77
2.9.5.9..............................Yansã, die wilde Kriegerin der Winde78
2.9.5.10 ....... Ossâim, Gott der heiligen und medizinischen Pflanzen79
2.9.5.11 ........................Oxumaré, Gott der Regenbogenschlange80
2.9.5.12 .....................Nanã Buruku, die alte Göttin der Gewässer81
2.9.6 ....................................... Caboclos - die Besitzer des Landes81
2.9.7 ..........................................Candomblé-terreiros in Salvador82
2.9.8 ..................................................... Die candomblé-Familie85
2.9.9 ....................... Die orixás manifestieren sich: candomblé-Feste88
2.9.10 .......................Andere Aufgaben der candomblé-Priesterinnen94
II
2.9.11 ......................................... Stellung der Frau im candomblé95
2.9.12 ............ Gesellschaftliche, soziale, religiöse und therapeutische
Funktionen des candomblés................................................... 98
2.9.12.1.1 ....... Die sozialen Funktionen der Wahlfamilienbildung98
2.9.12.1.2 ....... Therapeutische Funktionen der Identifizierungen99
2.9.12.1.3 .........Konfliktlösungen und Vermeidungen, Macht und
Ohnmacht ............................................................... 100
2.9.12.1.4 ..................................................... Sinnlichkeit102
2.9.12.1.5 ................................................... Projektionen103
2.9.13 ................................................ Candomblé und Rassismus105
2.9.14 .....................................................................Umbanda108
2.9.15 .................................................................. Quimbanda114
2.9.16 ................................................ Messianische Bewegungen115
2.9.17 ........................................ Die evangelischen Pfingstkirchen116
2.9.18 ......................................... Der brasilianischen Kardezismus118
2.9.18.1 ......................................... Kardezistische Kosmologie119
2.9.18.2 ........Kardeks Doktrinen und deren Werdegang in Brasilien.119
2.9.18.3 ........................ Kardezistische Praktiken in den Zentren123
2.9.18.4 ................................. Salvadors kardezistische Zentren125
2.9.18.5 . Beschreibung der Motive der teilnehmenden Mitglieder bei
den Kardezisten ............................................................ 127
2.9.18.6 ............................................. Motive der Kardezisten131
2.9.19 ................... Die Motive der Teilnehmer bei den verschiedenen
Religionsgruppierungen ....................................................... 136
3
Gäste ......................................................................................................... 140
3.1.1 ........................ Veränderungen der Altstadt für den Tourismus140
3.1.2 ................................................................. Auf Tour sein143
III
3.1.3 .............................................................. Am heiligen Ort146
3.1.3.1.1 ................................................Massentourismus147
3.1.3.2.............Motive der Touristen für die Wahl dieses Reiseziels149
3.2 Das Spannungsfeld: Begegnungen zwischen Gästen and Gastgebern .. 151
3.2.1.1. Gesellschaftlicher Rollentausch: vom Bettelmann zum König156
3.2.1.2Jäger und Gejagte: Der Tourist als Wild im
Großstadtdschungel ....................................................... 158
3.2.1.3...Die Grenzen des Verstehens: Wechselseitiges Mißverstehen
zwischen Gästen und Gastgebern ....................................... 160
3.2.1.4 Freizeitverhalten als Respektlosigkeit vor der anderen Kultur161
3.3 Tropikale Erlebnisse ........................................................... 163
3.3.1.1............. Geschlechterverhaltenscodices und -Konventionen165
3.3.1.1.1Das Bild der Frau und die Anziehung der schwarzen Haut166
3.3.1.1.2 ........ Beispiele aus Kontaktebenen: Tourist und baiano172
3.3.1.1.3 ............................ Ausnahmezustand auf der Straße174
3.3.1.2........... „o jeito baiano de ser- was einen baiano ausmacht“176
3.3.1.2.1 ............... „Rezept für die Zubereitung eines baianos:178
3.3.1.2.2 ................................. Gegenseitige Idealisierungen179
4 Beschreibung von traditionellen und modernen, religiösen und weltlichen
öffentlichen Festveranstaltungen ....................................................................... 180
4.1.1.1....................... Die Stärke der schwarzen Frau - Boa Morte200
4.1.1.1.1 ...................................... Festa da Boa Morte 1995211
4.1.2 ...................................Interpretation des Festa da Boa Morte214
4.1.3 ........................ Festa de Yemanjá / Lavagem do Rio Vermelho216
4.1.4 .................Interpretationen der durch den Tourismus bedingten
Veränderungen des Festes.................................................... 219
4.2 Karneval: Das Paradies ist Karneval ........................................ 220
IV
4.3 Festvorbereitungen zum Karneval .......................................... 220
4.3.1.1................................................................... Afoxés223
4.3.1.2..............................................................Blocos afro224
4.4 Probleme im Karneval......................................................... 226
4.5 Die Woche der Sinnenfreuden ............................................... 228
4.6 Tag und Nacht .................................................................. 230
4.7 Filhos de Gandhi ............................................................... 233
4.8 Ilê Aiyê .......................................................................... 234
4.9 Eigen- und Fremdinterpretationen.......................................... 236
4.10 Tourismus und Karneval.................................................... 237
4.11 Wallfahrten zum Karneval ................................................. 242
4.12 Samba, die Verbindung der Gegensätze................................. 242
4.12.1 ..................................................... Gesänge für die Seele247
4.13 Capoeira: Kampf und Tanz ................................................ 249
4.13.1 ...................................... Solidarität mit den Unterdrückten255
4.14 Reisen und Ekstase.......................................................... 257
4.15 Candomblé und touristisches Spektakel ................................. 259
4.15.1 .... Zur Kommerzialisierung des candomblés und Einschätzung der
beobachteten Veränderungen ............................................... 260
4.15.2 ......................................... Folklorisierung durch Tourismus268
4.15.2.1 ......................Brasilien exportiert mehr Musik als Kaffee276
4.15.3 ............. Professionalisierung der afro-brasilianischen religiösen
Spezialisten und Künstler..................................................... 277
5
Ausblick .................................................................................................... 278
6
Literatur .................................................................................................... 286
7
Glossar....................................................................................................... 304
V
VI
1 Einleitung
Die vorliegende Arbeit untersucht die Formen und die Bedeutung des Tourismus als kulturverändernden Faktor für die baianische Bevölkerung. Die Untersuchung basiert auf einer aktuellen Bestandsaufnahme gegenwärtiger kultischreligiöser und profaner Feste in Salvador da Bahia, Brasilien und dem näheren
Umland. In diesem Zusammenhang wurden nicht nur die Motive der Bevölkerung, sondern auch die Bedürfnisse der Touristen nach “ekstatischen”, nichtalltäglichen Reiseerlebnissen analysiert.1 Meine These ist, daß aktuelle Veränderungen der Feste und auch der Identität der daran teilnehmenden Bevölkerung durch den Tourismus bedingt sind.
Zu diesem Komplex in seiner Gesamtheit sowie den damit einhergehenden Formen des interkulturellen Austausches in Salvador existierten bislang
keine Studien. Keine der bislang existierenden Untersuchungen berücksichtigt
Tourismus und Kulturwandel.
Die Gründe dafür sind zum einen, daß Tourismus in der aktuellen Form
in Salvador erst seit wenigen Jahren existiert. Zum anderen ist Tourismus offensichtlich ein unbeliebtes Thema, wie die Reaktionen auf meine Forschungen sowohl von Seiten der Bevölkerung, von Touristen als auch von baianischen Sozialwissenschaftlern zeigten. Viele waren nicht gewillt, sich mit dem
Thema auseinanderzusetzen, da sie selbst mit dem Tourismus verknüpft waren
und hierzu existierende Abhängigkeiten und Motive verbergen wollten.
Pierre Verger, Ethnologe, Historiker und candomblé-Priester in Salvador
z.B., reagierte in einem persönlichen Gespräch mit mir am extremsten, indem
er argumentierte, Tourismus sei für ihn nicht existent, man könne daran vorbeischauen. Wenn man einem unliebsamen Phänomen zuviel Aufmerksamkeit
schenken würde, begegne es einem auch überall.
Dies mag für manche Wissenschaftler möglich sein, es bedeutet aber,
auf die aktuelle Situation mit Scheuklappen zu reagieren und Reflexionen zu
vernachlässigen. Auch ich hätte gerne nur die exotische andere Kultur betrachtet. In der jetzigen Realität in Salvador begegnen sich jedoch afrobaianische Kultur und Touristen permanent, Tag für Tag, mindestens für die
Hälfte des Jahres, für die Zeitspanne des brasilianischen Sommers.
Meine Forschung beleuchtet aktuelle Phänomene der afrobrasilianischen Kultur. Dazu mußte die afro-brasilianische Religion in ihrem
Verhältnis zur baianischen Gesellschaft2 analysiert werden. Ausgangspunkt
dazu waren Fallbeispiele einzelner Individuen beider Kulturen, die miteinander agierten. Aus der Analyse ihrer Verhaltensweisen, ihrer geheimen Wün1
Der Frage nach dem kulturverändernden Einfluß des nationalen Tourismus aus dem reicheren
Süden Brasiliens kann im Rahmen dieser Arbeit nur am Rande nachgegangen werden.
2
Gesellschaft ist eine organisierte Gesamtheit von Menschen, die in einem gemeinsamen Gebiet
zusammenleben, zur Befriedigung ihrer sozialen Grundbedürfnisse in Gruppen zusammenarbeiten, sich zu einer gemeinsamen Kultur bekennen und als eigenständige soziale Einheit
funktionieren (Markefka 1990:3).
1
sche, Hoffnungen und Verdrängungen wurde ihr Verhältnis zu ihrer jeweiligen
eigenen Kultur beleuchtet. Der Kontakt zweier Gruppen aus zwei verschiedenen Kulturen könnte ebenfalls zur Reflexion über beide führen.
Das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft war unabdingbarer
Bestandteil dieser Studie. Reisemotive und Motive für Begegnungen zwischen
Touristen und Bevölkerung wurden beleuchtet, um zu klären, ob es sinnvoll
ist, von Akkulturation3 zu sprechen.
Im Zentrum meiner Arbeit standen die profanen und religiösen Feste
der afro-brasilianischen Bevölkerung mit “ekstatischem Charakter”,4 an denen
auch Weiße teilnehmen. Das faktisch steigende Interesse westlicher Touristen
an diesen Festen führte zu einer Reihe von Veränderungen der traditionellen
Strukturen der Feste. Das Phänomen des Tourismus in Salvador ist hochaktuell, wie nicht zuletzt die Zunahme der Reiseangebote und Nachfrage und die
Anwesenheit der vielen Touristen zeigen. Folgende Fragestellungen habe ich
behandelt, die in der aktuellen Forschung bislang noch keine Beachtung fanden.
♦ Wie verändern sich diese Feste und das Selbstverständnis der Afro-Bahianer zu diesem wesentlichen Merkmal ihrer Kultur?
♦ Warum suchen westliche Touristen ekstatische Erlebnisse außerhalb ihres kulturellen
Milieus? Welche Bedeutung haben die Festveranstaltungen für sie?
3
Als Akkulturation wird ein Kulturwandel bezeichnet, der sich aus kulturellen Kontakten verschiedener beteiligter Gruppen ergibt, wobei gegenseitige Beeinflussungen stattfinden, die
sich nachhaltig auswirken können und kulturverändernd wirksam sind. Wandlungsvorgänge
können in ein und demselben Kulturbereich vonstatten gehen, jedoch ebenfalls andere davon
unabhängige Bereiche und Personen, ihr Verhalten, ihre Einstellung sowie ihren Lebensstil
betreffen. Vgl.: Hirschberg (1988:276). Szalay (1981:261ff.) mahnt eine Revision des Begriffs der Akkulturation an, da sich das Phänomen des Kulturwandels durch Kulturkontakt eher
in den „Begriffen von Macht und Herrschaft“ beschreiben lasse als mit dem „Begriff Kultur“.
Zurückgehend auf Wolf (1970) weist Szalay auf das Fehlen „erschöpfender Studien über den
Sklavenhandel,...über freiwillige und erzwungene Akkulturation...“ hin. In Salvador treffen in
diesem Zusammenhang an sich nicht eine dominante und eine untergeordnete Kultur zusammen; sondern unverbindliche Touristen, die wieder abreisen, begegnen hier hauptsächlich den
Afro-Bahianern. Jedoch kann man Touristen zu Trägern der dominanten und die Afrobahianos zu Mitgliedern der untergeordneten Kultur zählen.
4
Die theoretische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ekstasetheorien ist Bestandteil
meiner Arbeit. Dabei gilt mein Interesse ebenfalls der Auffassung des Begriffs von touristischer Seite. Ekstase: griechisch: ékstasis - außer-sich-sein. Unter den Begriff der Ekstase werden verschiedene geistige und körperliche Zustände subsumiert, die nicht nur religiös gedeutete Phänomene sind (Zinser 1990).
Die soziologische Interpretation ekstatischer Religionsformen von I.M. Lewis (1989) bietet
für meine Analyse wichtige Vergleichsmöglichkeiten.
Ich gebrauche das Wort Ekstase "außer-sich-sein", nicht nur als Zustandsbeschreibung unkontrollierter und unbewußter körperlicher und geistiger Zustände wie z.B. während der Besessenheit durch einen Geist im Rahmen eines religiösen Rituals, sondern auch als Beschreibung
außer-alltäglicher Zustände, wie sie bei Festen anzutreffen sind. Nicht nur durch Alkohol- und
Rauschmittelkonsum, sondern vor allem inspiriert durch Trommeln und Gesänge, verändert
sich das Verhalten der Festteilnehmer, Einheimischer wie Touristen, in außer-alltägliches,
freudiges, stundenlanges Tanzen, gepaart mit einer außergewöhnlichen Ausgelassenheit. Beschrieben werden diese Erlebnisse von den Teilnehmern als "ekstatisch", "wahnsinnig", "unbeschreiblich", "phantastisch", "tranceartig" etc.
2
♦ Erfolgt in Salvador nach der kolonialen Enteignung nun eine kulturelle durch die
Touristen? Treffen sich heutzutage Tourist und „moderner Wilder“, der schon lange
kein Gold mehr besitzt und dessen Ahnen Sklaven waren? Sind nicht heute die Magie der Trommeln, die Ekstase des Tanzes, die naturgewaltigen Götter, die mães-desanto und die immerwährende exotische Sinnlichkeit die aktuellen Reichtümer des
„modernen Wilden“, die jetzt von Touristen erobert werden wollen?
♦ Haben sich positive Bewertungen zu den verschiedenen Kontaktebenen und Berührungspunkten zwischen Tourist und baiano (port.: Bahianer; Personen aus der baianischen Bevölkerung) herauskristallisiert, welche signifizieren, daß das Phänomen
des Tourismus in Salvador eine aufwertende Komponente beinhaltet?
♦ Setzen sich aktuell die unterdrückte Bevölkerungsgruppe der Afro-Brasilianer kritisch mit ihrer Stellung innerhalb ihrer Gesellschaft auseinander?
♦ Wie stellt sich das Verhältnis der Bahia–Touristen zu ihrer eigenen Gesellschaft dar?
♦ Dabei stellte sich zum einen die Frage, warum Touristen kulturelle Defizite und
emotionale Bedürfnisse, die sie unter dem Deckmantel der Religiosität ausagieren
und zum anderen, warum sie diese Bedürfnisse nicht innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft, sondern in einer exotischer Umgebung zu befriedigen suchen.
♦ Was fasziniert an Bahia, für das u.a. mit dem Wort „Magie“ geworben wird? Wird
nicht Religion dabei als Konsumprodukt eingesetzt?
♦ Warum wird derzeit Bahia von Touristen besonders ekstatisch erlebt, und was bedeutet das im Verhältnis zu ihrer Gesellschaft sowie für die baianische Gesellschaft?
Welchen Stellenwert nimmt in Bahia die Religion ein, welche als ekstatisch, magisch
etc. beschrieben wird?
♦ Hat Tourismus Einfluß auf die Aufwertung einer sonst als marginal betrachteten
Kultur innerhalb einer Gesellschaft mit anderen dominanten Machthabern, d.h. auf
die afro-baianische? Wie schlägt die positive Nachfrage vom Ausland auf die afrobrasilianische Kultur in Bahia zurück? Was verändert sich dadurch tatsächlich, und
gibt es faktisch langfristige Auswirkungen? Ist alles nur durch kommerzielle Bedürfnisse erfundener Schein? Was verkauft sich als ein „als ob“? Sind Touristen auch
Opfer der Tourismusindustrie?
♦ Die Frage, in welcher Form ein interkultureller Austausch zwischen baianischen
Festteilnehmern und Touristen besteht und wie er auf beiden Seiten die Identität verändert, wird ausführlich behandelt werden.
♦ Ebenso stellte sich die Frage, ob eine Zukunftsperspektive eröffnet werden kann, die
praxisbezogen nützlich sein könnte, um Reibungspunkte zwischen Tourismus und
afro-brasilianischer Kultur bzw. den Menschen, die sich begegnen, abzuschwächen
und z.B. ein besseres Verständnis für die besuchte Kultur, zu fördern.
Danksagungen
Diese Arbeit wurde zum größten Teil durch Stipendien der NaFöG, der Frauenforschung der FU Berlin sowie des Deutschen Akademischen Austauschdienstes
(DAAD) ermöglicht, denen ich großen Dank schulde.
Weiterhin möchte ich meinem Doktorvater Prof. Hartmut Zinser für seine ausdauernde und inspirative Betreuung, meinem Zweitgutachter Prof. Bert3
Berthold Riese für sein Engagement sowie Prof. Georg Pfeffer, Prof. Bernd
Rabehl und Dr. Lukas Werth für ihre Mitarbeit bei der Prüfung herzlich danken.
Für ihre inhaltliche und humorvolle Unterstützung danke ich herzlich
meinem Lebensgefährten Roland Kling, Dr. Ute Röschenthaler, Lúcia Maria
Lima-Schwarz, Katja Wolf, Mónica Maraccini und Ralph Gregorio Küpper. Für
die Durchsicht des Manuskriptes danke ich Dr. Christina Boerner, Dr. Bruno
Boerner, Frau Siegrid Werner und Carola Bubach. Tatkräftige Unterstützung
leisteten Matthias Höppner-Fidus bei der Erstellung des Photo-Teils der Arbeit
sowie Hubertus A. Röttgen bei den technischen Problemen auf der Zielgeraden. Zudem danke ich meiner Freundin Ariane Ehinger sowie Yong-Ae PrinzChon für ihre liebevolle Unterstützung bei der Vollendung dieser Arbeit.
Aus Salvador da Bahia danke ich herzlich Júlio Braga und Jefferson Bacelar am Institut „Centro de Estudos Afro-Orientais“5 sowie Prof. Carlos Alberto Caroso Soarez und Claudio Perreira am „Mestrado em Sociologia e em Anthropologia“.6 Für ihre freundschaftliche Unterstützung danke ich Hermano
Santos da Boa Morte, Lucia Garcia und ihrer gastfreundlichen Familie, Regina
Santos, Darika Fusi, Mestre Bamba, Carlos Sampaio-Nascimento u.v.a. mehr.
All meinen „formellen und informellen Informanten“, die in meiner Arbeit
nicht namentlich erwähnt werden, sei herzlich gedankt.
Ich danke meinen Eltern Friedl und Alfred Pantke für ihre Hilfe. Großer
Dank gilt meinem Sohn Carlos L. Angelo, der verhinderte, daß ich das Lachen
verlernte und dafür, daß er bei der Fertigstellung der Arbeit nicht sämtliche
Papiere aufgegessen hat.
1.1.1.1 Vorgehensweise und Methodik
Zur Durchführung der Studie wurden zwischen 1992 und 1996 fünf Feldforschungen über die Zeitdauer von insgesamt einem Jahr und drei Monaten
durchgeführt. Die ethnographische Beschreibung baianischer Feste unter den
Aspekten der zentralen Fragestellungen war Teil der analytischen Arbeit. Neben der Methode der teilnehmenden Beobachtung bildeten formelle und informelle Interviews mit Personen aus der baianischen Bevölkerung und Touristen in Brasilien und Deutschland die Ausgangsbasis für die Fallstudie.
In fünf Feldforschungsphasen über vier Jahre konnten relevante Langzeitinterviews durchgeführt werden. In Deutschland wurden Interviews mit
Touristen und hier lebenden baianischen Künstlern geführt, Reiseannoncen
recherchiert, historische Studien zu Motiven früherer Reisender durchgeführt
sowie relevante Theorien zum Thema analysiert.
Besonders wichtig für die Studie erwies sich, die Touristen nicht nur im
Ferienland, sondern auch später im heimatlichen Alltag zu interviewen. Zu-
5
6
Zentrum für afro-orientalische Studien
Fakultät für Soziologie und Ethnologie
4
dem befragte ich viele Personen, die der baianischen Bevölkerung angehören,
wie sie Touristen erleben und sich deren Alltag und Reisemotive vorstellen
und dies in ihre Erfahrungen einordnen.
Noch war es für mich möglich, durch Vergleiche zwischen öffentlichen,
den Touristen zugänglichen und nichtöffentlichen Veranstaltungen, durch
Stadt/Landvergleiche und Interviews Unterschiede zu erfassen. Indem ich
selbst Salvador vor ein paar Jahren mit noch wenigen Touristen erlebt habe,
konnte ich deutlich die Unterschiede zwischen früher und heute erkennen.
Rapide Veränderungen, wie sie durch den “Esoterik-, Ethno- und Abenteuertourismus” bedingt sind, führten zu Wert- und Ausdrucksverschiebungen
bei den betroffenen Bevölkerungsgruppen. Salvador wirbt seit 1994 verstärkt
und erfolgreich für mehr Tourismus.
Die ethnologische Feldforschung gründete auf der Methode der teilnehmenden Beobachtung.7 Das Sammeln der Informationen erfolgte durch
Teilnahme an und Beobachtung von kultisch-religiösen und profanen Veranstaltungen, ferner durch formelle und informelle Gespräche, Interviews mit
teilstandardisierter Fragestellung. Die folgenden Zielgruppen und –personen
wurden erfaßt:
♦ Festteilnehmer: Individuen aus allen Bevölkerungsschichten, Familien und spezielle
Interessenverbände (z.B. blocos afro) aus Bahia.
♦ Künstler und Künstlerinnen: dazu gehören z.B. Musiker und Tänzer der blocos afro,
capoeiristas sowie darstellende und bildende Künstler.
♦ Religiöse Spezialisten (mães-de-santo und pães-de-santo)8 und ihre Gehilfen.
♦ Veranstalter von Festen (z.B. Karnevalsleitung).
♦ Mitarbeiter der Tourismusagenturen (z.B. Bahiatursa).
♦ Universitätsangehörige (Afro-orientalisches Institut, ethnologisches und soziologisches Institut).
♦ Touristen beiderlei Geschlechts, vorwiegend aus Europa; Pauschal- und Individualtouristen.
Bei meinen Fragestellungen wurden das Verhältnis zwischen Ekstasekulten und Gesellschaft (Lewis 1989) sowie die bewußten und unbewußten Identitätsprozesse in den Individuen und sozialen Gruppen berücksichtigt (Bosse
1984).
Der Gebrauch von Photokamera, Tonband- und Videogerät ergänzte die
ethnographische Dokumentation. Für die Analyse von politischen Repräsentanten sowie anderer Meinungsbildern zum Thema boten sich als Quellen die öffentlichen Medien in Salvador an: Radio, Fernsehen, Zeitschriften und Tageszeitungen. Bibliotheken und Archive in Salvador da Bahia und andernorts wur-
7
8
Vgl.: Fischer 1985.
(port.) Mutter des Heiligen; Vater des Heiligen, candomblé-Priesterinnen und -Priester.
5
den in die Forschungsarbeit einbezogen, um anhand vorhandener empirischen
und historischen Studien Veränderungsprozesse zu analysieren.
Durch die Teilnahme am baianischen Festzyklus vor der Fastenzeit, von
jeweils Januar bis einschließlich März, an den profanen und religiösen Festen
in der Stadt und auch im Hinterland ergaben sich relevante Aufschlüsse hinsichtlich der Unterscheidung von traditioneller ländlicher und moderner urbaner Kultur. Besonderes Augenmerk lenkte ich auf candomblé-Rituale, orixáFeste,9 katholische Feste, Weihungen (lavagens), Karneval, capoeira, maculelê, samba da roda, Feste der blocos afro und katholische Feste, z.B. Ostern.
Der hierdurch gewonnene Überblick über Formen von Festen mit und ohne
Touristen, trug in entscheidender Weise zur Endanalyse bei.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich folgendermaßen:
Als erstes gebe ich eine kritische Übersicht über die von mir verwendete Literatur. Danach berichte ich über Methoden und Problematik der Feldforschung.
Dann folgt ein Überblick über Kultur und Geschichte des Landes und
damit einhergehend die Motive der ersten Reisenden nach Brasilien und Bahia.
Zudem richtet sich mein Augenmerk auf die verschiedenen Religionen in Bahia, wobei ich dem Candomblé die meiste Aufmerksamkeit widme, da er heute im Brennpunkt des touristischen Interesses steht. Außerdem diskutiere und
analysiere ich Motive und Bedürfnisse der Teilnehmer an den verschiedenen
Religionen.
Kapitel drei bildet den Schwerpunkt der Arbeit. Es beschäftigt sich mit
dem gegenwärtigen Tourismus und den aktuellen Motiven und Bedürfnissen
heutiger Reisender sowie dem Zusammentreffen und den Interaktionen zwischen der baianischen Bevölkerung, vorwiegend Afro-Brasilianern, und den
Touristen.
Verschiedene Festtypen, inklusive Karneval und öffentlichen Veranstaltungen und den hier stattfindenden Begegnungen zwischen Tourist und baiano
werden im darauffolgenden Kapitel beschrieben und analysiert.
Kapitel fünf dieser Arbeit widmet sich der Auswertung und Analyse
meiner Thesen, Materialsammlung und Beobachtungen.
1.2 Theoretische Ansätze und Auseinandersetzungen
Relevante Literatur zum Thema kann in folgende Kategorien gegliedert werden: wissenschaftliche Literatur zum Tourismus, ethnologische und soziologische Studien dazu, zu Reisemotiven, zur afro-brasilianischen Kultur und Religion sowie baianische Belletristik.
9
Yoruba-Gottheiten des candomblé und umbanda, denen spezielle Feste gewidmet sind.
6
1.2.1.1.1
Literatur zum Tourismus:
Da sich meine Untersuchung mit dem Thema Tourismus bzw. Veränderungen
durch Tourismus in Salvador sowohl mit den verschiedenen sichtbaren als auch
verborgenen Aspekten des kulturellen Austauschs, mit den Kommerzialisierungsproblematiken „ethnischer“ Berufe wie z.B. der candomblé-Priesterinnen
sowie den unterschiedlichen Bedürfnislagen der Touristen und der vielschichtigen Bevölkerung auseinandersetzt, ist folgende Literatur10 für den hier
zugrundeliegenden theoretischen Ansatz von Bedeutung:
Es existieren diverse Touristenführer in allen europäischen Sprachen
(siehe Literaturliste), welche fast durchgängig Kultur und Bevölkerung oberflächlich beleuchten und vorwiegend Hinweise zum Vergnügungs- und sightseeing-Aspekt bieten. Tourismus wird hier im allgemeinen unkritisch als positives Phänomen dargestellt.
Bei Bahiatursa, der Tourismusorganisation Salvadors, erhielt ich statistische Informationen über Touristen aller vertretenen Länder und Hotelbelegungen. In den Tageszeitungen aus Salvador fanden sich über die Jahre verschiedene widersprüchliche Schätzungen hierzu. Einig sind sich jedoch alle,
daß der Tourismus in den Sommermonaten beständig zunimmt, wirtschaftlich
erfolgreich ist und deshalb weiterhin auf verschiedene Weisen gefördert werden soll. Der Tenor, daß Bahia, eigentlich der in Brasilien geächtete arme
Nordosten, jetzt stolz auf seinen funktionierenden und anwachsenden Tourismus ist, wird aus Tageszeitungen, Fernsehen und Bahia-Reiseführern deutlich
erkennbar.
Der gesamte baianische Medienmarkt macht für Bahia Propaganda und
beschönigt die damit verknüpfte Problematik. Hierbei arbeitet er Hand in
Hand mit Bahiatursa.
Bahiatursa schreibt für Touristen Programme, in welchen die kulturellen Ereignisse und Sehenswürdigkeiten erwähnt und die Adressen der verschiedenen ausgewählten „ethnischen“ (und touristischen) Veranstaltungsorte
(Tanz- und capoeira-Studios, Karnevalsvereine, Candomblé-terreiros, Wahrsagerinnen, etc.) aufgeführt werden. Der Tourismus wird in den eigenen Prospekten und Analysen als auch bei meinen Interviews mit den Tourismusagenturen und Bahiatursa ausschließlich in ein positives Licht gerückt, da er lukrativ ist. Es werden keine Probleme als signifikant gedeutet und keinerlei Veränderungen der eingehaltenen Linie für die Zukunft in Erwägung gezogen.
1.2.1.1.2
Ethnologische und soziologische Literatur zum
Tourismus
Ethnologische Literatur zum Thema Tourismus allgemein und zum Dritte-WeltTourismus im besonderen ist in Anbetracht dessen, wie verbreitet und ökonomisch wichtig Tourismus für die einzelnen Länder ist, rar. Obwohl der Touris-
10
Hierbei war wissenschaftliche, aber auch nicht-wissenschaftliche Literatur, die z.B. zur Analyse der Vermarktungsstrategien diente, von Bedeutung.
7
mus sich seit der Nachkriegszeit zu einem der größten Wirtschaftszweige der
Welt entwickelte, wurde er bis heute selten von Ethnologen berücksichtigt
und bearbeitet.11 Vielleicht ist einer der Gründe hierfür, daß die Kulturen in
Südamerika, mit welchen sich die Ethnologen beschäftigen, immer noch lieber
als „rein“ und unberührt gedeutet, bzw. vergangene oder im Verschwinden
begriffene Kulturelemente bevorzugt recherchiert und analysiert werden.
Auch in der religionswissenschaftlichen Literatur finden sich kaum Untersuchungen zum Tourismus, obwohl hier an das seit vielen Jahrhunderten
bekannte Pilgerwesen angeknüpft werden könnte. Noch heute ist jede touristische Reise nach Rom oder Jerusalem mit dem Besuch der für das Christentum heiligen Stätten verbunden.
Eine der Ausnahmen bildet Valene L. Smith (1977), der verschiedene
Kategorien von Touristen aufstellt, wobei er ihre Motive beleuchtet und zu
dem Schluß kommt, daß der Tourismus einschneidende Veränderungen bei den
jeweiligen sozialen Gemeinschaften hervorruft, welche ökonomisch für einige
positiv sind, für die Gemeinschaft, die sich in Abhängigkeit begibt, jedoch negativ.12 Als andere negative Faktoren werden oft z.B. Verschlechterung der
Lebensqualität, soziale Desintegration und zweifelhafte, da nicht andauernde
wirtschaftliche Erfolge genannt.13
Über sozio-kulturelle Auswirkungen des Dritte-Welt-Tourismus sowie
fundierte Theorien existieren nur wenige Studien.14 Es ist schwierig, Tourismus isoliert zu betrachten, da er den Zusammenfluß aus wirtschaftlichem,
sozialem und kulturellem Wandel bildet, wozu sich noch andere Elemente und
Einflüsse gesellen. Regionale sowie zeitliche Unterschiede sind zu berücksichtigen und lassen sich nicht allgemein oder nur bedingt auf andere Regionen
übertragen. Ebenso kann der Tourismus nicht nur unter dem Gesichtspunkt der
Akkulturation analysiert werden, da unter Umständen wirtschaftsethnologische15 und andere Betrachtungen ebenfalls von Bedeutung sind.16
Tourismus übt auf viele Sektoren und damit auf viele Bevölkerungsgruppen, die vordergründig nichts mit dem Tourismus zu tun haben, einen
starken Einfluß aus. Der Tourismus bildet eine Form des Kulturkontaktes, d.h.
Kontakte zwischen zwei oder mehreren unterschiedlichen Kulturen, die entweder direkt und andauernd oder auch indirekt und unzusammenhängend
sind.17 Es mußte in meiner Arbeit beleuchtet werden, daß sowohl Touristen als
11
Vgl.: Hirschberg 1988; Fischer 1984; Scherrer 1986; Gormsen 1985;V. Smith 1977; Nunez
1963; Nash 1981; Hamer 1979; Wahrlich 1984; Huse 1994 und Wilpert 1985.
12
Smith (1977:14) schlägt vor, daß Ethnologen mit Regierungen und Geschäftsleuten neue Tourismusindustriekonzepte erarbeiten sollten, um eine kreative neue Atmosphäre zwischen Touristen und sogenannten Gastgebern zu schaffen, welche für beide Seiten Vorteile bringen
könnte.
13
Vgl.: Lüem 1985.
14
Vgl.: Huse (1994:6).
15
z.B. im Souvenirbereich, siehe hierzu: Huse 1994.
16
Siehe hierzu: Huse (1994:8).
17
Vgl. Wahrlich 1984.
8
auch Einheimische weitere Motive zur Begegnung haben, als sie allgemein
deutlich machen. Die „magischen Komponenten“18 des Tourismus und deren
Bewertung für beide Seiten der Beteiligten sind wichtiger und oft unsichtbarer
Bestandteil des touristischen Geschehens.
Bei der Theoriebildung muß berücksichtigt werden, daß von der Bevölkerung oder von Teilen von ihr, Einflüsse und Veränderungen durch Tourismus
geleugnet werden, da sie zum einen nicht gesehen werden wollen, zum anderen dem Forscher und dem Touristen ein anderes Bild vermittelt werden soll.
Soziale und psychologische Konflikte,19 welche Hand in Hand mit dem
Tourismus gehen und oft individuelle Einfärbungen haben, können ebenfalls
Ursache für sozialen Wandel sein, bzw. dazu beitragen. Für ihre Ermittlung
sind intensive Forschungen, mit Betonung auf dem beobachtenden, wahrnehmenden Anteil der Forschung, ausschlaggebend. Der Ethnologe und der Religionswissenschaftler sollten sich dessen bewußt sein, daß sie selbst Dritte-WeltTouristen sind, sofern sich ihre Forschungen auf die sogenannte Dritte Welt
beziehen und sie somit Kulturwandel provozieren.20
1.2.1.1.3
Literatur zu Reisemotiven
Die Literatur zu Wallfahrten, Pilgerreisen sowie anderen klassischen Reisemotiven zeigt, daß die touristischen Reisemotive heute ähnlich sind, die Formen
und Ausdrucksweisen sich aber verändert haben.21 Tourismus und Pilgertourismus können als eine Form von Imperialismus22 gedeutet werden.23 Unter
anderem bewirkt gutes Marketing im Einklang mit modernen Zeitströmungen
von erfolgreichen Geschäftsleuten neue Formen des Tourismus. Personen, die
Pilgerreisen unternehmen, erhöhen dadurch ihr moralisches Image.24
„Ethnotourismus” ist als Phänomen weltweit bekannt. Zur Diskussion
von Abwehr, Verlangen und Kritik an der eurozentrischen Sichtweise des Eth-
18
Vgl.: Graburn (1977:17-31).
Meine Beobachtungen habe ich mit Theorien von Ethnopsychoanalytikern verglichen und
verschiedene Arten von Verdrängungen analysiert. Sie haben unterschiedliche Funktionen, die
das Individuum in der Gesellschaft sowohl in seiner bequemen Passivität bestärken, als ihm
auch Ersatzbefriedigungen erlauben. Vgl. hierzu Freud (1930 in 1991:29-109). Vgl. weiterhin: Erdheim (1982:368-437); (1990:9-31); Reichmayr 1995; Heinemann (1990:32-54); Rohr
(1990:55-87).
20
Vgl. Wahrlich (1984:2).
21
Vgl.: Bhardwaj, Rinschede, Sievers (1994:9-17). Sie bezeichnen modernes Pilgertum als Pilgertourismus.
22
Imperialismus: polit.-ökonom. Herrschaftsverhältnis mit dem Ziel, die Bevölkerung eines
fremden Landes mit polit., diplomat., kulturellen und ideologischen Mitteln zu beeinflussen,
auszubeuten, abhängig zu machen und direkt oder indirekt zu beherrschen. Histor. wurde die
Bez. zuerst auf die Beherrschung von Absatz- und Kapitalmärkten angewandt, dann auf die
Expansionspolitik der europ. Großmächte, Japans und der USA vom letzten Drittel des 19.Jh.
bis zum 1. Weltkrieg, deren Ziel die Bildung von Kolonialreichen oder Interessensphären in
unterentwickelten, meist überseeischen Gebieten war. (Meyers Lexikon: Das Wissen. Internet:
http://www.iicm.edu).
23
Vgl.: Nash (1977:33-47).
24
Siehe hierzu: Graburn (1977:24).
19
9
nologen hat Karl-Heinz Kohl (1986 und 1987) in entscheidender Weise beigetragen.
1.2.1.1.4
Literatur zur afro-brasilianischen Kultur und
Religion
Die ethnologische Literatur zum Thema candomblé sowie afro-brasilianischer
Kultur ist vielfältig, wie ich darstellen werde. Jedoch wurde meist rein ethnographisch, beschreibend, lediglich Teilaspekte beachtend, dokumentiert oder
eine Sammlung historischer Fakten gesammelt. Sowohl in der Vergangenheit
als auch in der Gegenwart sind kaum gesellschaftskritische Analysen unternommen oder candomblé im Zusammenhang zur Gesellschaft gedeutet worden.
Viele der Forscher gingen und gehen heute noch der Frage nach, wie
Elemente der afro-brasilianischen Kultur in Brasilien überleben konnten, bzw.
wie sie transformiert wurden und welche afrikanische Ethnie Ursprung der
jeweiligen verschiedenen Phänomene ist. Eine andere beliebte Auseinandersetzung betrifft den candomblé und seine Berührungen mit dem Katholizismus.
Die Schwarzen wurden in der älteren brasilianischen ethnologischen Literatur meist als minderwertige Individuen dargestellt, und dieses Bild wurde
im Interesse der Weißen ständig erneuert und aufrechterhalten. Weiße schrieben Abhandlungen über die Phänomenologie der Religion der Afro-Brasilianer
und wie sie aus ihrer Sichtweise das Objekt „die Schwarzen“ gesehen haben.
Dies wird heute von vielen afro-brasilianischen Intellektuellen zu Recht kritisiert.
Selten wird die weiße brasilianische Gesellschaft im Zusammenhang mit
der afro-brasilianischen im Rahmen ihrer Funktion der Machtausübung und
Unterdrückung analysiert. Beliebter ist es immer noch, die „Exoten“ im eigenen Land auch als solche zu betrachten und ihnen Karneval, Samba und Fußball als ihre Domäne zu genehmigen.25
Als erster Forscher verdient Nina Rodrigues (1862-1906) Beachtung, der
den candomblé phänomenologisch untersuchte.26 Von den mães-de-santo, bei
denen er geforscht hat, erhielt er Anerkennung, verteidigte sie und candomblé-Mitglieder gegenüber den Rassisten und erarbeitete die ersten Klassiker
über candomblé. Er selbst war Mestize, hat jedoch Schwarze, denen seine
Wertschätzung galt, trotzdem als minderwertig betrachtet und die weiße Rasse als die bedeutendste und intelligenteste dargestellt. Er sprach von „fetischistischer Kultur“ der Schwarzen in Afrika und Brasilien und wollte damit die
Unterlegenheit der schwarzen Rasse begründen.27 Rodrigues war dennoch einer der wenigen, die damals gegen eine polizeiliche Verfolgung des candom-
25
Und selbst hier wollen ihnen die weißen Brasilianer ihren Rang streitig machen.
Erst 1935 wurden die Werke von Nina Rodrigues veröffentlicht.
27
Vgl.: Rodrigues 1935 und 1977.
26
10
blés waren. Er erhoffte sich eine Anpassung des candomblé an den Katholizismus und damit eine Auslöschung der afrikanischen Kultur, was einen Fortschritt für das europäisch orientierte Brasilien darstellen sollte.
Arthur Ramos (1903-1949), Rodrigues-Schüler, führte ethnologische
Studien über den candomblé aus und vertrat die Ansicht, Brasilien solle sich
vom europäischen Vorbild lösen und eine eigenständige Kultur entwickeln, in
der nach seinem Erachten Raum war für afro-brasilianische Kulte. Er bewirkte,
daß die Schwarzen von nun an „negros“ und nicht mehr „africanos“ genannt
wurden, was bedeutet, daß sie daraufhin wenigstens als einen Bestandteil
Brasiliens gesehen wurden. Jedoch werden sie bis heute noch nicht als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft anerkannt. Ramos verstand die afrobrasilianische Kultur als gleichwertig mit derjenigen europäisch-katholischer
Abstammung, das Phänomen der Trance28 in den Kulten jedoch deutete er als
krankhaft, schizophren oder neurotisch.29
Die Nachfolger von Rodrigues und Ramos vertraten ähnliche Theorien,
bis Edson Carneiro (1912-1972)30 in den 40er-Jahren dieses Jahrhunderts als
erster die afro-brasilianische Kultur wertfrei betrachtete. Er wurde politisch
verfolgt und wurde längere Zeit in einem candomblé-terreiro verborgen. Zu
seiner Zeit entwickelten sich die candomblé-terreiros ebenfalls als politisch
organisierte Gruppen oder Widerstandsbewegungen gegen die dominanten
Weißen. Herskovits (1948),31 Eduardo (1948) und Ribeiro (1952) sind die ersten, die den candomblé im gesellschaftlichen Zusammenhang betrachteten.
Der Franzose Roger Bastide, Herskovits-Schüler, kritisierte als erster die
eurozentristischen Ansätze seiner Vorgänger, bewertete jedoch ebenfalls wie
die anderen Forscher die Nago-Kulte höher als die anderen afrobrasilianischen Kulte.32 Bastide erweckte das Interesse vieler Forscher, mit
seinen Bemühungen, den candomblé aufzuwerten, die sich daraufhin damit
beschäftigten33 und weitere ethnographische Forschungen durchführten.
Pierre Verger (1904-1996) ist die herausragendste Forscherpersönlichkeit der neueren Zeit. Er widmete 40 Jahre seines Lebens dem candomblé und
löste sich von der traditionellen Rolle des beobachtenden Ethnologen. Er ließ
sich initiieren, wurde pai-de-santo und besaß ein reichhaltiges Archiv von Do-
28
Trance: (lat.-engl.), Sammelbez. Für eingeengte (schlafähnliche) Bewußtseinszustände wie
etwa bei Benommenheit, Schlafwandel, Hypnose, Ekstase oder meditativer Entrückung; verbunden mit nachfolgender Erinnerungslosigkeit. (Meyers Lexikon. Das Wissen; Internet
http//www.iicm.edu.).
29
Auch Ramos war Evolutionist. Die weiße Rasse war für ihn intelligenter, die schwarze Rasse
dementsprechend auf einer tieferen Entwicklungsstufe. Vgl.: Ramos (1971; Original: 1934).
30
Carneiros bedeutendstes Werk wurde 1948 veröffentlicht, behandelt die interne Organisation
und die Hierarchien der terreiros und verdient bis heute große Beachtung.
31
Herskovits (1948) vertrat funktionalistische Ansätze und erstellte die erste Vergleichsstudie
zwischen afrikanischen und brasilianischen Kulten.
32
Bastide (1971:414).
33
Weitere Ausführungen zu Bastide siehe de Hohenstein (1991:183-186). Ich verweise auf ihre
Darstellung verschiedener neuerer Forscher (186- 190).
11
kumentationen und Photos über den candomblé. Er demonstrierte in seinem
Leben Hochachtung und Liebe zu den Afro-Brasilianern, ihren Kulturgütern,
Lebensweisen und ihrem Glauben, ein Umstand, der insbesondere jüngere
Forscher beeindruckt und beeinflußt hat.34
Viele der neuen Forscher haben im Gegensatz zu Verger den Nachteil,
daß sie Außenstehende bleiben und dies zu wenig reflektieren. Sie sind der
Ansicht, durch kurze Zeit Feldforschung, Eingeweihte zu sein, und hinterfragen ihre Stellung als Außenstehende zu wenig.35 Fremde Beobachter messen
meist an ihrer eigenen Wertsystemen, ohne die andere Kultur mit anderen
Bedürfnissen verinnerlicht zu haben. Die Idealisierung des „Wilden“ wird noch
nicht beendet, jedoch werden die afro-brasilianischen Kulte heute insgesamt
als brasilianisches Phänomen gedeutet und anerkannt.
Der Stellung der Frau innerhalb der afro-brasilianischen Kulte wurde
erst spät Aufmerksamkeit gewidmet,36 obwohl sie seit jeher dominant und
führend in den Kulten ist. Die meisten der Forscher sind Männer, welche die
weiblichen Bereiche unterbewerten, bzw. sie nicht erfassen können.37
Für meine Untersuchung sind unter den neuen candomblé-Forschern
Júlio Braga, Jefferson Bacelar38 und Vivaldo Costa da Lima39 von besonderer
Bedeutung. Sie beleuchten nicht nur aktuelle Geschehnisse kritisch, sondern
setzen sich gleichzeitig aktiv für die afro-brasilianische Kultur und ihren kulturellen Wert ein, wobei ihnen kein Rassismus und keine Dominanz der weißen
Rasse vorgeworfen werden kann. Die Analysen von Bacelar 1989 verdeutlichen
den Wandel des schwarzen Bewußtseins in der heutigen Zeit und erkennen
eine neue Akkulturation der Afro-Brasilianer in der weißen brasilianischen Gesellschaft.
1.2.1.1.5
Belletristik
Romane des weißen baianischen Schriftstellers Jorge Amado40 erweckten Interesse an der Kultur der Schwarzen, jedoch meist aus rein voyeuristischer und
effektheischender Art. Sie veranschaulichten die weitläufig über die Landes-
34
Verger (1969, 1971, 1981, 1987, u.a.) entwickelte keine neuen nennenswerten Theorien und
betrachtete die neueren Wandlungen des candomblés nicht, jedoch dokumentierte er viele historische, afrikanische und brasilianische Gegebenheiten.
35
Vgl.: Becker 1995, der sich nach einjähriger Forschung als beim candomblé initiiert betrachtet.
36
Ruth Landes (1947), Carneiro-Schülerin, widmete den charismatischen Führerinnen des candomblés große Bedeutung. Sie sieht im candomblé ein Matriarchat mitten in einer patriarchalischen Gesellschaft und betrachtet den candomblé nicht mehr als ein afrikanisches Überbleibsel.
37
Eine Ausnahme in neuer Zeit bildet Jane de Hohenstein (1991), die explizit Frauen im candomblé und deren Stellung gegenüber den Männern untersuchte.
38
Vgl.: Bacelar 1989.
39
Vgl.: Costa da Lima 1977 und 1984.
40
Das Verschwinden der heiligen Barbara (in deutsch) 1990, (Original) 1988; Die Geheimnisse
des Mulatten Pedro 1992 (1969); Leute aus Bahia 1994 (1933); Herren des Strandes 1974,
(zwischen 1930 und 1937); u.a.
12
grenze hinausreichende gängige Bewertung der afro-brasilianischen Kultur und
des candomblés und festigten ebenfalls das negative oder zumindest ambivalente Image der Afro-Brasilianer für die Weißen. Inzwischen sind Amados Romane in alle europäischen Sprachen übersetzt und vermitteln dem Leser, unter anderem dem Touristen, ein tropikalisches, oberflächliches, leichtlebiges
und mystifiziertes Bild der baianischen Kultur, des candomblés und der Personen, die meist aus dem Prostituierten-Milieu stammen. Das Bild dessen, was
der Tourist in Bahia zu finden glaubt, spiegelt sich in den Romanen wider, und
sie bestätigen die Vorstellungen des Durchschnittstouristen.
Die erzielten Ergebnisse werden im Rahmen der klassischen und aktuellen religionswissenschaftlichen und ethnologischen Theorien zu Ekstasereisen
und Wallfahrten und Tourismus (Ethnotourismus) überprüft und bewertet. Die
Relevanz zur aktuellen Forschung im Bereich moderner Religionsentwicklung
und Religionsethnologie wird deutlich gemacht werden.
1.3 Methoden der Feldforschung: Interviews und
teilnehmende Beobachtung
Ich befragte Personen aus allen Bevölkerungsschichten anhand formeller sowie
informeller Interviews. Manchmal benutzte ich bei der gleichen Person beide
Methoden zu verschiedenen Zeiten. Dabei stellte sich heraus, daß viele Personen sich unterschiedlich äußerten, je nachdem, ob sie formell, mit einem Mikrofon, oder informell, z.B. beim gemütlichen Zusammensitzen bei einem Glas
Bier mit mir redeten.
Bei Gesprächen mit dritten Personen oder Gruppierungen von mehreren
Personen waren die Äußerungen zum Thema unter Umständen absolut gegensätzlich zu den mit mir allein geführten, wobei die Zusammensetzung der
Gruppe und ihr gesellschaftlicher Stellenwert (Unter-, Mittel-, Oberschicht,
und ebenfalls die Hautfarbe der Beteiligten) hierbei eine Rolle spielte. Ein
weiterer Faktor, der sich auf die Äußerungen auswirkte, war, ob ich in der
Situation eindeutig als Forscherin angesehen oder als entspannte, zufällige
Begegnung, als Forscherin in der Freizeit, Konzertteilnehmerin etc. betrachtet
wurde.
Wesentlicher Bestandteil meiner Feldforschung war die teilnehmende
Beobachtung. Im Vergleich zu den geführten Gesprächen und Interviews stellte sie sich als bedeutsamer heraus. Das Verhalten der Personen drückte oftmals etwas gänzlich anderes aus, als es in den Gesprächen ans Tageslicht kam.
In Gesprächen bemühte man sich des öfteren, meine Beobachtungen zu leugnen. Dafür versuchten verschiedene Personen z.B., mich für nicht zuständig zu
erklären: „Sie versteht die Sprache nicht“, „sie versteht nichts von Salvador“;
„sie ist eine Fremde“ etc., lauteten die Urteile. Fragen von mir, die unangenehm waren, wurden oftmals einfach übergangen, oder Personen verhielten
sich so, als ob sie meine Frage nicht verstehen würden.
Ein anderer Faktor, der die Gespräche beeinflußte, war die Zusammensetzung der Gruppe, in der ich die Interviews führte. Handelte es sich bei den
13
Anwesenden um den Freundeskreis aus der gleichen Bevölkerungsschicht, so
wurde anders mit mir geredet, als wenn sich Mitglieder anderer sozialen
Schichten in der Nähe befanden. Der Unterschied zwischen den Hautfarben
(schwarz/gemischt/weiß) meiner Interviewpartner und anderer Anwesender
beeinflußte die Gespräche erheblich. Zudem wurde mit mir alleine anders geredet als im Beisein einer Gruppe.
Gleichzeitig war es von Bedeutung, ob die Personen meinen Beruf kannten und welche Vorstellungen sie damit verbanden. Ihr Wissen um meine Meinung zu den angesprochenen Themen beeinflußte die Gespräche nachhaltig.
Tendenziell wurde versucht, mir meine Meinung auszureden oder auch im Gegenteil das gleiche zu sagen, je nach dem, was die betreffende Person repräsentieren wollte. Manchmal trug eine Person in den verschiedenen geschilderten Zusammenhängen der Gespräche/Interviews unterschiedliche Meinungen
vor.
1.3.1.1.1
Interviews mit der Bevölkerung zum Thema
Tourismus; Fragestellungen, Problemstellungen, Ergebnisse
Es existieren bei der baianischen Bevölkerung bestimmte Meinungen, d.h. bewußt formulierte Äußerungen zum Thema Tourismus und Kontakte mit Touristen, die spezifisch für bestimmte soziale Schichten stehen, die sich vereinfachend in zwei Gruppen: schwarz/weiß einteilen lassen. Erschwerend kommt
hinzu, daß die Ansichten je nach Kontext der Begegnungen variieren.
Innerhalb der Gruppe „schwarz“ existieren verschiedene Meinungspole:
♦ ein radikaler, gesellschaftskritischer, meist von politisch bewußten Personen.
♦ ein unkritischer, von Personen, welche sich nicht mit der Gesellschaft aktiv auseinandersetzen.
♦ ein harmonisierender, von der Gruppe schwarzer Personen, die sich mit den Weißen
identifizieren wollen und die Werte der Weißen repräsentieren, obwohl diese Rassismus und Ablehnung ihrer eigenen Kultur beinhalten.
Bei der Gruppe „weiß“ unterscheide ich
♦ Intellektuelle, welche die brasilianische Gesellschaft kritisch betrachten und sozialen
Veränderungen gegenüber, zumindest theoretisch, offen eingestellt sind.
♦ Die Mehrzahl der weißen Gruppe besitzt eine konservative, unreflektierte Meinung,
die konform zu der Propaganda der unterschiedlichen Medien steht.
Beide Personengruppen schwarz/weiß lassen sich in drei Kategorien unterscheiden:
♦ abhängig vom Tourismus
♦ unabhängig vom Tourismus, mit der Absicht, den Touristen aus dem Weg zu gehen
♦ unabhängig vom Tourismus, aber sie hegen heimliche Wünsche gegenüber den Touristen
14
Dementsprechend werden Phänomene, die den Tourismus betreffen,
anders bewertet. Auch hier möchte ich zwischen den Kategorien „kritisch/unkritisch“ unterscheiden.
Eine meiner Thesen ist, daß innerhalb dieser von mir kurz beschriebenen Klassifizierung von Personengruppen Urteile und Vorurteile nicht nur zu
den von mir erforschten Themen, sondern zu sämtlichen Belangen der Gesellschaft und Kultur existieren. Sowohl soziale Schicht- und Bildungsunterschiede
liegen dem zugrunde, aber auch Bequemlichkeit, Verdrängungen, Unvermögen
und unkritische Lebenseinstellungen. Viele finden sich mit dem derzeitigen
status quo ab und haben ebenfalls andere, existentielle Probleme zu bewältigen.
„Ihr habt den Luxus, Euch Gedanken zu machen. Das ist für mich geradezu
lächerlich. Ich will meine Kinder ernähren und weiß nicht, was es morgen
zum Essen gibt! Bleib mir nur damit vom Halse. Es interessiert mich nicht. ...“
(C., Wäscherin)
Es kristallisierten sich, je nach Personengruppe innerhalb der Bevölkerung, verschiedene Interpretationen zu den von mir angesprochenen Themenkomplexen heraus:
♦ Der Tourismus wird von den meisten mir gegenüber als absolut positiv bewertet,
seine negativen Auswirkungen werden, in Konformität mit den Medien, verleugnet.
♦ „Der Tourismus ist der Teufel“. Seine Auswirkungen und Erscheinungsformen werden in allen Bereichen negativ beschrieben. Diese Meinung wurde nur von einigen
wenigen Sozialwissenschaftlern an der Universität von Salvador geäußert.
♦ Der Tourismus wird positiv und gleichzeitig negativ bewertet, unter Berücksichtigung gesellschaftlicher und kultureller Bereiche. Wenige kritische Personen, die
meist dem Movimento Negro angehören, gaben sich die Mühe, den Themenkomplex
mit mir in dieser Art zu analysieren und diese Meinung herauszukristallisieren.
Die meisten geäußerten Bewertungen des Tourismus mit allen dazugehörigen Belangen sind positiv. Zum Teil ist dies durch die Gruppenzugehörigkeit der Personen, wie oben beschrieben, bedingt, zum Teil durch das Image,
das mir „verkauft“ werden sollte. Zum Image gehört ebenfalls der Stolz auf
Bahia.
Dem gegenüber stehen meine Beobachtungen von Verhaltensformen im
Kontakt mit Touristen bzw. Äußerungen, welche die Touristen, da sie nicht
portugiesisch verstehen, nicht einordnen können. Brasilianer aller Schichten
haben sich vor mir ebenfalls über Touristen lustig gemacht, wenn sie nicht in
einer Interviewsituation mit mir waren. Zudem existiert eine Vielzahl von Witzen über Touristen.
Diesen Ergebnissen liegen meines Erachtens verschiedene Ursachen zugrunde:
♦ Ich sollte ein positives Bild über Bahia im Ausland vermitteln.
♦ Ich sollte nicht der Ansicht sein, die interviewten Personen würden Touristen ausnutzen.
15
♦ Es wurde versucht, die Abhängigkeit von den Touristen zu verschleiern. Die Personen bemühten sich zum einen, ihre sozialen Probleme und zum anderen ihre Einstellung zu Bereichen der Gesellschaft vor mir zu verbergen. Durch Stellungnahme zum
Tourismus wäre negative Bewertung ans Tageslicht gekommen, z.B. die finanzielle
Abhängigkeit vom Tourismus u.a.
♦ Aus Freundlichkeit mir als Ausländerin und potentieller Touristin gegenüber wurde
meist nicht schlecht über Touristen gesprochen. Ich hätte mich persönlich abgelehnt
fühlen können, wenn schlecht über Touristen gesprochen würde.
♦ Oberflächlichkeit und keine Lust auf ein ernstes Thema verhinderten ebenso etliche
Interviews.
♦ Aus Mißtrauen mir gegenüber, aus den unterschiedlichsten Gründen; z.B. keine Lust
auf ernsthaften und ehrlichen Kontakt zu einer Fremden, wurden ebenfalls Fragen
nicht beantwortet.
Eine weitere Personengruppe wurde ebenfalls von mir interviewt: Weiße Brasilianer aus anderen Regionen Brasiliens, die in Bahia Ferien machten.
Sie alle kamen aus den reicheren, südlichen Regionen Brasiliens.
Trotz ihrer Sonderstellung innerhalb meiner Interviewgruppen, Touristen und gleichzeitig Landsleute der baianos zu sein, kamen keine anderen Ergebnisse als die oben geschilderten ans Tageslicht. Sie äußerten alle vorhandenen Vorurteile gegen den armen Nord-Osten mit den ehemaligen Sklaven,
gleichzeitig zeigten sie sich mir gegenüber ebenfalls stolz auf das eigene
Land, was Bahia einschließt.
1.3.1.1.1.1 Interviews mit Touristen
Auch bei Touristen stellte sich heraus, daß durch Fragen oft weniger zu erfahren war als durch Beobachtung. In Interviews versuchten sich die Touristen als
gebildet, an der Kultur interessiert und kritisch darzustellen, was den Tatsachen jedoch oft so nicht entsprach, wie sich aus informellen Gesprächen und
vielerlei Kontakten meistens herauskristallisierte. Zum Teil waren die Touristen jedoch gutsituiert, informiert über Details ihrer Berufssparte und aktuelle
Themen in Deutschland, bzw. Europa. Brasilien und Bahia scheinen bei vielen
jedoch irgendwie einen blinden Punkt, eine absolute Bildungslücke darzustellen.
Ist diese Kultur so fremd? Zu fremd? Warum bereitet man sich im Heimatland nicht darauf vor?41 Die Touristen sind in diesem Zusammenhang ebenfalls Opfer von Mythen, welche die Tourismusindustrie ins Leben gerufen hat.
Favelas, Festas und candomblé kann man nicht im Urlaub erfassen, auch wenn
man einiges davon weiß. Der Themenkomplex ist tatsächlich zu fremd und zu
vielschichtig. Und man will ja Ferien.
41
Eine in Berlin lebende Ethnologin wußte auf die gestellte Frage eine simple Antwort: Touristen haben im Urlaub auch Ferien von Kulturkritik.
16
Mythenbildend wirken sich ebenfalls die Medien (Zeitschriften, Radio
und Fernsehen) aus. Es werden teilweise Reportagen übermittelt, die mit keiner Realität mehr zu tun haben, bzw. schlichtweg falsch sind. Baianische Romane, wie von Jorge Amado, gehören ebenfalls in die gleiche Rubrik.42 Dadurch werden Wünsche und Phantasien beim Touristen erweckt, die absolut
realitätsfremd sind.
Durch die teilnehmende Beobachtung erkannte ich oftmals andere Reisemotive und Verhaltensformen der betroffenen Personen, als in den Interviews formuliert. Die Vergnügungsreise, bei Gesprächen als von geringer Bedeutung dargestellt, erwies sich jedoch bei genauer Beobachtung als eines der
maßgeblichen Motive der Reise. Kontakte zur einheimischen Bevölkerung wurden hauptsächlich unter dem Aspekt aufgenommen, sich zu vergnügen oder
um Dienstleistungen für diese Zwecke zu erlangen. Eine Form dieser Kontaktaufnahme ist der Sextourismus in seinen unterschiedlichen Ausformungen.43
Viele candomblé-terreiros44 wurden von Touristen oftmals zur Unterhaltung
besucht ebenso wie Folkloredarbietungen.
Bei Einzelgesprächen informeller Art zeigte sich oftmals ein emotionales und religiöses Interesse am geheimnisvollen, ekstatischen Geschehen, das
Vergleiche mit der europäischen „New Age-Bewegung“ aufdrängt, bei der sich
Europäer verschiedener Religionen aus aller Herren Länder mit unterschiedlichen Heilserwartungen bedienen. So, wie zu den ehemals geheimen „Orten
der Kraft“ der nord- und südamerikanischen Indianer oder zu den Geistheilern
auf die Philippinen gereist wird, werden die rituellen Plätze der ehemaligen
afrikanischen Sklaven in Bahia konsultiert.
Wer einen Dolmetscher auftreiben kann oder ein klein wenig der portugiesischen Sprache mächtig ist, läßt sich ein Kaurimuschel-Orakel von einem
candomblé-Priester oder einer Priesterin legen, um ein paar Anhaltspunkte für
die Zukunft zu erhaschen. Das Verfahren hat den Vorteil, daß man es nicht
glauben muß, wenn einem die Ergebnisse nicht gefallen, da sie von völlig
fremden Personen, Angehörigen einer fremden Religion, mitgeteilt werden,
und damit besteht keinerlei Verbindlichkeit des Glaubens und Handelns, wenn
dies nicht gewünscht wird. Andererseits bezaubert die geheimnisvolle Atmosphäre voller unbekannter Kultgegenstände, einer unverständlichen Sprache
und fremder Gerüche.45
Die gleiche Unverbindlichkeit besteht zu den Einheimischen. Soziale
Unterschiede werden übersehen, kulturelle Unterschiede ebenfalls nicht be-
42
Zu Amado siehe im Kapitel 1: Belletristik.
Explizit zum Thema Sextourismus, hier am Beispiel Thailand, siehe Launer 1993. Ich werde
in meiner Arbeit auf diesen Geschäftszweig nicht weiter eingehen.
44
terreiro (port.) Landstück; verwendeter bras. Begriff für Kultstätten von candomblé und umbanda.
45
Vgl. Zinser 1989; zum Besuch bei einer deutschen Wahrsagerin. Es sind die gleichen Motive
der Klientel festzustellen, in Bahia mag der Besuch jedoch exotischer sein und noch weniger
verbindlich.
43
17
rücksichtigt, und verschiedene Personengruppen mit unterschiedlichen Motiven und Verhaltensformen vermischen sich für kurze, unverbindliche Amüsements. Dem Reiz des Exotischen wird von beiden Seiten nachgegeben.
1.4 Probleme der Feldforschung, der Rolle als Forscherin
„Nicht nur die primitiven vorindustriellen Gesellschaften, sondern gerade die
heute in der kapitalistischen Peripherie gegen die herrschende Produktionsweise sich herausarbeitenden, scheinbar vorindustriellen schwachen Gesellschaften stellen für unsere Lebensform eine beunruhigende Herausforderung
dar. Die Verleugnung dieser Lebensform durch eine besserwisserische orthodox-marxistische Theorie oder eine zynische Modernisierungstheorie sind
keineswegs erschöpfende Formen der Abwehr einer mit Größenwahn einhergehenden Selbstdisziplinierung, deren Kosten sich ablesen lassen an den depressiven Phantasien der Industrialisierten, das „Leben der Wilden“ verpaßt zu
haben. ...La Pérouse...ließ einst das „wilde Leben“ so sehnsuchtsvoll als „unglücklich-glücklich“ erscheinen.“
(Hans Bosse, 1979:19)
Aussteiger- und Verweigerungsphantasien wurden sowohl vom brasilianischen Mittelstand, von Intellektuellen, von Pseudointellektuellen als auch
von der Unterschicht auf mich projiziert. Dies geschah aus den jeweilig unterschiedlichen Perspektiven mehr oder weniger offenkundig. Wurde ich z.B. auf
Festen oder am Strand gesichtet, bestätigte dies für sie ihr Bild. Traf man
mich an der Universität, wurde gerne provoziert: „Hast Du Dich verirrt?“.
Die Weißen betrachteten mich gerne als „Diebin, Lügnerin, Faulenzerin“, da sie mich mit einem Teil meines Forschungsgegenstands, den Marginalisierten, identifizierten. Zudem bewegte ich mich frei in allen möglichen
Gesellschaftsgruppen, was für Aussagen über gesellschaftliche Zusammenhänge förderlich war. Diese Offenheit für alle Gruppen ist bei Weißen in Bahia
nicht üblich. Im Gegenteil, meist wird peinlich genau darauf geachtet, sich im
„richtigen“ gesellschaftlichen Milieu zu bewegen. Somit war ich suspekt, als
Aushorcherin und gegebenenfalls als Verräterin der eigenen Schicht oder der
jeweiligen Person verdächtigt. Bewegte ich mich in den als „richtig“ erachteten Kreisen, konnte auch der Kontakt mit mir als Aufwertung ihrer Person angesehen werden. Durch meine Erklärungen wurden meine schichtübergreifenden Kontakte transparent.
46
Mitglieder der Unterschicht interagierten mit mir oftmals so wie mit allen anderen Touristen. Dies beinhaltete Verkaufsgespräche über touristische
Artikel und Dienstleistungen. Bei Personen, die sich mit der Bildung von
„schwarzem Bewußtsein“ auseinandersetzten, wurde ich manchmal als moderne Imperialistin angesehen. Andere Personen dieser Gruppe sahen mich als
Gleichgesinnte, als Aufklärerin der unteren Gesellschaftsschichten gegen die
46
Vgl. Bosse 1979, der Marginale bzw. von ihm sogenannte „Diebe, Lügner, Faulenzer“ verschiedener Kulturen und deren Verweigerungs- und Abwehrverhalten gegenüber den Kolonisatoren und anderer Machthaber und deren Funktionen analysierte.
18
Unterdrücker, an. Ich war nicht eindeutig einzuordnen, da der Umgang mit
mir aus der ersten Welt ebenfalls Prestige und finanzielle Zuwendungen bzw.
die Hoffnung darauf mit sich brachte. Somit stellte ich ein ambivalentes Sinnbild der verschiedenen Wünsche und Ängste dar.
Meine eigenen Projektionen auf die Brasilianer47 führten u.a. dazu, für
viele Personen und Handlungsweisen Verständnis aufzubringen, meist auf der
Basis der brasilianischen Lebensumstände und auf individuelle Lebens- und
Leidensgeschichten begründet. So suchte ich Kontakt mit Personen, deren
Weltanschauung mir suspekt war und mit denen ich mich in Deutschland vermutlich nicht beschäftigt hätte.
Jedoch gerade dies erwies sich im nachhinein als bestes Lernfeld für
mich über die baianische Gesellschaft, ihr gesellschaftliches Schichtenbewußtsein und den existierenden Rassismus, der meistens verleugnet wird. Das rassistische Verhalten war zumeist subtil und erst im Laufe der Zeit durchschaubar. Die Hierarchie der Gesellschaft bestimmte ganz exakt die Grenzen der
Kontaktebenen und Verhaltensweisen der einzelnen Mitglieder.
Der Mangel an persönlicher Freiheit in den Kontaktebenen läßt die Gesellschaft als rigide und konservativ erscheinen; viele Umgangsformen, Normen und Barrieren haben Ähnlichkeiten mit den Beschreibungen von ehemaligen Sklavengesellschaften. Aus diesem Grund stellen sich viele Intellektuelle
in Salvador die Frage, ob die baianische Gesellschaft eine moderne Form der
Sklaverei praktiziert bzw. immer noch imperialistische Formen aufweist. Die
Enkel und Kinder der Kolonisatoren führen ihre Erbschaft in moderner Weise
fort. Jedoch Unterschicht und Oberschicht sowie Mittelschicht, Ausgebeutete
und Ausbeuter sind hierzu unterschiedlicher Ansicht.
Mitglieder und Außenseiter der brasilianischen Gesellschaft erleben dies
ebenfalls unterschiedlich. Touristen nehmen diesen Komplex nicht wahr. Im
Gegenteil, sie genießen es, einen Teil davon unreflektiert miterleben zu können, und beneiden die Brasilianer um ihr tropikales Erbe. Somit tragen sie dazu bei, das Bild, das Bahia über seine rassenharmonische Gesellschaft vermitteln will, in der Welt zu verbreiten.
Einige Mitglieder der brasilianischen Mittel- und Oberschicht stellten
sich in meinen Augen meist als genußsüchtige „Diebe, Lügner und Faulpelze“
im wirklichen Sinne dieser Worte dar. Doch sie sind keine entmachteten Ausgebeuteten, sondern bewußte Täter, die sich bedroht fühlen, daß sich ihr
Machtbereich, auch in materieller Hinsicht verringern könnte, und die ihre
Verantwortungslosigkeit verdrängen. Sind sie die Opfer ihres eigenen Narzißmus der Herrschenden, ihrer Unbewußtheit und ihrer Aggression?48
47
Ich betrachte dies als eine der vielen Möglichkeit, mit Xenophobie umzugehen und diese zu
überwinden. Zur breiteren Diskussion über die Abwehr Fremder, siehe Osterkamp (1995:85195).
48
Vgl.: Erdheim (1982:388). Dieser Komplex kann im Rahmen dieser Arbeit nicht umrissen
werden, sollte aber für weitere Forschungen beachtet werden. „Die Afro-Brasilianer sollten
19
Gegen was und wen haben die weiße Mittel- und Oberschicht Abwehrstrukturen? Sicherlich gegen die „erste Welt“, die sie so bewundern und an
deren materiellen Erfolg sie gerne teilhaben mögen, sowie an der damit verbundenen größeren Freiheit des Individuums. Sie orientieren sich am westlichen Materialismus, an Wissenschaft und Technik und verleugnen die Kulturgüter ihrer „dritten Welt“, welche jedoch heute hauptsächlich die Basis ihrer
Freizeitkultur darstellen und die sie genüßlich konsumieren. Ich, die aus der
„ersten Welt“ angereiste Forscherin, mit europäischer Kritikfähigkeit, der sie
sich unterlegen fühlen, die beobachtete und Dinge, die sie verdrängen, enttarnen wollte, mußte von ihnen abgewehrt werden.
Die dazu angewendeten Mechanismen der Konfliktabwehr erstrecken
sich über Nicht-Ernstnehmen, bis zur Behandlung als ein unwissendes Kind. Ich
sollte erst mal ganz korrekt sprechen, lesen, schreiben und mich anpassen
lernen. Die Verweigerung an Informationen, mir die Schuld zuweisen an Mißverständnissen, mit der Erklärung, daß ich nicht in der Lage sei, Dinge richtig
zu verstehen, obwohl ich all das gelernt hatte, was von mir erwartet wurde,
waren Mittel, die dafür eingesetzt wurden. Verschiedene Erklärungsmethoden
wurden gesucht, welche mich auf eine soziale Stufe unterhalb ihrer eigenen
stellen sollten.
Gleichzeitig sollte ich kontrolliert werden. Damit sollte vermieden werden, daß ich unerwünschte Informationen weitergeben würde, wie z.B. Verdrängtes oder ein anders präsentiertes Selbstbild als das, welches den tatsächlichen Gegebenheiten entsprach. Die Angst vor der eigenen Bewußtwerdung spielte ebenfalls eine Rolle. Es wurde versucht, mich auf einer oberflächlichen Ebene zu halten, meine Einstellung zur Gesellschaft sowie meine
persönlichen Verletzlichkeiten herauszufinden, um mich gegebenenfalls mit
den verschiedensten Mitteln sozial herabzusetzen und lächerlich zu machen.
Gleichzeitig wurden Wünsche auf mich projiziert, durch mich sollte der Weg
nach Europa/den USA erleichtert werden und ich sollte der Imageaufwertung
förderlich sein.
Hatte ich Beziehungen zu den persönlichen und/oder allgemein gesellschaftlich angesehenen Gegnern (d.h. zu den Schwarzen), verschärften sich
die Umgangs- und Kontrollformen tendenziell. Intrigen wurden gesponnen, die
der Entmachtung und Abwertung dienen und gleichzeitig die ambivalente Beziehung zu mir aufrechterhalten sollten.49
Das Feindbild der Mittel- und Oberschicht ist die schwarze „gewalttätige“ Unterschicht. „All die faulen, herumlungernden Gestalten, die auf eine
den Feind, der die weiße Mittel- und Oberschicht darstellt, im Auge behalten und ihn wirklich
kennenlernen, um ihn entmachten zu können. Jedoch ist dieses Thema leider keine wünschenswerte Forschung für Sozialwissenschaftler, da sie lieber Elemente einer schönen, exotischen Kultur betrachten, als sich unter das Leben des Mittel- und Oberstands zu mischen.“
(Interview mit J. Bacelar, baianischer Soziologe, 1996)
49
Ähnliches, wie das oben Geschilderte, erlebten und berichteten andere ausländische Forscher.
Mitglieder der brasilianischen Gesellschaft äußerten negative Bewertungen über andere Forscher, die den von mir persönlich erfahrenen glichen.
20
Gelegenheit warten, zu stehlen, zu rauben und die mittelständischen, anständigen Frauen zu schänden“. Die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg, von
dem der einzelne ständig bedroht ist, wird auf die andere Rasse projiziert.50
„Man sollte alle Schwarzen Salvadors zu einem Fest im Fußballstadion einladen, denn feiern und saufen tun sie gerne. Dann, wenn sie alle besoffen sind,
sollte man sie dort vergasen, wie es Hitler mit den Juden gemacht hat, und
man hätte diesen Sauhaufen endlich und endgültig los. ...
Sollte meine Schwester einen Schwarzen anschleppen und von ihm schwanger
sein, bringe ich sie um. ...“
(M., Leiter einer Klinik, Salvador)
Die gesellschaftliche Schicht des Mittelstands ist nur in einem solidarisch, nämlich in ihrer Abgrenzung gegen ihr gemeinsames Feindbild. Ansonsten sind die sozialen Beziehungen rationell gestaltet, nach dem Prinzip des
gegenseitigen Nutzens.
„Wer heute dein Freund ist, kann sich morgen bei deinem Chef einschleimen,
und dir deinen Job wegnehmen. Oder er kann eine Intrige gegen dich starten...
Heute gehe ich mit D. aus. Sie ist zwar doof und furchtbar oberflächlich, aber
sie soll mir einen wichtigen Kontakt zu M. herstellen, dessen Freund mit dem
Chef von X. befreundet ist, wo ich gerne arbeiten würde. ...
Ich gehe mit G. aus, sie will nicht alleine zur Show und bezahlt mir die 30
reais Eintritt. Die Arme ist so einsam. Ja, langweilig ist sie schon, aber du
weißt ja, der Kontakt ist mir nützlich. ...
Wir reden hier nur über oberflächliches Zeug, wie Kleidung, Geld, Reisen,
was gerade schick ist. Hier in Salvador darfst du niemandem, wirklich niemandem, von dir erzählen, das wird alles bei Gelegenheit gegen dich verwendet. Du bist manchmal wirklich naiv, wenn du das tust. Nicht einmal meine
Familie weiß von den mir wichtigen Dingen. ...
Sie mag mich nur, weil ich ein Auto habe. Ich bin es leid, sie herumzufahren,
und Getränke muß ich dann auch noch bezahlen. Sie ist neidisch auf mich und
deshalb oft sehr gemein...“
(G. Psychologin, Salvador)
Freundschaften werden unter dem Aspekt der Nützlichkeit gestaltet,
Probleme werden nicht angesprochen. Hinter oberflächlicher, herzlicher
Freundlichkeit zu jedermann, Austausch von Komplimenten, Tratsch und gemeinsamem Konsum verbirgt sich Angst vor negativen Gefühlen des anderen.
Von ihm wird befürchtet, daß er ihn zu schädigendem Verhalten verführt, was
sozialen Abstieg oder Imageabwertung zur Folge haben kann. Mitglieder des
Mittelstandes verhalten sich so unauffällig wie möglich und bieten keine sichtbaren Reibungspunkte und Verletzlichkeiten.
Dabei wird demonstriert, daß man zum Mittelstand gehört. Teure Markenartikel werden vorgeführt, auch wenn ihr Erwerb zur Verschuldung führen
kann. Das Image wird so präsentiert, daß jedermann, der über die Preise der
Markenartikel informiert ist, erkennen kann, ob es sich finanziell und sozial
50
Vgl.: Osterkamp (1996:88).
21
lohnen dürfte, mit der betreffenden Person Kontakt aufzunehmen. So können
selbst reichere Schwarze hier Akzeptanz finden.51
In meiner Arbeit werden weitere Beispiele zu rassistischem Verhalten
aufgeführt werden, da dies auf allen Ebenen gesellschaftlicher Kontakte zum
Ausdruck kommt. Jedoch:
„Wenn wir Menschen beschreiben, werden wir ihnen nicht gerecht. Wir sind
ihnen fremd, vielleicht mit ihnen bekannt. Wenn wir alles schildern, was wir
von ihnen wissen, bleibt die Kränkung bestehen: Wie kann man es wagen,
Menschen zu untersuchen, ihr Innerstes aufzudecken, es kalt zu beschreiben?
Man erzeugt - nicht bei den Geschilderten, aber beim Leser - die gleiche Beleidigung, die in der Psychoanalyse als narzißtische Kränkung schmerzlich erlebt wird und in kleinen Schritten überwunden werden muß, wenn wir erfahren wollen, wer wir sind. Wie böse erst, wenn wir nicht mit uns selbst, sondern mit unseren schwarzen Brüdern so verfahren. Nur ein naiver Glaube an
die Nützlichkeit eines so vermehrten Wissens könnte zur Entschuldigung dienen. ...“
(Parin, Morgenthaler, Parin-Matthèy 1971:9-10)
2
Kultur und Geschichte Brasiliens
Abbildung 1: Brasilien
51
Zum Rassismus und der Unterteilung zwischen gutem und bösen Fremden, bzw. Schwarzen,
vgl.: Osterkamp (1996:85-198). Die Diskussion hierzu würde den Rahmen meiner Arbeit
sprengen.
22
2.1 Entdeckung, Eroberung und Ausbeutung als Motive des frühen Reisens
“Würdiger Müßiggang erschien einem guten Portugiesen oder Spanier stets
trefflicher, ja sogar edler als der närrische Kampf ums tägliche Brot. Das von
beiden bewunderte Ideal war das gelassene, sorgenfreie Leben eines Grandseigneurs.”
(Buarque de Holanda, brasilianischer Historiker; 1995:18; Original 1936).
Man könnte diese 1936 geschriebenen Sätze, ohne lange zu überlegen,
auf die Wünsche und Erwartungen des modernen, heute nach Bahia und
sonstwohin reisenden Touristen übertragen. Vielleicht wird man die Touristen
in einem späteren Jahrhundert ähnlich wie die frühen Reisenden aus anderen
Jahrhunderten beschreiben, allerdings unter der Berücksichtigung, daß sie
keine Morde begingen und ihre Gewalt subtiler war als die nun dargestellte
der portugiesischen Abenteurer und Eroberer.
Als die Portugiesen die Tropen für die Zivilisation eroberten, waren sie
Wegbereiter, und diese „Heldentat“ war ihre größte historische Mission. Sie
stürzten sich in die intensive Ausbeutung der Gebiete nahe dem Äquator. Die
Abenteurer und Eroberer genossen in ihrem eigenen Land nicht den besten
Ruf.
„Wie immer ist es scharfer, nicht ganz reinlicher Dünger, der eine Erde am
besten für künftige Ernte reif macht“.
(Stefan Zweig, deutscher Schriftsteller; 1994:28; Original 1941)52
Die neu entdeckte Welt, Brasil oder das Land der Papageien genannt,
mußte bevölkert werden, damit es der portugiesischen Krone nicht an die
Feinde verlorenging. Übeltäter wurden daraufhin in Portugal nicht mehr gerichtet, wenn sie sich dafür bereit erklärten, über den Ozean zu segeln und
sich im neuen Land anzusiedeln.
Diejenigen, welche ins Unbekannte auszogen, waren vielfach Außenseiter in der damaligen Gesellschaft, die aus verschiedenen Gründen dort keinen
wirtschaftlichen Erfolg hatten oder die man gerne loshaben wollte.
Für die entlaufenen Soldaten, desertierten Matrosen, für die degregados53 war Brasilien ein exotisches Paradies,
„...ein Land ohne Gesetze und Einschränkungen und Verpflichtungen, in dem
jeder tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Ohne von Justiz oder Autorität
ernstlich behelligt zu werden, konnten sie den wüstesten Trieben freien Lauf
gewähren; was in ihrem Heimatland mit Kette und Brandmarkung geahndet
wurde, galt hier als erlaubtes Vergnügen gemäß der Conquistadorendoktrin:
Ultra equinoxialem non peccatur...so lebte jeder dieser Gesellen, die meist
52
Stefan Zweig emigrierte während des zweiten Weltkrieges nach Salvador, da er in Deutschland als Jude verfolgt worden war. 1942 brachte er sich aus Verzweiflung über den nicht enden wollenden Krieg in Europa um. Während der Jahre in Bahia setzte er sich mit der brasilianischen Gesellschaft und deren Geschichte und Entwicklung auseinander. Sein Werk ist literarisch kostbar und für die damalige Zeit sehr kritisch.
53
Degradierte, vor dem Recht Gefallene; Räuber, Diebe Mörder und andere Verbrecher.
23
noch die Brandmale des Zuchthauses auf den Schultern trugen, wie ein Pascha, ohne sich um Recht und Religion zu kümmern und vor allem ohne jemals selbst die Hand zu wirklicher Arbeit zu rühren.“
(Stefan Zweig 1994:39).
Der Abenteuergeist des einzelnen war aus den Erfolgen anderer Eroberungen und dem Wunsch, zu Reichtum zu gelangen, ohne zu arbeiten, geboren. Buarque de Holanda (1995) unterscheidet zwei Typen von Menschen mit
zwei sich bekämpfenden und gegenseitig verabscheuenden Prinzipien, die im
gesellschaftlichen Leben unterschiedlich handeln: den Arbeiter und den Abenteurer.
Der Abenteurer, der keine Grenzen kennt, will Früchte ernten, ohne einen Baum zu pflanzen. Er lebt von unbegrenzten Räumen, umfangreichen Projekten und fernen Horizonten. In seiner Ethik sind Wagemut, Leichtsinn, Verantwortungslosigkeit, Unbeständigkeit und Wandertrieb positiv bewertet. Die
Werte des Arbeiters, Stabilität, Frieden und kontinuierliche Anstrengungen,
sind für ihn verachtenswert, verwerflich, kleinlich und dümmlich. Beide Typen, Arbeiter und Abenteurer, sind geprägt vom gegenseitigen radikalen Unverständnis.54
Die Eroberung und Kolonisierung der Neuen Welt war eine Epoche kühner Heldentaten. Der neue Kontinent hatte für den Typus des Arbeiters kein
günstiges Umfeld zu bieten. Das portugiesische Volk soll zu damaliger Zeit geprägt gewesen sein von der mangelnden Lust bzw. Trägheit, eine Arbeit auszuführen, die sich nicht sofort auszahlte. Es bestand eine geringe Neigung der
iberischen Einwanderer für die Landwirtschaft.55
„Ein Portugiese hat weniger Schwierigkeiten, ein Schiff nach Brasilien zu
heuern, als zu Pferde von Lissabon nach Porto zu reisen“,
So beschreibt der Reisende James Murphy (1795:208, in Buarque de Holanda 1995) Ende des 18. Jahrhunderts die portugiesische Mentalität bzw. die
damaligen Zustände. Die zu verrichtende Arbeit, damit die Abenteurer Reichtum erlangten, da das Gold nicht wie erhofft, auf der Straße lag, wurde von
anderen Personen geleistet. Diese Arbeiter, die Sklaven und deren Nachfahren
wurden zu keiner Zeit von niemandem geachtet.
Aus Portugal kamen Abenteurer in der Hoffnung, mit Reichtum, Ruhm,
Ehre und Heldentiteln ins Mutterland zurückzukehren, die sie dort, aus welchen Gründen auch immer, nicht erwerben konnten. Nach Ende des Dreißigjährigen Krieges erschienen nun freigestellte Soldaten, die Haus und Hof ver-
54
Vgl. Buarque de Holanda (1995:24-25). Diese beiden Arten von Menschen existieren selten
in reiner Form, es sei denn in der Welt der Ideen.
55
Buarque de Holanda (1995:25-101), zitiert verschiedene Briefe und Berichte, sowohl aus
Portugal als auch aus der Neuen Welt, in denen die Nähe zu Afrika und der dortige Wind, die
Hitze und tropisches Klima scheinbar der Lust zur Arbeit nicht förderlich sind, und die Portugiesen durchgehend nur als Eroberer und Abenteurer glänzen. Da die Unlust an der Arbeit
auch für die anderen Eroberer der Neuen Welt galt, müssen andere Faktoren ebenfalls eine
Rolle gespielt haben. Vgl. ebda.S.63.
24
loren hatten, kleine Handwerksleute, Lehrlinge, Kaufleute, Schankwirte,
Schulmeister, “Halbweltdamen” und andere „verlorene Typen“.56
Bei all den Schwierigkeiten, denen die verschiedenen Typen von Einwanderern in der Neuen Welt über die Jahrhunderte ausgeliefert waren, konnten doch viele von ihnen ein angenehmes Leben aufbauen und andere für sich
arbeiten lassen. Buarque de Holanda (1995:135) beschreibt dies mit den folgenden Worten:
„Zweifellos war in den Herzen noch genug Kraft verwurzelt, um der einfachen
Gier nach Reichtum Zusammenhalt und einen geistigen Sinn zu geben“.
2.1.1 Missionare
Eine andere „Spezies“ von Eroberern und Abenteurer stellen in der brasilianischen Geschichte die Jesuiten dar, die sich vom König in Portugal erbeten hatten, die Neue Welt missionieren zu dürfen. Sie wollten, da nach dem Krieg
von 1519 Europa schon fast zur Hälfte von der katholischen Kirche abgefallen
war, diese andernorts festigen. Ihre Idee war, christliche Menschen zu formen, und je mehr, desto besser. Mit dieser visionären Kraft wollten sie ein
zukünftiges Reich errichten.
Die neue und unbekannte Welt schien geeigneter für die Missionierung
zu sein als die alte. Von sanften, unschuldigen, freundlichen und leicht gefügig zu machenden Wilden erreichten Portugal Berichte. Die ersten sechs Jesuiten, „Soldaten Christi“, die mit sechshundert Soldaten und vierhundert degregados nach Brasilien segelten, hatten die Erlaubnis erhalten, im „Papageienland“ zu missionieren. Sie hatten sich folgende großzügige Pläne ausgedacht:
Sie wollten Siedlungen errichten, um die Heiden zu taufen und dann zu
Christenmenschen zu erziehen. Das Projekt sollte in ferner Zukunft bei den
Kindern und Kindeskindern Früchte tragen. Die weltliche und geistige Macht
der Siedlungen, des Staates, den sie errichten wollten, sollte ihnen, den Priestern gehören.
56
Vgl. Wätjen (1921:240).
25
„Die Jesuiten sind keine vagen und verworrenen Träumer...... Sie sind Realisten und durch ihre Exerzitien geschult, Tag für Tag neu die Energie zu stählen, um den unermeßlichen Widerstand der menschlichen Schwächen in der
Welt zu überwinden. Sie wissen um die Gefährlichkeit und Langwierigkeit ihrer Aufgabe. Aber gerade, daß ihr Ziel von Anfang an vollkommen ins Weite,
ins Jahrhundertweite, ja ins Ewige gerichtet ist, hebt sie so großartig ab von
der Beamtenschaft und Kriegerschaft, die raschen und sichtbaren Gewinn für
sich und das Heimatland wollen. Die Jesuiten wissen genau, daß Generationen
und Generationen nötig sein werden, um diesen Prozeß des abrasileiramento57
zu vollenden, und daß jeder von ihnen, der sein Leben, seine Gesundheit, seine Kraft an diesen Anfang wagt, auch nicht die flüchtigsten Resultate seiner
Bemühungen jemals selbst erschauen wird. Es ist mühsame Saatarbeit, die sie
beginnen, mühsame und scheinbar aussichtslose Investition, aber gerade daß
sie in völlig ungepflügtem Land einsetzt und in einem Land ohne Grenzen,
steigert ihre Anspannung, statt sie zu vermindern....“
(Stefan Zweig 1994:34-35)
Die Jesuiten dachten über den Raubbauprozeß der Eroberer hinaus an
den Aufbau eines Landes mit gefügigen Menschen. Sie wollten die Eingeborenen nicht zu Tieren machen oder ausrotten oder sie als Sklaven dahinsiechen
sehen, sie wollten eine neue, nämlich ihre Nation, durch Erziehung und Mischung formen.
Die Eingeborenen, als künftige Brasilianer und bekehrte Christen, stellten für sie das kostbarste Gut dar, so schrieben sie dem portugiesischen König.
Die Eroberer und Abenteurer hatten für reichhaltigen Mischlingsnachwuchs
gesorgt, jedoch ohne die von den Jesuiten gewünschte christliche Ehe. Es
herrschten wilde Zustände der „Vielweiberei“. Später haben viele der Jesuiten selbst dazu beigetragen, die Zahl der Mischlingskinder zu vergrößern.58
„...Die schlechten, das heißt die nachlässigen, geldgierigen, sittenlosen Priester waren in unserer kolonialen Welt nie die Ausnahme. Und diejenigen, die
gegen den allgemeinen Sittenverfall vorgehen wollten, fanden schwerlich Mittel dazu. Von ihnen wird der größte Teil wie unser erster Bischof gedacht haben, daß in einem so neuen Land sehr viel mehr Dinge entschuldigt als bestraft werden“.
(Brief des Bischofs von Salvador 1552, in: Hist. da Col. Port.III S.364; Zit. in
Buarque de Holanda 1995:138)
Den katholischen Priestern in Brasilien oblag die Überwachung und
Durchsetzung der sozialen Kontrolle und der ideologischen Domestikation der
Schwarzen. Hier zeigten die Jesuiten ihre besondere Art der Nächstenliebe:
Die Schwarzen sollten vom biblischen Kain abstammen, während die Weißen
zu Abel gehören. Damit begründete sie die Sklaverei als gerechte Strafe für
die begangenen Sünden Kains. Sie behaupteten, daß diese durch das Opfer der
Sklaverei gerettet werden könnten.
Sie stellten die körperlichen Stärken der Schwarzen gegenüber den Indianern als Legitimation für ihre Versklavung in den Vordergrund, sowie den
„von Natur aus sklavischen Charakter des schwarzen Volkes, das zu allen Ar-
57
58
Der Prozeß Brasilien zu „formen“, zu unterwerfen, dem eigenen Willen gefügig machen.
Vgl.: Zweig (1994:20-69) und Buarque de Holanda (1995:22-101).
26
beiten fähig ist“. Die Jesuiten versuchten, die Konflikte zwischen Sklaven und
Kolonialherren zu beschwichtigen und versprachen den Sklaven, „daß sie später im Himmel Kuchen essen werden dürfen“ Es war ihnen klar, daß jemand
die anfallenden Arbeiten verrichten mußte und mit der Versklavung der
Schwarzen schien dieses Problem gelöst zu sein und beeinflußte ihren Machtbereich, den ihre indianischen Schützlinge darstellten, in keiner Weise. Zudem
ging diese Meinung konform zu der der Kolonialisten, was von nicht unerheblichem Vorteil war. (Zitate nach dem Jesuitenprediger Vieira, Mitte des17. Jhs.
zit. in Hofbauer 1989:9).59
Die größte Plage, unter der die in den Wäldern wohnenden Jesuiten litten, war, daß die Sklavenfänger oftmals in ihre mühsam errichteten Eingeborenensiedlungen einbrachen und die neuen Christen einfach dorfweise wegschleppten, worauf sie wiederum neue Heiden für ihre Mission suchen mußten.
Manche padres zogen mit Sklavenfängern in den Krieg, um Menschen zu fangen. Das weite exotische Land verführte viele zu unchristlichen Taten. Der
weltlichen Verlockungen waren viele, und die Missionare waren nicht immun
dagegen.
Ihren Taten werden in der Geschichtsschreibung im allgemeinen positiv
bewertet, und sie werden freundlicher und arbeitsamer als die Abenteurer
und Eroberer geschildert. Eine ihrer größten Taten soll gewesen sein, sich gegen die Versklavung der Indianer eingesetzt und zudem geometrische Häuserund Straßenzüge entworfen zu haben. Ihnen war jedoch nicht zu trauen. Noch
heute werden die padres von Mitgliedern der baianischen Bevölkerung um das
reichhaltiges, gutes Essen, daß sie täglich genießen dürfen, beneidet. Mit einigen von ihnen wird selten das Bild der arbeitsamen Aufopferung im Dienste
der Nächstenliebe verbunden.
Unbescholtene Touristen mit den Jesuiten vergleichen zu wollen, wäre
etwas zu weit gegriffen. Ein gewisser missionarischer Eifer ist einigen von ihnen, wenn auch nicht auf der Basis des Katholizismus, jedoch nicht fremd.
Viele Reisende aus der ersten Welt demonstrieren auch heute noch, daß sie
vieles besser wissen als ihre Schwestern und Brüder in der Dritten Welt und sie
einen fixen (visionären) Plan haben, wie die Zukunft aussehen soll.
59
Eine weitere Predigt von Vieira (1663) verherrlicht das Märtyrertum der Sklaverei folgendermaßen:
„Auf einer Zuckerrohrplantage seid ihr dem gekreuzigten Christus ähnlich! Weil ihr auf eine
ähnliche Weise leidet, wie er selbst am Kreuz und während seines gesamten Leidensweg litt.
Der entkleidete Christus- und auch ihr nackt; Christus ohne etwas zu essen - und auch hier
hungrig. Christus in allem schlecht behandelt - und auch ihr in allem schlecht behandelt. Die
Eisen, die Gefängnisse, die Peitschen, die Wundmale, die Beschimpfungen, aus dem allem ergibt sich diese Ähnlichkeit, die auch euch, wenn ihr euch in Geduld übt, zu ehrbaren Märtyrern machen wird.“ (Predigt Nr. 27/ Bahia; in Ramos de Almeida 1978:274)
27
2.2 Die verharmlosende Geschichtsschreibung und
die grausame Realität
Die Geschichtsschreibung und ihre Interpretation der Gegebenheiten vollzog
und vollzieht sich in unterschiedlichster Weise, je nach persönlicher Wertung
des Schreibers und dessen jeweiligen Intentionen. Dokumente, wie z. B. in der
brasilianischen Geschichte nach Abschaffung der Sklaverei, können verbrannt
werden, um die Geschichtsschreibung zu beeinflussen. Grausame Heldentaten
können beschönigt werden oder einem edlen Ziel für die Menschheit oder Teile der Menschheit dienlich gedeutet werden. Herrschende und Unterdrückte
würden eine unterschiedliche Geschichtsschreibung formulieren, wenn sie
gleichberechtigt Geschichte schreiben dürften.
Die brasilianische Geschichtsschreibung verharmlost das Kapitel der
Sklaverei durchgängig. Sie ist geprägt vom Stolz ehemaligen Heroentums. Ethnologen und Historiker haben seit Anfang des letzten Jahrhunderts versucht,
die Geschichte der Unterdrückten aufzuarbeiten. Dies vollzog sich meist mit
der Absicht, Phänomene schwarzer und indianischer Kultur, welche als Nebenprodukte der brasilianischen Gesellschaft gedeutet wurden, zu dokumentieren. Widerstand und Protestbewegungen gegen die Maßnahmen und Wirkung der Eroberer waren nicht von ihrem Interesse.
Die Eroberung der „Neuen Welt“ ist in jüngster Zeit erneut in das öffentliche Bewußtsein gerückt, u.a. durch neue Protestbewegungen der dortigen Unterdrückten gegen aktuelle Zustände der Ausbeutung an ihnen sowie an
ihren Lebensräumen. Dadurch wurden u.a. ebenfalls heftige Kontroversen über die moralische Integrität der Eroberer ausgelöst.
Pierre Verger, französischer Historiker, hat sehr viel zu einem neuen
Geschichtsverständnis beigetragen. Anderen wie Roger Bastide verdankt die
heutige Ethnologie eine Menge von wichtigen Informationen, auch wenn diese
nicht frei von der Bewertung der überlegenen, herrschenden Klassen sind. Kritische Stimmen existierten jedoch schon immer:
„Die Eroberung der Tropen vollzog sich nicht nach einem bewußten Plan und
entstammte keinem konstruktiven, energischen Willen. Sie vollzog sich eher
nachlässig und in einer gewissen beiläufig rücksichtslosen Art. Man könnte
sogar sagen, sie vollzog sich trotz derer, die sie unternahmen.“
(Buarque de Holanda 1995:23; Historiker)
Brasilien nimmt in der Geschichte der Kolonialisierung Lateinamerikas
eine Sonderposition ein. Die Kräfte des kleinen Portugals waren durch die Entdeckungs- und Eroberungszüge nach Nordafrika und Ostindien erschöpft. Nach
der Entdeckung Brasiliens durch Pedro Alvares Cabral und der im Vertrag von
Tordesillas (1494) geregelten Zusprechung Brasiliens mußten sich die Portugiesen deshalb mit kleinen Niederlassungen entlang der Küste begnügen. Hätten
sie sich über das weite Land verstreut, wäre die Gefahr groß gewesen, daß sie
eventuell gefundene Schätze nicht dem portugiesischen König überbracht hät-
28
ten, da sie keinerlei Kontrolle ausgesetzt gewesen wären. Die Küstenstreifen
waren am ehesten überschaubar.60 1532 wurde Brasilien von der portugiesischen Krone in zwölf Kapitanien aufgeteilt, die in feudalistischer Art wie Lehen vergeben wurden. So sollte ein Anreiz geschaffen werden, das wirtschaftliche Potential der Kolonie für das Mutterland auszuschöpfen.
Die Begegnungen mit den Indianern wurden von den damaligen Geschichtsschreibern fälschlicherweise als friedlich beschrieben und absolut verharmlost.61 Meist gewaltsamer sexueller Verkehr mit Indianerinnen und zu
späteren Zeiten mit den Sklavinnen aus verschiedenen Gegenden Afrikas schufen die Basis für die heutige charakteristische Rassenmischung in Brasilien.
In den ersten Jahrzehnten wurde mit Brasil-Holz, exotischen Tieren und
indianischen Kuriositäten gehandelt. Indianische Sklaven wurden gefangen und
dem portugiesischen Hof als Geschenk mitgebracht. Kleinere landwirtschaftliche Unternehmungen versuchten sich im Anbau von Agrarprodukten, später,
mit mehr Bevölkerung wurden Zuckerrohrplantagen im Nordosten aufgebaut.
Ab dem 17. Jh. brachten sie rentablen Erfolg.
2.3 Brasiliens Reichtum: Schwarzes Elfenbein statt
Gold
„...neben dem ständigen Export von Zucker und Tabak blüht ein anderes,
dunkleres Geschäft, der Import von „schwarzem Elfenbein“.
(Stefan Zweig, 1994:53).
Aus Mangel an Arbeitskräften und wegen der Untauglichkeit der Indianer, die sich als Halbnomaden und Jäger nicht für Plantagenarbeiten eigneten,
wurden mehr und mehr Sklaven aus Afrika importiert.62 Der Import von
60
Zur Geschichte der Eroberung und der Raubzüge der anderen lateinamerikanischen Länder
siehe Gerbert 1970: 9-10 u.a. Die brasilianische Eroberung ist nach ihm von vornherein von
wirtschaftlichen Interessen bestimmt und trägt nicht christlich-imperiale Züge. Er sieht hier
Übergänge in die frühkapitalistische Gesellschaftsordnung. Ein weiterer Unterschied zu den
Eroberungszügen der Spanier, die loszogen, um Gold und Edelsteine zu rauben und die Indianer zu unterwerfen, besteht bei den Portugiesen in Brasilien darin, daß sie bis zur Mitte des
17. Jahrhunderts. nicht über einen kleinen Küstenstreifen hinauskamen. Ausnahmen waren
kleinere Streifzüge, um Sklaven zu fangen. Bei diesen Streifzügen vernichteten sie aber ebenfalls die Indianersiedlungen und kehrten mit ihren gefangenen Sklaven in die Küstenregion
zurück. Die Besiedlung weiterer Regionen Brasiliens begann Ende des 17. Jahrhunderts.
61
Sieht man davon ab, daß es sich um Massen- und Völkermorde, Vernichtungen durch eingeschleppte, den Indianern unbekannte Krankheiten, erfolgreiche und mißlungene Sklavereiversuche handelte, kann diese Beschreibung, z.B. im Vergleich mit der mexikanischen Eroberung
als aus der Perspektive der Beschreibenden höchstens ironischerweise als friedlich bewertet
werden. Aus der Sicht der Ureinwohner würde die Geschichtsschreibung jedoch gänzlich anders aussehen und die Wahrheit beim Namen nennen. Vgl.: Beyhaupt 1993, Zweig (1994:61)
„Den Paulisten scheint es einfacher und zugleich spannender, statt am Markt in Bahia sich
Neger zu kaufen, die Eingeborenen mit Hunden und Pferden in scharfer, die Sinne erregender
Jagd wie Hasen einzufangen...“
62
Zudem verbot die Kirche die Versklavung der Indianer mit der Begründung, deren Missionierung nicht gefährden zu wollen (Vgl. Gerbert 1970:12). Die Untauglichkeit der indianischen
Sklaven bezieht sich jedoch auf deren günstige Fluchtmöglichkeiten in die für die Portugiesen
ungangbaren Wälder mit den vielen feindlichen indianischen Siedlungen dort, welche die entlaufenen indianischen Sklaven aufnahmen sowie auf die nicht vorhandene Resistenz gegen-
29
schwarzen Sklaven aus Afrika nahm riesige Ausmaße an.63 Seit 1549 ist die Einfuhr afrikanischer Sklaven nach Brasilien wahrscheinlich von Portugal gesetzlich genehmigt gewesen.64
Seit dem 17. Jh. ist das Hinterland (recôncavo) von Salvador da Bahia
mit den Städten Cachoeira, São Felix, Santa Amaro und Feira de Santana das
Kerngebiet der baianischen Zucker- und später Tabakproduktion. Die Zuckerherstellung im Nordosten Brasiliens übertraf bald alle übrigen Weltkonkurrenten, was dem Sklavenhandel einen riesigen Aufschwung und neue Qualitäten
verlieh. Aus verschiedenen afrikanischen Ethnien wurden die ersten Sklaven
hierher gebracht (die ersten 1532), um auf den Plantagen zu arbeiten. Zwischen dem 16. und 19. Jh. (bis 1851) schickte man ein Drittel aller brasilianischen Sklaven in dieses Gebiet. Die Schätzungen über die Anzahl der aus Afrika nach Brasilien verbrachten Menschen aus Afrika belaufen sich auf 4,6 bis 6
Millionen Menschen. Jahrhundertelang hat folglich die Zucker- und Tabakmonokultur das Leben zwischen "Herrenhaus und Sklavenhütte" geprägt. Der hohe
Anteil an schwarzer Bevölkerung (80%) in diesen Regionen bedingt alle damit
zusammenhängenden kulturellen Merkmale wie Religion, Musik, Tanz, traditionelle Küche u.v.a. (Oliveira Pinto 1991)
Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung, vor allem in Bahia,
hat in den letzten Jahrhunderten folgende Entwicklung genommen:
Im kolonialen Brasilien übertraf die farbige Bevölkerung die weiße bei
weitem.65 Mitte des 18. Jahrhunderts waren 60% der Bevölkerung Sklaven.
Nach 1850 wurden weniger Sklaven importiert, und die Mischlingsbevölkerung
nahm zu, da neue Einwanderer aus Portugal vorwiegend alleinstehende Männer waren.66
über den eingeschleppten Krankheiten (Pest/Pocken). Immerhin wurden sie von 5 Millionen
Menschen auf 220 000 reduziert und der Prozeß geht noch heute weiter. „Über dem Blut der
Eingeborenen begannen schließlich die kolonialen Zuckerrohrplantagen zu sprießen“ (Hoornaert 1979:62).
63
Den Portugiesen war die Sklaverei vertraut, sie hatten 1441 die ersten Afrikaner von ihren
Entdeckungsreisen nach Lissabon mitgebracht. 1445 begannen portugiesische Siedler auf
Madeira Zuckerrohr anzupflanzen, auch sie benutzten afrikanische Arbeitskräfte. Damit war
das Modell der auf Sklavenarbeit beruhenden Zuckerrohrplantage geboren, das in Brasilien
fortgesetzt wurde. 1550 waren 10% der Einwohner Lissabons schwarze Sklaven (Vgl. Gerbert
1970:11 und Hofbauer 1989:6).
Im europäischen Mittelalter wurden zudem Sklaven als Haussklaven benutzt.
64
Koch-Weser 1976:71.
65
Dies ist bedingt durch die große Zahl der importierten Sklaven. Die Geburtenrate der schwarzen Bevölkerung stieg kaum an, die Sterberate war, so Koch-Weser 1976: 101 größer, z.T.
auch durch Selbstmorde und Tötung von Neugeborenen bedingt, um das Los der Sklaverei zu
vermeiden.
66
Die Statistiken weisen Schwächen auf, der jeweilige Zensor schätzte die Mischlingstypen und
Hautfarbe nach seiner persönlichen Auffassung ein. Außerdem wurden mit der Abschaffung
der Sklaverei die meisten Dokumente und Statistiken verbrannt. (Koch-Weser 1976:104)
Reiseberichten aus dem Ende des 19.Jh. zufolge sollen in Salvador und Rio die Straßenbilder
ganz von Schwarzen geprägt gewesen sein.
30
1585 lebten in Brasilien 24.750 Weiße, 18.500 von den Kolonisatoren
auf ihre Art "zivilisierte" Indianer und 14.000 Afrikaner.67 1660 waren 74.000
Weiße sowie freie Indianer und 110.000 Sklaven, Afrikaner und Mischlinge. Zu
Beginn des 19. Jahrhunderts wurden offiziell 3.854.000 Weiße, 4.862.000 Mulatten und Mestizen und 1.996.000 Schwarze erfaßt.
Salvador da Bahia war bis 1763 die brasilianische Hauptstadt, Haupthandelspunkt für Portugal. Dorthin wurde die größte Anzahl an Sklaven versendet. Salvador ist, mit heute ca. 80% an schwarzer Bevölkerung die afrobrasilianische Metropole des Landes geblieben.
Nachdem die Portugiesen ihre Arbeitskräfte zunächst von der nördlichen Guinea-Küste herbeischafften, zogen sie zum Sklavenfang südlich nach
Kongo und Angola. Dort trafen sie auf kleinere Häuptlingstümer, die ähnlich
wie die europäisch-mittelalterlichen Feudalgesellschaften strukturiert waren.
Sie erwarteten, daß in Angola ein „unerschöpflicher Sklavenmarkt bis ans Ende der Welt“ (laut Bericht eines königlichen Beamten, 1591) ihren Reichtum
sichern würde.68
Der Ursprung der afro-brasilianische Bevölkerung ist heute nicht mehr
genau rekonstruierbar, die Regionen umfassen Zentral- und Ostafrika, die Atlantikküste und weite Regionen im Hinterland. Roger Bastide (1971:67-68) beschreibt die Gesamtheit der Afrikaner, des „schwarzen Elfenbeins“ Brasiliens,
kurz und prägnant:
„Afrika sandte nach Brasilien schwarze Erzieher und Bauern, Männer aus den
Wäldern und der Savanne, Zivilisationsträger aus runden und aus rechteckigen
Häusern, aus totemistischen Zivilisationen, matrilinearen und patrilinearen,
Schwarze, die mächtige Königstümer kannten, andere, die nur eine tribale Organisation besaßen, islamisierte Neger und andere animistische Afrikaner, die
polytheistische Religionssysteme besaßen, andere, die Ahnen aus ihrem Lineage-System verehrten“.69
Nach de Hohenstein (1991:34-35) kommen die Sklaven aus vier Ursprungsregionen, die von Verger (1987:7-9) als sogenannten Zivilisationen aufgestellt wurden. Ich führe diese Gruppe hier an, weil sie einen der Versuche
darstellt, die Ursprünge der Afro-Brasilianer in Bahia zu rekonstruieren. Dies
ist bei den Bewegungen der Schwarzen in Salvador heute wichtiger Diskussionspunkt, da sie sich auf ihre Wurzeln rückbesinnen wollen.
Der Sklavenhandel wird, entsprechend dem ethnischen Ursprung der
Sklaven, in vier Perioden eingeteilt (nach Viana Filho1946):
1. Periode: Guiné-Zyklus ab Mitte des 16. Jhs.
Die seit Jahrhunderten fortgeschrittene Rassenmischung macht es weitgehend unmöglich,
Brasilien anhand der rassischen Ausgangskomponenten, deren Benutzung flexibel gehandhabt
wird (negroid, weiß, indianisch), zu charakterisieren. (Koch-Weser 1976: 108)
67
Nach dem gelehrten Missionar Anchieta (in Gerbert 1970:12).
68
Vgl. Hofbauer (1989:6-27).
69
Vgl. de Hohenstein (1991:38).
31
• Nigeria, Togo, Ghana, Dahomey (Benin), Liberia, Elfenbeinküste und kapverdische Inseln.
2. Periode: Angola- und Kongo-Zyklus, im 17. Jh.
• Kamerun, Gabun und die heutigen zentralafrikanischen Republiken.
3. Periode: Minenküsten-Zyklus im 17.Jh.
• Dahomey und Nigeria
4. Periode: Benin-Zyklus von 1770-1850.
• Dahomey und Nigeria.
Nach de Hohenstein (1991:36-37) sollen sich die Zivilisationen wie folgt
zusammensetzen:
♦ Die sudanesische Zivilisation: Mitglieder der Yoruba Stämme Nagô, Ijesa, Egba,
Ketu. Aus Benin Jeje, Ewe, Fon. Fanti-Ashanti: Krumans, Agni, Zema, Timini.
♦ Die islamische Zivilisation: Peul, Mandinga, Hausa, Taba, Bornu, Gurunsi.
♦ Die Bantu-Zivilisation: aus Angola-Kongole, Ambundu, Kasanga, Bangala, Imbangala, Dembo, Kongo, Kabinda.
♦ Die Bantu-Zivilisationen aus Moçambique, Makau und Angiko. (von Ramos 1934 in
de Hohenstein 1991:36-37).
Leider habe ich hierzu keine alternative Darstellungsform, denn es existiert keine.
1890, zwei Jahre nach Abschaffung der Sklaverei, wurden die exakten
Dokumentationen über den Sklavenhandel vom damaligen Finanzminister öffentlich verbrannt, angeblich, um den Schandfleck in der Geschichte Brasiliens auszulöschen. Damit konnte der Staat Forderungen nach Entschädigungen
von den Sklavenhaltern umgehen.
Salvador besaß den höchsten Anteil an Yoruba-70 und Jeje-Sklaven. Die
Yoruba verkauften die Jeje,71 verfeindete Nachbarstämme, die sie besiegt
hatten, nach Brasilien.
Die Portugiesen perfektionierten in Bahia und Pernambuco das Sklavenhandelssystem mit 100-300% Profit durch Dreieckshandel. Zahlungsmittel waren die schwarzen Sklaven. An der afrikanischen Küste tauschten sie Sklaven
gegen billige Produkte. Sie wurden von der Küste nach Amerika verschifft und
dort gegen Rohstoff eingehandelt. Dieser wurde nach Lissabon gesendet und
dort verkauft.72
Der Menschenhandel mit afrikanischen Sklaven erwies sich für Portugal
als rentabler als der mit indianischen Sklaven. Für die Zuckerrohrplantagenbe70
In Salvador bezeichnet man heute mit Yoruba eine ethnolinguistische Gruppe und mit Nagô
ein religiöses System. Vgl. de Hohenstein (1991:36-37).
71
Jeje ist eine Abwandlung des Yorubawortes Ajeji, was Fremder bedeutet.
72
Auf diese Art und Weise erwirtschaftete Europa Rohstoffe, ohne Gold dafür ausgeben zu
müssen, was in der merkantilistischen Politik eine große Rolle spielte. Vgl. Hofbauer
(1989:7).
32
sitzer jedoch wären die indianischen Sklaven billiger in der Anschaffung gewesen. Sie griffen, wenn Engpässe mit den afrikanischen Menschentransporten
herrschten, auf sie zurück.73 Da sie jedoch reelle Fluchtmöglichkeiten hatten
und Portugal am Handel mit ihnen nicht verdienen konnte, waren sie weniger
rentabel als die afrikanischen Sklaven.
Die Unterdrückung der Eingeborenensklaverei wurde ab 1570 von der
portugiesischen Krone betrieben, um den einträglichen Dreieckshandel mit
Afrika konstant zu halten. Die endgültige Kontrolle dieser Praxis wurde im 18.
Jh. erreicht. Die katholische Kirche, die vor allem Jesuiten nach Brasilien
schickte, spielte bei der Ausschließung der Indianer aus dem Sklavenhandel
ebenfalls eine wesentliche Rolle. Hauptziel der Jesuiten war die Gründung von
Eingeborenendörfern unter ihrer religiösen und politischen Führung mit dem
Ziel, später einen Staat zu gründen. Die Jesuiten traten offiziell als Beschützer für die Indios auf, was sie jedoch nicht daran hinderte, selbst am sog. „gerechten Krieg“ gegen die Tupinamba (1569-74) teilzunehmen. Unter dem
Deckmantel humanitärer Prinzipien versuchten sie ihre Ziele zu verwirklichen.74
2.4 Stolz und Schandmal der Geschichte Brasiliens
Ab dem 17. Jh., nach der Etablierung des Sklavensystems und Abklingen der
Pest- und Pockenepidemien, arbeiteten die Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen meistens in Gruppen von 100-300 Personen. Sie standen unter der Aufsicht
des feitores (Sklavenaufseher, der meist Mestize war) und wurden von ihm mit
der Peitsche überwacht. In der frühen Kolonialzeit lag die Überlebensdauer
eines Sklaven bei fünf bis zehn Jahren, da sie von früh bis spät, meist ohne
Pausen, arbeiten mußten. Ihre Ernährung war größtenteils ebenfalls ungenügend. Bis zum Ende der Sklaverei hat sich daran nicht viel geändert.
Nach dem Gesetz ordenações filipinas (1603) wurden sie wie Tiere behandelt. Ihr Eigentümer hatte sämtliche Rechte über sie. Er durfte sie verkaufen, vermieten, verpfänden, vermachen und sogar töten. Ebenfalls hatte er
das Recht, über die Zukunft der Ungeborenen zu verfügen. Bei Ungehorsamkeit des Sklaven standen ihm alle Mittel der Bestrafung zur Verfügung, die von
Auspeitschungen bis zu brutalen Verstümmelungen reichten.
Die Sklaven wurden von Mitgliedern der gleichen Ethnie und Lineage getrennt und im ganzen Land als Arbeitskräfte für Zucker- und Kaffeeplantagen,
Minen und in den Städten für die Haushalte verkauft. In den Städten war das
Sklaven/Sklavenhaltersystem differenzierter als auf den Plantagen, wo der
Herr/Sklave-Dualismus maßgeblich war. In der Stadt Salvador gehörten die
Sklavenbesitzer verschiedenen Gesellschaftssektoren an, dementsprechend
73
Im Gegensatz dazu soll den Spaniern die Unterwerfung der Inka und Azteken leichter gefallen sein, da sie nur die Spitze der sozialen Pyramide abbauen mußten, um den gesamten Staat
zu kontrollieren. Vgl. Hofbauer (1989:7).
74
Vgl. Hofbauer (1989:8).
33
wurden die Sklaven in verschiedene Gruppierungen eingeordnet: als Haussklaven, Mietsklaven und Verdienstsklaven. Im Dienstleistungssektor arbeiteten sie
als Verkäufer, Schiffsentlader, Sänften- und Lastenträger. Es soll sogar ehemalige Sklaven gegeben haben, die selbst Sklaven besaßen.
Auf Grund ihrer unterschiedlichen Stellungen und ethnischen Differenzen waren die Sklaven unter sich gespalten. In der Stadt war es leichter als
auf den Plantagen, gesellschaftliche Freiräume zu erobern. Die Stadtsklaven
konnten sich, da sie nicht der ständigen Kontrolle ihrer Herren ausgeliefert
waren, bei ihren Tätigkeiten, z. B. Verkauf der Waren des Herrn auf dem
Markt, freier bewegen. Sie setzten mit ihren Herren einen Preis für die Waren
fest und erwirtschafteten sich aus den Verkäufen Überschüsse, die sie sparten, um sich freikaufen zu können.
Mitglieder verschiedener afrikanischer Kulturen trafen sich in Brasilien
unter den extremsten Bedingungen der Sklaverei. Im Lauf der Zeit fanden viele der Sklaven einen gemeinsamen Nenner: die Freiheit aus der Sklaverei. In
ihrer Freizeit, sofern es sie gab, fanden die Sklaven Möglichkeiten, zum Teil
getarnt, Elemente ihrer afrikanische Kultur zu leben. Sie veranstalteten ihre
eigenen Feste mit dazugehörigen Tänzen, Gesängen, ihrer Musik und ihren
eigenen Göttern. Im Laufe der Zeit entwickelten sie ihre eigene kollektiven
Identität, die sie der weißen gegenüberstellten.
Die Sklavenbesitzer besaßen ebenfalls keine politische Einheit. Die einen vertraten ihren Sklaven gegenüber eine konservative, strenge Linie, andere behandelten sie liberaler, weil sie Sklavenaufstände befürchteten. Ihr Minimalkonsens war, das Sklavensystem aufrecht zu erhalten. Somit stellten sie
ein klassenübergreifendes Solidarsystem gegenüber den Schwarzen dar, dessen Basis, abgesehen von den ökonomischen Interessen an den Schwarzen, die
Angst vor dem Schwarzen bildete.75
Nach den Gesetzen gab es für Sklaven nur zwei Möglichkeiten, die Freiheit zu erlangen, zum einen durch den natürlichen Tod, zum anderen durch
Freigabe bzw. Freikauf. Selten legte ein Plantagenbesitzer testamentarisch
die Freilassung einiger Sklaven fest. Meist entließ er sie nach jahrelanger guter Arbeit, wenn ihr Unterhalt für ihn nicht mehr rentabel war, wenn sie
schwächer und älter geworden waren. Damit unterschrieb er jedoch ihr Todesurteil, denn die freigelassenen „ausgedienten Sklaven“, starben meist kurz
nach ihrer Freilassung als Bettler.76 Somit diente die Freilassung ausschließlich
den Plantagenbesitzern.
Viele Tausende fielen bereits den Sklavenjägern in Afrika zum Opfer.
Wieder andere begingen Selbstmord, um nicht in der Sklaverei zu enden. Manche Sklavinnen töteten ihre neugeborenen Kinder, um ihnen das Los der Sklaverei zu ersparen. Wegen der unmenschlichen Bedingungen bei der Überfahrt
von Afrika auf den Schiffen starben dabei zwischen einem Fünftel und einem
75
76
Vgl. Moura (1988:231).
Vgl. Hofbauer (1989:8-10).
34
Drittel von ihnen. Bis zum Zeitpunkt ihres Verkaufs, bis zu dem sie in Gefängnissen in kleine, von ihnen absolut übervölkerte Zellen gesperrt wurden, starben noch mehr.
Die herrschende Schicht im damaligen Brasilien bildete die verhältnismäßig kleine Zahl der Großgrundbesitzer und der höchsten Verwaltungsbeamten. Der höhere Klerus genoß durch Schenkungen ebenfalls die Privilegien dieses Standes.77 Die große Masse der dienstleistenden Sklaven bildete den Gegenpol zur Schicht der Herren.78
Die Zuckerrohrplantage war ein eigenständiger Organismus, der sich
soweit wie möglich selbst genügte. Meistens gab es dort eine Kapelle, in welcher der Pater die Messe las. Er war zugleich Lehrer für die weißen Kinder, die
dort lesen und schreiben lernten. Das tägliche Essen kam von den Pflanzungen, vom Fischfang, Schweinestall und Hühnerhof. Möbel wurden in den eigenen kleinen Sägereien und Schreinereien hergestellt. Es gab alle Berufe wie
Steinmetze, Barbiere, Schlachter, Zimmerleute, Fischer und Jäger.79
Die Familie des Plantagenbesitzers und alle dort versammelten Sklaven
unterstanden seiner patriarchalischen Autorität. Seine Macht wird als scheinbar unbegrenzt, das Bild der Familie als mächtig, fordernd und zusammenhaltend beschrieben.
Den Sklaven war es von Sklavenhaltern und der katholischen Kirche verboten, ihre Kultur, explizit ihre Religion, auszuüben. Sie taten es heimlich,
indem sie ihre Götter mit den Namen christlicher Heiliger tarnten. So entstand
ein Synkretismus80 aus afrikanischer81 und katholischer Religion, der bis heute
existiert.
Die Fazenden (Plantagen) waren wirtschaftlich autark, und Städte spielten, im Unterschied zu den Verhältnissen in den spanischen Kolonien, kaum
eine Rolle. Kleinhandel und Gewerbe existierten nur am Rande, und eine die
beiden Gegenpole ausgleichende Mittelschicht bildete sich nicht. Industrie,
verschiedenes Handwerk und Textilmanufakturen wurden durch die portugiesische Krone unterbunden, damit Brasilien vom Mutterland abhängig bleiben
sollte.
77
Vgl. Bastide 1958, der die Dichotomie der Kolonialgesellschaft und ihr Fortbestehen bis ins
20. Jh. beschreibt und analysiert.
78
Ihre Hütten (senzalas) umringten den Herrenhof (casa grande). Vgl.: Freyre, 1965: Herrenhaus und Sklavenhütte. Ein Bild der brasilianischen Gesellschaft.
79
Vgl. Buarque (1995:79).
80
Den Begriff Synkretismus verwende ich aus der Unvermeidlichkeit heraus, daß alle Autoren,
die zu diesem Thema gearbeitet haben, ihn benutzen. Im weiteren Verlauf des Kapitel 2 werde
ich darstellen, daß ich diesen Begriff für unangebracht halte, da mit ihm die Selbständigkeit
der afrikanischen Religion verleugnet wird. Damit ist er gemessen an den sozialen Realitäten
unangebracht. Ebenso verdunkelt er existierende Sachverhältnisse. Der Begriff Synkretismus
läßt sich in der Auseinandersetzung mit den anderen Autoren nicht vermeiden, und ich werde
ihn künftig in Anführungszeichen setzen.
81
Eine hervorragende Darstellung der Religion findet sich bei Verger 1981 und Bastide 1961
und 1971.
35
Es entstand eine große "marginale" Bevölkerungsgruppe, die beständig
zunahm. Sie bestand aus Neueinwanderern, die oftmals keine Berufe hatten,
Mulatten und Mestizen, die sich weigerten, als Sklaven zu arbeiten. Da sie aber nicht als Weiße anerkannt wurden, hatten sie keine beruflichen Chancen.
Viele Schwarze und Indianer, die von den Plantagen geflohen waren, tauchten
im Urwald unter.82
Ihre Überlebenschancen in den Wäldern waren anfänglich gering. Sklavenfänger durchforschten die Wälder, um sie wieder einzufangen. Manchen
Schwarzen gelang es, in den entfernt und versteckt liegenden Indianersiedlungen aufgenommen zu werden.
Die Versklavung bedeutete für die Afrikaner die Loslösung vom afrikanischen Gesellschafts- und Familienverband, von traditionellen Werten, Normen, Sprache und Religionsausübung.83 Die Auswirkungen von über 400 Jahren
Unterdrückung und Versklavung prägen Brasilien, seine Gesellschaftsstruktur
und seine Bewohner bis heute.
2.5 Die Stärke des schwarzen Manns - Freiheitsbewegungen: die quilombos
Die Schwarzen, die in die Wälder im Hinterland geflohen waren und dort überleben konnten, bildeten quilombos (Siedlungen entflohener Sklaven). Wenn
sie alleine flohen, hatten sie meist geringe Überlebenschancen, in Gruppen
war das Überleben einfacher. Quilombos entstanden während des gesamten
Zeitraumes der Sklavereigeschichte überall, wo es Sklaverei gegeben hat und
die Versklavten Widerstand geleistet haben, indem sie flohen.
Entsprechend der Besiedlung und Wirtschaft Brasiliens waren die ersten
Fluchtbewegungen in den ersten zwei Jahrhunderten von den Plantagen im
Nordosten des Landes und ab dem 18. Jh. verstärkt in den damals neu erschlossenen Mienengebieten in Minas Gerais. Die quilombos entstanden nicht
nur im schlecht begehbaren Hinterland, auf Berggipfeln, in tiefen Tälern und
im Innern undurchdringlicher Wälder, sondern ebenfalls in Stadtnähe.
Durch ihr Vorhandensein reizten sie andere Sklaven zur Flucht, da die
Aussicht auf die mögliche Aufnahme in ein quilombo die Erfolgschancen der
82
Gerbert 1970:14 u.a. sind der Ansicht, daß die Marginalbevölkerung aus der Kolonialgesellschaft resultiert und nicht erst eine Erscheinungsform des modernen sozialen Wandels darstellt. Die Grundzüge der heutigen brasilianischen Gesellschaft sollen auf der Existenz der
Herren und Sklaven und randständigen Gruppen basieren, die alle innenpolitischen Kämpfe,
Reformen und Revolutionen überlebten. Gerbert ist sich bewußt, daß das Gesellschaftsbild auf
diese Weise vereinfacht wird.
83
Koch-Weser 1976:86 bemerkt hierzu, daß, obwohl viel an afrikanischer Kultur in Brasilien
erhalten geblieben ist, dies nicht über die grundsätzliche Bedeutung dieses Einschnitts hinwegtäuschen dürfe. Die Sklaven wurden nicht als Personen, sondern als Sache angesehen, waren wehrlos gegenüber Strafen, hatten kein Recht auf Besitz, selbständiges Leben, Handeln
und Familie. Ihr einziger Schutz waren die öffentliche Meinung und ihr finanzieller Wert, der
sie vor lebensgefährlichen Strafen bewahrte. Zwar wurden Vergehen an Sklaven von der portugiesischen Krone verurteilt, aber Kontrolle darüber konnte nicht ausgeübt werden.
36
Flucht erhöhte. Manchmal liefen die Sklaven in Gruppen davon, um in diesen
Siedlungen Schutz zu suchen. Je nachdem, wie lange die Siedlungen existieren
konnten und um welche Anzahl von Flüchtlingen es sich handelte, gründeten
sie verschiedene soziale, politische und ökonomische Gesellschaftsformen, die
sowohl ihre eigenen, aus Afrika stammenden als auch die in der Neuen Welt
erfahrenen sozio-kulturellen Traditionen beinhalteten.
Quilombos, auch Rebellennester genannt, stellten ökonomische, soziale
und politische Organisationen dar, gebildet von geflohenen Sklaven, um gegen
die Sklaverei zu kämpfen.84 Sie wehrten sich gegen die Versuche der Sklavenjäger, sie erneut zu versklaven. Zum Teil überfielen sie Siedlungen und Zuckerrohrplantagen, um Lebensmittel, Gebrauchsgegenstände, Feuerwaffen
und Sklavinnen zu rauben. Wenn sie eine gewisse Größe erlangt hatten, hatten
sie recht gute Überlebenschancen, da die Plantagen oft nicht stark genug besiedelt waren, um größere Legionen gegen sie zu erstellen. Die meisten ernährten sich in Subsistenzwirtschaft von Bohnen-, Mais-, Maniok-, Süßkartoffelanbau sowie Fischfang und Jagd. Viele existierten nur wenige Monate und
wurden historisch nicht bekannt. Manchmal wohnten in den quilombos außer
den Schwarzen auch aus der Sklaverei geflohene Indianer. Selbst Weiße, meist
in der Kolonialgesellschaft Diskriminierte und Deserteure, schlossen sich den
quilombos an.85
Das größte bekannte quilombo mit Namen Palmares im Nordosten Brasiliens bildete eine Organisation in Form eines Staates. Palmares gilt als herausragendstes Beispiel für den kollektiven Widerstand schwarzer Sklaven. Sie
konnten fast ein Jahrhundert gegenüber den Weißen bestehen. Die Flucht vieler ihrer Mitglieder wurde durch den portugiesisch-holländischen Kolonialkrieg
(1624-30) begünstigt, da im Krieg das Kontrollsystem der Sklavenhalter nicht
so gut funktionierte.
Die Bewohner von Palmares werden auf 20 000-30 000 Personen geschätzt. 1694 wurden sie von einem 9 000-11 000 starken Bataillon niedergemetzelt. Der damalige Anführer des quilombos, Zumbi, dem die Flucht gelang,
wurde durch Verrat aus seinen eigenen Reihen ein Jahr später getötet. Sein
abgetrennter Kopf wurde in Recife, der Hauptstadt von Pernambuco, als
Mahnmal aufgespießt. Zumbi und der quilombo von Palmares sind historisch
gut dokumentiert und stellen bis heute Exempel für schwarzen Widerstand
und Widerstandskämpfer sowie Aufrechterhaltung afrikanischer Traditionen
dar.86
Eine andere Form des Widerstands waren die von den Weißen gefürchteten Sklavenaufstände. In Bahia fanden zwischen 1807-35 zahlreiche blutige
Auseinandersetzungen zwischen Weißen und Schwarzen statt. Die Nachrichten
84
Vgl. Hofbauer (1989:12-18). Nach Schürmann (1988) war die Schaffung einer eigenen Gesellschaft nach afrikanischer Tradition, abseits der weißen Zivilisation, der Kern der Initiative
vieler quilombos.
85
Zu ihrer Organisation vgl. Bastide 1971.
86
Vgl. Hofbauer (1989:8-27) und Schürmann (1988:3-15).
37
von geglückten Sklavenaufständen in Haiti verstärkten die Solidarität unter
den Sklaven. Zur Zeit des Zuckerrohrbooms (Mitte des 19. Jhs.) setzte sich die
Bevölkerung im recôncavo aus durchschnittlich sechs Weißen gegenüber hundert Schwarzen zusammen.
Die Rebellionen waren zum Teil wohl organisiert, andere waren spontan. Obwohl ihre Anführer nach den Niederlagen mit dem Tode bestraft wurden, gab es ca. alle zwei Jahre neue Aufstände. Die größte Rebellion führten
die islamischen Sklaven malê 1835 in Salvador an. Die Weißen schlugen sie
jedoch nach schweren Kämpfen nieder.87 Dieser Aufstand galt als Symbol des
schwarzen Widerstands, dem heute in Salvador von den Schwarzen der Widerstandsbewegungen wieder großer Wert beigemessen wird.
Auf passive Widerstandsbewegungen und Formen werde ich später eingehen.
2.6 Liberdade- der klägliche Anfang
1822 tobte der baianische Unabhängigkeitskrieg, bei dem die Sklaven neben
ihren Herren gegen die portugiesischen Kolonisatoren für die Unabhängigkeit
vom portugiesischen Königreich kämpften. Portugal hatte die Entrichtung hoher Steuergelder gefordert und die Brasilianer waren nicht bereit, diese zu
bezahlen. Brasilien war durchgängig vom Außenmarkt abhängig und von Portugal kontrolliert. Die Sklaven erhofften sich dabei, nach dem Krieg die Freiheit
zu erlangen. Sie wurden enttäuscht, ihr Status als Sklaven blieb bestehen.
Schon 1808 hatte England die Abschaffung der Sklaverei gefordert, womit Portugal sich einverstanden erklärt und dies für den Bereich nördlich des
Äquators unterschrieben hatte. Die Portugiesen betrieben jedoch südlich des
Äquators den Sklavenmarkt weiter.
Nach der Unabhängigkeitserklärung Bahias von Portugal 1822 war nach
englischer Ansicht der Sklavenhandel illegal. 1830 erklärte sich die brasilianische Regierung bereit, ein allgemeines Sklavenhandelsverbot auszusprechen.
Sie schafften die Sklaverei jedoch nicht ab und fanden Wege, weiterhin illegale Sklavenschiffe aus Afrika in ihren Häfen einlaufen zu lassen.
Wirtschaftlich war ab Anfang des 19. Jh. die Zeit des Zuckerrohrbooms
mit seinem Höhepunkt in der Mitte des Jhs. in Bahia, der bis Ende des Jahrhunderts andauerte. Im Bereich der Zuckerproduktion und Plantagenwirtschaft
wurden 1850 50.000 Menschen, darunter 40.000 Sklaven, beschäftigt. Nach
dieser Zeit, Anfang des 19. Jhs., wurde im Süden des Landes in ähnlichem
Ausmaß Kaffee angebaut, und Bahia und Pernambuco begannen zu verarmen.88
„Ohne diese Sklaven ist es unmöglich, irgend etwas in Brasilien zu machen;
ohne sie könnten die engenhos nicht arbeiten, noch die Äcker bestellt werden,
87
88
Vgl. Hofbauer (1989:29).
Vgl. Pinto, Oliveira (1991:16-17).
38
was zeigt, daß es in Brasilien notwendigerweise Sklaven geben muß, auf die
man unter keinen Umständen verzichten kann; wenn jemand daran Anstoß
finden sollte, so hat er unnötige Skrupel“
(Melo, zit. in Viana Filho, 1946:184).
Sowohl Plantagenbesitzer als auch Politiker vertraten die Ansicht, daß
in einem neuen, dünnbesiedelten Land wie Brasilien die Beibehaltung der Einfuhr von Schwarzen, zumindest für eine gewisse Zeit, im schlimmsten Fall ein
unvermeidliches, in jedem Fall jedoch das kleinere Übel sei, wenn man es mit
dem allgemeinen Elend vergleiche, das der Mangel an Arbeitskräften hervorrufen könne.89
Ab dem 17. Jh. hatten die Engländer den afrikanischen Sklavenhandel
an sich gerissen, sowohl in die eigenen als auch in die spanischen Kolonien in
der Neuen Welt. 1808 verboten die englischen Gesetze die Teilnahme englischer Bürger am Sklavenhandel. Illegal trieben die Portugiesen ihn ebenfalls
bis in die 70er Jahre weiter.90
Als dann tatsächlich die Sklaveneinfuhr in Brasilien eingestellt wurde,
begann ein ausgedehnter Binnenhandel mit schwarzen Sklaven, die von Norden nach Süden, von den Zuckerrohrplantagen auf die Kaffeepflanzungen verkauft wurden. Der Kaufpreis der Sklaven wurde enorm in die Höhe getrieben.
Schon bevor die Arbeitskräfte knapp wurden, setzten sich Befürworter der
Einwanderung für die freie Arbeit ein. Deren Gegner befürchteten den Ruin
der einträglichen Sklavenwirtschaft.
Die Kritiker des Sklavensystems waren keineswegs aus humanitären
Gründen für die Abschaffung des Sklavensystems. Sie sahen in der von weißen
Ausländern geleisteten Arbeit einen ökonomischen Fortschritt, da sie Sklaven
für dumm, zügellos und faul hielten und dadurch für den Arbeitsmarkt weniger
rentabel.
Die Steigerung der Produktivität wurde daraufhin mit der freien Lohnarbeit angegangen nach dem Vorbild des frühkapitalistischen Systems. Der
Arbeitgeber hatte gegenüber dem Sklavenhalter den Vorteil, daß er nicht den
Kauf der Sklaven vorfinanzieren mußte, sondern durch Bezahlung eines monatlichen Lohnes mit seinem Kapital besser wirtschaften konnte. Solange der
Sklavenhandel billige Arbeitskräfte geliefert hatte, konnte das erste Modell
funktionieren. Nachdem das Angebot an Sklaven spärlicher wurde und deren
Preise beträchtlich stiegen, wurde der freie Arbeitsmarkt rentabler.
Im Jahre 1871 wurde vom Parlament das Gesetz verabschiedet, daß
Kinder von Sklavenmüttern von nun an frei seien. Ein Freilassungsfonds wurde
geschaffen, aber aus Furcht vor Komplikationen mit den Befürwortern für die
Aufrechterhaltung des Sklavereisystems zögerte die Regierung damit, ihn zu
verwenden.
89
90
Siehe Buarque de Holanda (1995:70-75).
Vgl. Viana Vilho (1988:32)
39
1888 wurde das Gesetz für die endgültige Abschaffung der Sklaverei
verabschiedet, und Princessa Isabell, die Tochter des zweiten brasilianischen
Kaisers Dom Pedro, sprach am 13. Mai 1888 die 700.00091 existierenden Sklaven frei.
Mit geschickten Werbekampagnen gelang es, größere Mengen von Kolonisten zu der neuen Industriemetropole São Paulo und den südlichen Kaffeeplantagen, ins Land zu locken. Dadurch wurde eine drohende Revolution verhindert, aufgrund des Mangels an Arbeitskräften wären die Sklavenhalter nicht
dazu bereit gewesen, ihre Sklaven freizulassen. Den europäischen Einwanderern, die ab Mitte des Jhs. ins Land strömten, war der Prozeß der technischen
Arbeitsteilung bekannt, und sie waren zum Teil ebenfalls beruflich spezialisiert. Mit der voranschreitenden Industrialisierung waren Fachkräfte erwünscht. Es war jedoch nicht die Absicht von Industriellen und Plantagenbesitzer, ihre ehemaligen Sklaven für diese Art der Arbeit auszubilden.92
„Die Auflösung des auf Sklaverei gründenden Gesellschaftssystems vollzog
sich in Brasilien, ohne daß die Freisetzung der früheren Träger der Sklavenarbeit mit den notwendigen Unterstützungen und Garantien einhergegangen wäre, die sie im Übergang zum System der freien Arbeit hätte schützen können.
Die früheren Herren wurden von der Verantwortung für den Unterhalt und die
Sicherheit der Freigelassenen entbunden, ohne daß der Staat, die Kirche, oder
irgendeine andere Institution die Aufgabe übernommen hätte, die freigelassenen auf das neue System der Lebens- und Arbeitsorganisation vorzubereiten.
Der Freigelassene sah sich so als sein eigener Herr und für seine eigene Person, sowie die von ihm Abhängigen verantwortlich, obwohl er im Rahmen einer auf Wettbewerb gründenden Gesellschaftsordnung keineswegs über die
materiellen und moralischen93 Voraussetzungen zur Erfüllung dieser Aufgabe
verfügte“.
(Fernandes 1969:17)
Fernandes (1969:29) beschreibt zwei Möglichkeiten, die der „Neger“
und der Mulatte nun gehabt hätten: Sie könnten sich in die entstehende unterste Schicht der städtischen Arbeiterschaft einreihen oder sich zurückziehen
in die verhüllte Nichtstuerei eines “systematischen Vagabundentums” oder in
der “zufälligen Kriminalität” nach Mitteln suchen, um den Anschein und die
Würde des freien Menschen zu wahren.
91
Vgl. Fischer Weltgeschichte Bd. 23 (1993:99). Hofbauer (1989:28-29) beschreibt, daß 1888
die Sklaven auf nur noch 5% der Gesamtbevölkerung zusammengeschrumpft waren. Im Jahre
1850 stellten sie 31% der Gesamtbevölkerung. Durch die damals erfolgten Gesetze, die einerseits Neugeborene und Ausgediente „in die Freiheit“ schickte und andererseits den Sklavenbesitzern beträchtliche Abfindungen zugestand, sind viele von ihnen auf die Straßen gesetzt
worden.
92
Vgl. Fischer Weltgeschichte Bd.23, (1993: 89-117). Der Correos Paulistano vom 11.11.1887
äußerte sich über die wirtschaftliche Bedeutung des Sklaven und des Immigranten folgendermaßen: “Wenn der Sklave als Arbeitsinstrument unbrauchbar wird, muß der Besitzer darauf
sehen, daß er ihn durch ein nützlicheres Instrument ersetzt oder zumindest, daß er ihn gemäß
den augenblicklichen Arbeitsbedingungen nutzt“. Zit. in Fernandes (1969:37). Wenn Mangel
an Immigranten herrschte, griffen die Arbeitgeber immer auf die Sklaven und ehemaligen
Sklaven zurück.
93
Bei Fernandes 1969, wie bei vielen Historikern findet sich rassistisches Gedankengut. Er benutzte wie viele das Wort „Neger“ für Schwarze.
40
Die Zeugnisse zu allen Sachverhalten dieser Zeit sind widersprüchlich.
Die Weißen, die weiterhin für die Sklaverei eintraten, kommentierten alle Ereignisse, die mit den ehemaligen Sklaven zusammenhingen, mit Gehässigkeit,
andere sahen jedoch sehr wohl das große Elend, das für die Schwarzen entstanden war. Die Straßen in den Städten waren voll mit schwarzen und braunen Bettlern aller Altersklassen in materieller und sozialer Not.
Mit Entstehung des Kapitalismus in Brasilien wurden neue Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen entwickelt. Sie sind subtiler in das brasilianische Sozialsystem eingebettet als die ehemaligen Sklavengesetze. Noch
heute wird in einigen intellektuellen Kreisen und in den schwarzen Widerstandsbewegungen in Salvador diskutiert, ob nun eigentlich die Sklaverei oder
die danach entstandenen sozialen Verhältnisse schlimmer seien. Bei genauer
Betrachtung der damaligen und heutigen Lebensbedingungen der Menschen
afrikanischen Ursprungs in Brasilien fällt es schwer, hierzu eine Entscheidung
zu treffen.
2.7 Liberdade II - die klägliche Gegenwart
Die Nachfahren der Sklaven werden bis heute aufgrund ihrer Hautfarbe
diskriminiert, was sich u.a. deutlich an ihrem gesellschaftlichen Status zeigt.
Die Gruppe der Afro-Brasilianer bildet zahlenmäßig heute noch die Majorität der Bevölkerung in Salvador und in der näheren Umgebung, gleichzeitig
nehmen sie aber die unterste gesellschaftliche Stufe ein. Bei ihnen spielen
Musik, Tanz, Gesang und Religionsausübung eine wichtige Rolle für die Bestätigung und Integration des einzelnen in der Gruppe.94
Trotz der proklamierten Rassendemokratie ist noch immer ein Nachwirken der erst 1888 abgeschafften Sklaverei zu spüren. Die Gleichsetzung von
dunklem Hautton mit niedrigem sozialen Status besteht weiterhin und bildet
eine Realität der brasilianischen Gesellschaft. Den freigelassenen Sklaven
wurde keine Bildungschance gegeben, und damit blieben ihnen die Türen zu
sozialem Aufstieg verschlossen.95
Im Vergleich zu den USA herrscht ein "friedliches Nebeneinander" zwischen Weißen und Schwarzen. Die stärkste Tendenz zur Rassendiskriminierung
scheint in Mittel- und Oberschicht zu bestehen, bei ärmeren Schichten und
Intellektuellen soll sie seltener zu beobachten sein.96
94
Hierzu Oliveira Pinto, 1991:23-34.
Schwarze Brasilianer sind bis heute in der Mehrzahl finanziell und sozial schlechter gestellt
als Weiße. Die Mischlinge distanzieren sich von den Schwarzen und versuchen sozialen Aufstieg durch Identifizierung mit der weißen Gesellschaftsschicht zu erlangen. "Der Mulatte
kann der Kaste der Farbigen entkommen und stellt sich gegen den Neger; er nährt vielleicht
mehr als der Weiße die unüberwindlichsten, schlimmsten Vorurteile gegen seine Brüder".
(Bastide 1971: 424.)
96
Azevedo 1966, Bastide 1971 und Fernandes 1969 u.a. beschreiben Rassismus in Brasilien,
z.B. durch Analyse von Redewendungen u.a. Afro-brasilianisches Bewußtsein entwickelt sich
95
41
Im urbanen Bereich hat sich in den letzten Jahrzehnten ein breiter Mittelstand gebildet. Auf dem Lande haben sich alte Strukturen weitgehend erhalten. Die brasilianische Sozialstruktur weist einen geringen Anteil an Oberschicht oder Elite auf (5-10%), einen Mittelstand mit 15-20% und Unterschicht
von 70-80%.97
Die Städte Brasiliens haben seit Anfang dieses Jahrhunderts einen enormen Bevölkerungszuwachs. In allen Städten nimmt die Zuwanderung von
Arbeitsuchenden beständig zu.
Durch den Ortswechsel vom Land in die Stadt hat sich die Situation der
Migranten in allen Lebensbereichen stark verändert. Die Familien wurden gegenüber den Großfamilien auf dem Land kleiner und haben sich oft bis auf
ihren Kern reduziert. Die ursprünglichen ländlichen Funktionen im wirtschaftlichen Bereich, in Fürsorge und Erziehung haben sie verloren. Die Schutzfunktion des Familienverbands für den einzelnen verschwand dadurch.
Die soziale Kontrolle in der Stadt ist geringer, gleichzeitig öffnen sich
den Migranten neue Alternativen in allen Lebensbereichen, unter anderem in
Bereichen von Religion und Politik. Weitere Charakteristika in den Städten
sind Orientierungslosigkeit und Unsicherheit bezüglich der Lebens- und Berufserwartungen.
"Sekundäre Beziehungen" gewinnen an Gewicht, es erfolgen Zusammenschlüsse zu Arbeits- und Freizeitgruppen jeglicher Art. Die Lebensführung verändert sich grundlegend, da das Individuum nun in der Lage sein muß, verschiedenartigsten Anforderungen, einer Vielfalt von Alternativen und Situationen zu begegnen, die konträr zu dem ihm vertrauten System im Familienverband stehen.98
Um die Städte herum formierten sich riesige, immer größer werdende
favelas (Armenviertel), die oft nicht einmal Strom- und Wasserzufuhr haben.
Die Arbeitslosigkeit auf dem Land und in der Stadt ist groß. In den Städten
bieten sich öfter Gelegenheitsjobs als auf dem Land, aber die meisten der Arbeitsuchenden werden enttäuscht. Die Chancen, Arbeit zu finden sind gering,
bedingt durch Analphabetismus und Schwächung aufgrund von Mangel- und
Fehlernährung. Die sozialen Verhältnisse in den favelas sind erschreckend,
erst in neuerer Zeit dort, wo afrikanische Tradition als hoher Wert anerkannt ist und belebt
wird. Siehe movimento negro in Salvador.
97
Die Unterschicht soll aus den Armen des traditionellen Schemas und dem neuen industriellen
Proletariat bestehen. Alle Aussagen sind Schätzungen, resultierend aus Aussagen anderer Autoren (Koch-Weser 1976: 43-49). Farbige sollen wohl von der Unter- in die Mittelschicht aufsteigen können, aber haben nicht die geringste Aussicht, in die traditionelle Oberschicht zu
gelangen.
98
Camargo 1961:50-60 analysiert die Migration und die beschriebenen Merkmale der Bevölkerung, die daraus resultieren, als eine der Hauptursachen für den Beitritt der Migranten zu den
verschiedenen religiösen spiritistischen Kultgruppen und den Pfingstkirchen. Dabei gilt zu unterscheiden, daß in der Mittel- und Oberschicht kaum Kultanhänger zu finden sind, während
die Mehrzahl der Mitglieder aus der Unterschicht stammt.
42
finanzielle Nöte verhindern eine angemessene Schulbildung. Die Folge ist eine
große Hoffnungslosigkeit, die Situation verändern zu können.99
Unterernährung, Krankheiten, zum Teil wegen mangelnder Hygiene und
fehlenden Wassers sowie fehlende medizinische Betreuung bilden einige der
Charakteristika der favelas. Viele Kinder werden auf der Straße ausgesetzt,100
da niemand sie ernähren kann. Sie schlagen sich in den Städten irgendwie
durch. Die Armut bringt Kriminalität mit sich, die in den Städten beständig
anwächst.
Die Geburtenrate ist hoch, die Kindersterblichkeit ebenfalls. Nach dem
Zensus von 1970 sind 62% der brasilianischen Bevölkerung unter 30 Jahre
alt.101 Die durchschnittliche Lebenserwartung der farbigen Bevölkerung ist
aufgrund der Zugehörigkeit zu den armen und ärmsten Schichten niedriger als
die der Weißen.102
Die Löhne, welche die Unterschicht aus dem Dienstleistungsgewerbe
und niederen, ungelernten Arbeiten erhält, sind minimal. Es ist kaum möglich,
mit einem "salário mínimo", dem gesetzlichen Mindestlohn, der zudem von
den Arbeitgebern oftmals weit unterschritten wird, eine Familie zu ernähren,
geschweige denn, sie medizinisch zu versorgen und für Schulbildung und eine
Berufsausbildung zu sorgen. Der Mindestlohn beträgt umgerechnet ca. 80 USDollar, und die hohen Lebensunterhaltskosten in Brasilien stehen in keinem
Verhältnis dazu. Das Bildungssystem ist sehr schlecht, und für jegliche Ausbildung muß die Bevölkerung selbst aufkommen.103
Die Tendenz geht dahin, daß der Mittelstand verarmt und, außer für die
Oberschicht, das Leben ständig härter wird. Die Inflationspolitik der letzten
Jahre hat dazu ebenfalls beigetragen, da vor allem für die Armen große
Nachteile entstanden.
2.8 Branqueamento - Weißwerdungsprozeß
Man kann die baianische Gesellschaft nicht einfach in zwei Schichten
„schwarz“ und „weiß“ unterteilen, sondern muß immer berücksichtigen, daß
eine dritte Kraft im Spiel mitwirkt, welche als „nicht schwarz“ und „nicht
weiß“ eine komplizierte Sonderstellung einnimmt. Diese Gruppe umfaßt ethnisch Mischlinge verschiedener Hautfarben, Mulatten und Mestizen, wobei
hierbei schon die Vielfalt angedeutet ist. Inhaltlich läßt sich diese Gruppe
nicht richtig einordnen, da sie keine gemeinsamen gesellschaftlichen Ziele
verfolgt.
99
Ausführliche Beschreibung hierzu in Camargo 1973 und Azevedo 1966.
In Salvador da Bahia werden für 1994 12.000 Straßenkinder geschätzt, unter ihnen sind 90%
Schwarze. Auf diese Problematik kann hier nicht eingegangen werden (siehe Veröffentlichungen des Straßenkinderprojektes Projeto Axé in Salvador).
101
Censo 1970, Fundacão IBGE, Inst. Bras. de Estatística, Dep. de Censos, P.11.
102
Bastide 1971:419-422.
103
siehe dazu Pinto 1991.
100
43
Die Schwarzen leben in großer Konkurrenz zu den morenos (Braunen,
Mulatten), wie ich sie nennen werde. Je heller die brasilianische Haut, desto
größer sind die gesellschaftlichen und sozialen Chancen, und viele der
Schwarzen streben den Weißwerdungsprozeß an, indem sie sich mit Hellhäutigeren verbinden wollen, um sowohl an deren höheren Image teilzuhaben, als
auch um hellhäutigere Kinder in die Welt zu setzen, die damit größere gesellschaftliche Chancen haben sollen und zudem das Image des dunkleren Elternteils aufwerten.
Die Bezeichnungen der Hautfarben spiegeln ihre Bedeutung und ihre
Konnotationen wider. Bei Befragungen äußern viele Schwarze, daß sie braun
sind, viele Braune, daß sie weiß, fast weiß, quasi weiß etc. sind. Bei freundlichen Anreden wird die betroffene Person als ein Farbton heller bezeichnet,
als sie eigentlich ist, bei unfreundlichen ein Ton dunkler. Viele der Braunen
sind nicht mit Schwarzen befreundet und wollen verdeutlichen, daß sie etwas
besseres sind und darstellen. Eine Solidarität zwischen Braun und Schwarz existiert nicht, sondern harte Konkurrenz. Es ist ebenfalls keine Solidarität zwischen Braun, Hellbraun und Weiß feststellbar, auch hier ist die Konkurrenz
hart und die Grenzen fast unüberwindbar.
Nun bringt dies mit sich, daß die Braunen die afro-brasilianische Kultur
zum einen wie die Weißen ablehnen und sich davon distanzieren wollen. Dies
bringt als Problem mit sich, daß sie unter anderem Personen ihres eigenen
Raumes, ihre dunkleren Verwandten tendenziell ablehnen und diskriminieren.
Zum anderen bleibt ihnen verschlossen, die persönliche Stärkung im eigentlich
eigenen Raum zu erfahren. Im weißen Raum sind sie ebenfalls nicht willkommen, auch hier wird keine Solidarität erlebt. Sie sind somit Spiegel der brasilianischen Gesellschaft, die sich in jedem Bereich als Einzelkämpfergesellschaft
darstellt.
Für den einzelnen existiert der Mythos, einmal im Leben Anerkennung
im weißen Raum zu finden, denn immerhin gibt es Personen, die dies geschafft haben, die auf irgend eine Art und Weise zu Geld und Einfluß gekommen sind, wie der Fußballstar Pelé und andere Personen aus der Künstlerbranche oder einige der wenigen braunen oder schwarzen Intellektuellen.
Man scheint dem weißen Raum näher zu kommen, indem man den dunkleren, schwarzen ablehnt und bekämpft. Dies verschärft die Situation der
Schwarzen, die nun nicht nur den Feind Weiß, sondern auch den Feind Braun
spüren. Viel dieser Feindschaft findet auf subtile Art ihren Ausdruck, was wiederum von den Machthabern der brasilianischen Gesellschaft zum Rassenharmoniemythos stilisiert wurde.
Das bedeutet, daß der Rassismus einfach geleugnet wird. Aus dieser Vogel-Strauß-Perspektive kann derjenige, der Rassismus anprangert, der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Er muß zuerst beweisen und jemanden finden,
der seinen Beweis bezeugt, wenn er ein Opfer von rassistischen Übergriffen,
Verleumdungen, Beschuldigungen, Verachtungen u.a. geworden ist.
44
Viele Schwarze und Braune demonstrieren ihre Nähe zu Weißen durch
Kopie von weißem Verhalten und weißen Grundsätzen, indem sie behaupten,
daß kein Rassismus existiere und, daß wer meint Opfer von rassistischem Verhalten zu sein, verhaltensauffällige, unangepaßte Marginale sei, der eben
wohl mehr zufällig schwarzer bzw. dunkler Hautfarbe ist. Sie stützen die Position und den Mythos der Weißen, in der Illusion, ihnen dadurch ähnlicher oder
näher zu sein und dadurch etwas vom Glanz, von der Anerkennung und der
sozial besseren Position abzubekommen.
Die Ablehnung des candomblés ist eine der Folgen davon. Dies verdeutlicht nochmals die schwache gesellschaftliche Position sowie die fehlende Anerkennung, die den einzelnen terreiros und den Kultmitgliedern widerfährt.
Die schwarze Kultur wird jedoch heutzutage und dies fast ausschließlich im
Zuge des Interesses durch den Tourismus während der Karnevalszeit, während
zehn Tagen im Jahr, als Aushängeschild, auf das man stolz ist, vor sich hergetragen.
Alle, die sonst nicht-schwarz und nicht-braun sein wollen, treten zehn
Tage und nur dann in den Ausnahmezustand ein, genau dieses schick zu finden, was sie sonst selbst ablehnen und dies durch Kleidung und Körpergesten
wie z.B. im afro-brasilianischen Tanz zu betonen.
Der Glaube daran, daß es in Brasilien keine Rassendiskriminierung
gibt, ist immer noch weit verbreitet, obwohl die schwarze Bevölkerung eindeutig in einer zurückgesetzten gesellschaftlichen Position lebt.
104
2.8.1 Die sozio-ökonomische Situation nach Abschaffung
der Sklaverei in Brasilien
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts stellten die Sklaverei und die Teilung zwischen
Herren und Sklaven die Grundpfeiler der brasilianischen Gesellschaft dar. Wegen der im 19. Jahrhundert expandierende Kaffeewirtschaft verlagerte sich
das wirtschaftliche Zentrum in den Süden des Landes, in die Regionen São
Paulo und Rio de Janeiro. Für den ehemals reiche Nordosten, der von der Zuckerrohrwirtschaft abhängig war, brachte dies große ökonomische Verluste
mit sich.
Einhergehend mit der wachsenden Bedeutung der Kaffeewirtschaft
setzte eine Industrialisierungswelle ein. Die Sklavenarbeit wurde dabei durch
den Einsatz europäischer Arbeitskräfte ersetzt. Die freie Arbeit des Weißen
wurde der des befreiten Schwarzen vorgezogen.105
Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Einwanderungswelle
hatte ihren Höhepunkt nach der Abschaffung der Sklaverei. Während in den
104
Der Begriff Diskriminierung zielt auf Ungleichbehandlung und/oder Benachteiligung von
Personen/Personengruppen (Markefka 1990:104).
105
Beyhaut 1993:98.
45
Jahren 1881-1890 die Zahl der Immigranten bei 523 375 betrug, während es im
folgenden Jahrzehnt (1891-1900) bereits 1 443 892 waren.106
Der Anteil der weißen Bevölkerung vergrößerte sich vorwiegend in den
Wirtschaftszentren São Paulo und Rio de Janeiro. Die folgende Tabelle vermittelt einen Eindruck über die prozentuale Verteilung der Bevölkerung Rio de
Janeiros nach ihrer Hautfarbe zwischen 1872 und 1940.107
Jahr
Weiße
Schwarze
Mulatten
1872
55,2%
24,1%
20,6%
1890
62,7%
12,3%
24,9%
1940
71,1%
11,3%
17,3%
Zum Ende des 19. Jahrhundert ereigneten sich zahlreiche Veränderungen in der brasilianischen Gesellschaft: die Abschaffung der Sklaverei, die beginnenden Industrialisierung, Urbanisierung und Immigration sowie eine sich
bildende Klassengesellschaft, die sich allerdings noch nicht exakt abzeichnete.
Für die schwarze Bevölkerung Brasiliens jedoch stellte diese Übergangsphase keineswegs eine Integration in die moderne Gesellschaft dar, sondern den Beginn einer anderen Form der gleichbleibenden Diskriminierung.
„Die Kritik am Sklavensystem hatte nun keineswegs die Rehabilitation des
Schwarzen als freien Menschen im Auge. Das Schwergewicht der Überlegungen richtete sich auf die "Größe des Landes" und den Fortschritt, zu dem der
Ausländer beitrug. Gewünscht wurde die freie Arbeit des Weißen und nicht
die des befreiten Negers, der mit dem "Makel" des Sklaventums behaftet und
angeblich faul und zügellos war.“
(Beyhaupt 1993:98)
Gleichzeitig entwickelte sich in Brasilien der Mythos der Rassenharmonie, dessen Inhalt ist, daß alle Menschen aller Hautfarben gleich sind und in
der Gesellschaft und vor dem Gesetz gleich behandelt werden.
Der Begriff "Rassendemokratie" ist untrennbar mit dem Autor Gilberto
Freyre und seinem Buch "Herrenhaus und Sklavenhütte" (1934) verknüpft.108
Mit seiner Verbreitung in die USA nach dem II. Weltkrieg wurde Brasiliens
Image als Träger der Rassendemokratie im Ausland aufgebaut.
Freyre betont beständig den versöhnliche Charakter der Portugiesen als
entscheidender Faktor zur Bildung der friedfertigen brasilianischen Gesell-
106
Diegues 1964:51.
Ortiz 1978:24.
108
Neue Studien korrigieren diese Auffassung und zeigen wie Freyre im Zuge der Modernisierung des Estado Novo - unter der Regierung von Getúlio Vargas (1937-1945) - und der damit
verbundenen Notwendigkeit, die Einheit der Nation zu proklamieren, doch auf regionalen Differenzen beharrt. Damit nimmt Freyre heute aktuelle Konzepte des Multikulturalismus vorweg. Vgl. Araujo 1993.
107
46
schaft. Die Vermischung von Indianern, Schwarzen und Weißen, wie in den
Hautfarben der Bevölkerung ersichtlich, ist laut Freyre ein Zeichen der Toleranz der Kolonisatoren.
Darauf stützt sich die These, daß man aufgrund der Vermischung nicht
mehr sagen könne, wer welche Hautfarbe habe, wodurch jede Form der Diskriminierung aufgrund der anderen Hautfarbe vertuscht wird. Die Elite Brasiliens identifizierte sich mit dem Mythos der Rassendemokratie, denn dadurch
konnte sie ihre gesellschaftlichen und sozialen Verpflichtung einfacher umgehen.
„Das Etikett der Rassendemokratie dient hauptsächlich dazu, und dies erklärt
seine Beliebtheit, bei der weißen Mittel- und Oberschicht Brasiliens die
tatsächlich bestehenden Rassenvorurteile und Diskriminierungen zu
verdecken: wo Rassendemokratie als bereits gegeben unterstellt wird, lassen
sich Forderungen nach ihrer Herstellung wirkungsvoll zurückweisen. Mit der
Ideologie der Rassendemokratie wird implizit das Rassenproblem als
inexistent deklariert und politischer Handlungsbedarf zum Abbau von
Diskriminierung a priori negiert.“
(Sangmeister 1990:67)
Florestan Fernandes109 stellt fest, daß unter politisch-ökonomischen Gesichtspunkten die Integration der Schwarzen in die brasilianische Gesellschaft
nicht vollständig erfolgte. Das statistische Material verdeutlicht, wie die Rassenzugehörigkeit auch heute noch für die wirtschaftliche Chancenzuweisung
und soziale Stellung innerhalb der Gesellschaft ausschlaggebend ist.110
„Die Diskriminierung war und ist an sich ein tätiges und schädliches Element.
Sie ist es, die für den Schwarzen den Zugang zu den angestrebten Formen der
sozialen Integration einschränkte, untergrub oder gar verhinderte.“
(Florestan 1977:29; Bd.II)
Einhergehend mit dem Mythos der Rassendemokratie ist das scheinbaren nicht vorhanden sein von Rassenkonflikten, denn der Umgang der Bevölkerung untereinander vermittelt zunächst ein harmonisches Bild. Die Machthaber
verbreiten, daß der große Triumph der brasilianischen Rassendemokratie in
der Etablierung einer Hierarchie bestehen würde, die zudem für die Zuordnung der schwarzen Bevölkerung auf die unterste Stufe der sozialen Skala
sorgt und ihnen damit als dauerhafte Legitimierung ihrer Herrschaftsposition
dient.
Die Soziologin Vera Figueira interviewte 1987 Kinder und Jugendliche
aus Unterschichtsfamilien in Rio de Janeiro zum Thema Rassismus. Dabei stellte sich heraus, daß rassische Vorurteile in der Unterschicht genauso ausgeprägt sind wie in der Mittel - und Oberschicht. Die Testpersonen, aus allen
Bevölkerungsschichten und einem nicht geringen Anteil an Afro-Brasilianern,
109
Brasilianischer Soziologe und Verfasser des Klassikers über die Rassenproblematik Brasiliens (1977). Diese Untersuchung stützt sich auf empirische Daten, die hauptsächlich 1951 in
São Paulo ermittelt wurden.
110
Sangmeister 1990:67.
47
sollten afro-brasilianische und weiße Personen, die auf Photos abgebildet waren, negative bzw. positive Begriffen zuordnen. Die Kinder ordneten negative
Begriffe wie Dummkopf, Dieb, Schwein, schmutzig, Straßenkehrer und Köchin zu
über 80 Prozent den Afro-Brasilianern zu. Positive Bewertungen wie schön,
reich, gesellschaftlich anerkannte Berufe wie z.B. die des Arztes, wurden dagegen
zu über 90 Prozent mit der Hautfarbe weiß in Verbindung gebracht.
Hiermit wird deutlich, daß die offiziell propagierte soziale Mobilität als Ergebnis der Rassenmischung ebenfalls nicht der Realität entspricht. Für die Mehrheit der Afro-Brasilianer gilt immer noch die Struktur einer Schichtgesellschaft,
deren wesentliche Faktoren die Schattierungen der Hautfarben darstellen. Bei
Darstellung der Gesellschaft als Pyramide, bildet die schwarze Bevölkerung
die Basis, nach oben hin wird die Hautfarbe immer heller, bis sie an der Spitze
oben weiß. ist.111
2.8.2 Die Problematik des Weißwerdungsprozesses
Clovis Moura bezeichnet das Phänomen der Weißwerdung als „Flucht vor ethnischer Realität“. Seiner Ansicht nach wird die ethnische Identität des Brasilianers durch Mythen ersetzt, an die sogar Nicht-Weiße, insbesondere Schwarzen glauben. Die tatsächliche Situation versuchen sie zu vergessen, bzw.
durch eine täuschende chromatische Magie zu ersetzen. Der Beherrschte
flüchtet sich dort hinein und ist bestrebt, sich damit symbolisch dem Höchsten
der von den Herrschenden erschaffenen Symbole anzunähern.112
Tatsächlich läßt sich das für die individuelle Selbstbestimmung oder die diskriminierten ethnischen Gruppen geltende Identitätskonzept im Fall von Brasilien kaum
verwirklichen.113 Mit der Aufrechterhaltung des Mythos der Rassendemokratie haben
sich die Schwarzen ins Gesellschaftssystem eingegliedert und helfen es aufrecht zu erhalten.
„Die unterdrückten Ethnien müssen immer zwischen Anpassung nach außen
und Erhaltung der eigenen Identität zu vermitteln suchen. In diesem Prozeß
entwickeln sich der heutigen Realität angepaßte Überlebens- und Widerstandsstrategien, die selber wieder ambivalent sind.“
(De Hohenstein 1991:83)
Es darf aber nicht vergessen werden, daß heute Schwarze und Weiße
mehr, als man sich vorstellt, Verhaltensweisen und Ideen teilen. Erstere sind
stärker verwestlicht, letztere stärker afrikanisiert,114 als ihnen häufig bewußt
ist. Wenn schwarze Brasilianer die Welt auf gegenteilige Weise interpretieren,
dann kann die brasilianische Geschichtsschreibung offiziell zweifellos ihre ge-
111
Vgl. Hasenbalg 1979:195.
Vgl. Moura 1977 und 1988.
113
Darüber hinaus wird Identität in dieser Arbeit als Prozeß des Sich-Bewußtwerdens verstanden. Ich lehne jede rigide Definition von Identität ab, die nach einer Klassifizierung sucht, um
Individuen und Gruppen zu definieren. Identität ist wandelbar. Sie bezeichnet etwas Bewegliches, das sich ständig verändert.
114
Als besonders wichtig gelten in Brasilien europäische Einflüsse. Vgl.: Fernandes (1977).
112
48
sellschaftliche Zugehörigkeit hinterfragen. Aber sie kann die Zugehörigkeit,
die gleichzeitig eine Verbundenheit mit dem schwarzafrikanischen Erbe miteinbezieht, nicht vollständig negieren.
Der Rassenmythos symbolisiert das Ideal der weißen Rasse und wird von
der Gestalt des Mulatten und dem Glauben an die Rassenmischung bestätigt.
Die Rassenmischung stellt die symbolische Flucht vor der eigenen Hautfarbe
dar. Die Zurückweisung des ethnischen Ursprungs äußert sich in dem Versuch,
sich so nahe wie möglich an dem Idealbild des Weißen zu befinden.
Die Formen des brasilianischen Rassismus und der in den Vereinigten
Staaten und Südafrika wurden im akademischen Bereich oft miteinander verglichen. Während der offene und aggressive Charakter des Rassismus in den
anderen Ländern betont wurde, wurde die brasilianische Form verharmlost.
Die Zuordnung der Afro-Brasilianer zur untersten sozialen Schicht will
der Mehrheit der Brasilianer nicht auffallen, da Rassismusprobleme grundsätzlich negiert werden. Gerade diese Verneinung entspricht der "Subtilität" des
Rassismus. Die Existenz eines Problems wird gerade durch sein hartnäckiges
Leugnen verdeutlicht.
Die Subtilität der brasilianischen Diskriminierung ist relativ und hängt
davon ab, aus welcher Perspektive sie analysiert wird: Sie stellt sich für Betroffene anders dar als für Nicht-Betroffene und zwar wesentlich spürbarer.
Der Faktor „Farbe“ wird allgemein verwendet, um sozialen Unterschieden
zwischen den Rassen einen Namen zu geben. Durch Rassenbezeichnungen
werden soziale Tatsachen, welche Gruppen und Personen einordnen, kategorisiert.115
„Die Hautfarbe der Schwarzen ist eine unermüdliche Quelle für Untersuchungen, denn sie stigmatisiert positiv oder negativ Individuen und Gruppen, sie
betont die Ungleichheit zwischen den Menschen, fördert Tabus, Sanktionen
und Vorurteile.“
(De Hohenstein 1991:73)
2.9 Religionen und Religionsgeschichte Brasiliens:
2.9.1 Das Zusammentreffen der Religionen und die sich
wandelnde Bedeutung des Katholizismus in Brasilien
Der gegenwärtige religiöse Pluralismus Brasiliens ist nur auf seinem traditionellen katholischen Hintergrund zu verstehen. Der Kolonialkatholizismus bildet
selbst kein einheitliches Phänomen, bedingt durch das Zusammentreffen der
verschiedenen kulturellen Milieus, aus denen die diversen Synkretismen ent-
115
Eine hervorragende Abhandlung hierzu stellt die unveröffentlichte Magisterarbeit von LimaSchwarz (1996), in Sozialpädagogik an der TU Berlin, dar. Sie kam zu dem Schluß, daß die
moderne Gesellschaft Brasiliens weiterhin rassistisch ist und der Mythos der Rassenharmonie
benutzt wird, um bestehende Machtverhältnisse zu rechtfertigen.
49
standen. Es bestehen bedeutende Unterschiede zwischen urbanem und ruralem Katholizismus.
Die westliche Zivilisation hat eine ihrer Wurzeln in der Säkularisierung
während der Renaissance und der protestantischen Reform.116 Die portugiesische Form des iberischen Katholizismus prägte Brasilien seit dem 15. Jahrhundert.117 In Brasilien, bedingt durch die Größe des Landes, das Zusammenkommen vieler Kulturen und einen Mangel an missionierenden Priestern, hat der
Katholizismus andere Ausprägungen als in seinem Mutterland und anderen Kolonien bekommen.
"Neben und innerhalb der katholischen Kirche beherrschten religiöser Individualismus, mystische und prophetisch-messianistische Bewegungen sowie
Aberglaube und Spekulation im Bereich der Magie die Szene. Volksglaube
und Offenheit gegenüber nicht-katholischem Gedankengut reichten auch in
die höheren Gesellschaftsschichten hinein."118
1940 bekannten sich 95% der brasilianischen Bevölkerung zum Katholizismus.119 Darunter sollte man sich nicht die Summe aller Katholiken vorstellen, sondern die Summe aller, die irgendeine oder mehrere Religionen, verbunden mit katholischem Glaubensgut, ausüben. Der Katholizismus entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte zum Deckmantel eines variablen „Synkretismus“. Charakteristisch für die brasilianische Variante dieses „Synkretismus“
sind lokale Vielfältigkeit und schnellebige Veränderungen der Riten.120
Seit der Eroberung und Kolonialisierung Brasiliens verbanden sich indianische Glaubensvorstellungen mit katholischen Elementen der portugiesischen
Eroberer.121
116
Siehe Camargo 1973: 9-40.
Koch-Weser 1976:256 beschreibt die portugiesische Variante des Katholizismus als phantasievoller, freudiger, farbenfroher und reicher an festlichen Praktiken als die ernstere spanische
Form. Nach Bastide 1951:334 ist sie weicher und menschlicher.
Die spanischen Eroberer verfolgten in Lateinamerika Andersgläubige und rotteten sie gewalttätig aus. In Brasilien waren die Einwanderer auf Arbeitskräfte für ihre Zwecke angewiesen.
Die gängigen Menschenschindereien in den letzten Jahrhunderten werden m.E. gerne verharmlost, wie schon aus den Vernichtungen der Dokumente über die Sklavenzeit am Ende des
letzten Jahrhundert ersichtlich ist.
118
Koch-Weser 1976: 251. Soweit solche Verallgemeinerungen zulässig sind, müssen auf dem
Hintergrund dieser Grundhaltung alle religiösen Bewegungen verstanden werden. Die Benutzung der Begriffe "Magie", "Aberglaube" und "mystisch" werden von Koch-Weser nicht erläutert; ich bin der Ansicht, daß sie damit, wie viele Wissenschaftler, alle nicht-katholischen
Elemente der verschiedenen Kosmologien und Ritualpraktiken zu beschreiben versucht.
119
aus Azevedo 1966.
120
Koch-Weser 1976:251.
121
Die planmäßige Missionierung der Indianer erfolgte nach ihrer Trennung von heidnischen
Stammesgenossen in Missionsdörfern durch die Jesuiten, die sie an ein "zivilisiertes" und
christliches Leben gewöhnen wollten. Sie betrachteten ihre Erziehungsarbeit als "Humanisierungsaufgabe" gegen die barbarischen Sitten der Indianer (Nacktheit, Polygamie und Anthropophagie). Die Indianer setzten der Christianisierung kaum Widerstände entgegen. Die Christianisierung der Sklaven hingegen vollzog sich im engeren Kontakt zu den Weißen in einer
"Form von Angleichung" an die Religion der Herren, deren vielfältige Arten und Weisen Gerbert als herablassend beschreibt (Gerbert 1970:15).
117
50
Bald darauf, ab Mitte des 16. Jahrhunderts, erschienen mit den Sklaven
afrikanische Religionen, die sich mit den anderen zusammen unter lokal unterschiedlichen Machtverhältnissen zu verschiedenen Synkretismen verbanden.122
Ende des 19. Jahrhunderts kamen spiritistische Elemente aus Frankreich
und Nordamerika hinzu, die wiederum Bezug zu asiatischen Reinkarnationslehren hatten. Aus der katholischen Kirche in Brasilien spalteten sich zur gleichen
Zeit zwei Subgruppen mit kleinen Anhängerscharen ab. Als "neue Christen"
getaufte Juden gelangten zur gleichen Zeit wie die ersten Katholiken in die
neue Kolonie. Im 20. Jahrhundert brachten japanische Einwanderer Einflüsse
aus dem Zen-Buddhismus in die großen Städte, vorwiegend nach São Paulo.123
In den letzten Jahrzehnten spielen die protestantischen "Pfingstkirchen"
mit ihren Ursprüngen in den Vereinigten Staaten eine bedeutende Rolle. Sie
haben momentan den größten Zuwachs an Anhängern zu verzeichnen.
Fast seit Bestehen der Kolonie war die katholische Kirche dem Staat untergeordnet und blieb bis 1889 die einzige zugelassene offizielle Religion.
Während der Sklavenzeit wurden Massentaufen durchgeführt, aber keinerlei
Katechisierungsbemühungen unternommen. Die katholische Kirche wurde vorwiegend von den Jesuiten aufgebaut, die allerdings in Konflikt mit der portugiesischen Kirche gerieten, da sie gegen die Versklavung der Indios waren. Die
Geistlichen entsprachen meist nicht den ethisch-moralischen Normen der Kirche, sie wandten sich weltlichen und kommerziellen Dingen zu und konnten in
der Regel im Inneren des kaum erschlossenen Landes nicht mehr kontrolliert
werden.
Bei den vielen Fazenden, die von Portugiesen, Afrikanern und Indianern
bewohnt wurden und weit verstreut im Land lagen, kam nur selten im Jahr
und obendrein verspätet ein Priester zu den Riten vorbei. Der Katholizismus
dort war dem Leben auf dem Land und dessen verschiedenen Bewohnern angepaßt, hatte keinen dogmatischen Charakter und war nicht an den kirchlichen Kalender und an die Liturgie gebunden. Die Glaubensausübungen bestanden vorwiegend aus Heiligenkulten und wurden in Form von Wallfahrten und
Prozessionen getätigt. Die Heiligen waren Schutzpatrone von Einzelaspekten
des ländlichen Lebens.124
"Dem Vertrauen auf die jeweils besondere Vermittlungsfunktion der Heiligen
gegenüber stand der Glaube an das Wirken des Teufels, der durch den Kontakt
mit den Negern noch gesteigert wurde. Die schwarze Hautfarbe und die
Fremdartigkeit und elementare Wucht ihres magischen Rituals waren für die
Weißen untrügliche Zeichen der Zugehörigkeit zum teuflischen Bereich. Der
Reiz des Unbekannten und die verblüffende heilende und schädigende Wirk122
Gerbert 1970:17 versucht, alle afro-christlichen Synkretismen auf einen Nenner zu bringen,
den er als die Naturreligiosität der Afrikaner beschreibt. Zu Auseinandersetzungen zwischen
dem Katholizismus der Kolonisatoren und den afrikanischen Religionen sei es nicht gekommen, weil die Katholiken keine Auseinandersetzungen provozierten.
123
Koch-Weser 1976:251-252.
124
Koch-Weser 1976:253-256.
51
samkeit der Zaubermittel überwanden die Abwehr und Scheu der Weißen und
ließen sie in den Bann dieser magischen Kräfte geraten, deren sie sich zu bedienen versuchten, die sie aber noch mehr zu fürchten hatten".125
Das ungebrochene Fortbestehen der afrikanischen Religionen ist unter
anderem durch die oberflächlichen Unterweisungen bedingt. Keiner der "Herren" und Missionare kannte die afrikanischen Sprachen oder erlernte sie. Das
Unterrichten der Sklaven war nicht im Sinne ihrer Herren, die bemüht waren,
die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen aufrechtzuerhalten. Die Sklaven mußten in einer "ihnen angemessenen Weise" an den katholischen Ritualen
ihrer Herren teilnehmen, daneben wurde ihnen anfänglich erlaubt, ihre eigenen Riten auszuüben, an denen die Herren nicht teilnahmen.
Die Sklaven hatten, bedingt durch ihre Abgeschiedenheit auf den Fazenden, die Möglichkeit, neue Gemeinschaftsformen zu entwickeln, die Träger
des modifizierten religiösen Erbes wurden. In den großen Plantagen in Bahia,
wo bis zu 1.000 Sklaven zusammen arbeiteten, konnten sich Gruppen gleicher
Stammeszugehörigkeit herausbilden (meistens Yorubas). Solche Gruppen übernahmen im Laufe der Zeit die Führung unter den Sklaven, weil sie zahlenmäßig die Majorität darstellten oder weil sie den einzigen Priester stellen
konnten. Die gemeinsamen Feste an den kirchlichen Festtagen bildeten den
Rahmen, in dem die afrikanischen Traditionen am Leben erhalten wurden,
bzw. sich in wechselseitiger Angleichung umgestalteten.126
Ein Beispiel für den „Synkretismus“ zwischen afrikanischen Religionen
und dem Christentum stellen die schwarzen Bruderschaften dar, die sich in
vielen Regionen Brasiliens bildeten. Für die Schwarzen waren eigene Bruderschaften nach dem Vorbild der Weißen vorgesehen, in denen sie alle Anschauungen und Rituale ausüben durften, sofern diese nicht mit dem Katholizismus
unvereinbar waren. Die rassische und religiöse Trennung führte unter Auseinandersetzungen dazu, daß zwischen einer "schwarzen" und einer "weißen"
Kirche differenziert wurde. Später, in den Städten, bildeten sich soziale Organisationsformen der Schwarzen, die "nações". Die afrikanischen Landsleute
erkannten sich in den Städten an ihren Gesängen und konnten sich in städtischen Verhältnissen in größerer Freizügigkeit und unter geringerer sozialer
Kontrolle leichter zusammenschließen als auf dem Land. Oft bildeten sie das
Fundament einer Bruderschaft und erhielten in dieser ihre afrikanische Kultur
lebendig.127
Nach dem Ende der Monarchie in Brasilien war die katholische Kirche
nicht mehr dem Staat untergeordnet und reorganisierte sich mit Hilfe von
neuen ausländischen Geistlichen. Demzufolge werden zwei Formen des Katholizismus unterschieden, der ländliche mit Anteilen der europäischen Tradition
125
Gerbert 1970:17. Gerbert 1970:18, Bastide 1971:187 und Freyre 1961:377 weisen auf die
Affinität dieses ruralen Katholizismus zu den religiösen Vorstellungen der Schwarzen hin.
126
In Gerbert 1970:18 und Bastide 1971 wird das Phänomen beschrieben, daß parallel zu dem
christlich-afrikanischen Synkretismus ein innerafrikanischer stattfand.
127
Vgl. Bastide, 1971 und Gerbert 1970:19.
52
und der städtische, der viel enger mit sozialen Normen und Institutionen verbunden ist.
Camargo (1971) charakterisiert den ruralen Katholizismus wie folgt:
♦ priesterliche Versorgung fehlt meist und wird durch professionelle Beter und Beterinnen ersetzt.
♦ Frauen dominieren in religiösen Angelegenheiten.
♦ Schwerpunkte der Kulte sind Gemeinschaftsgebete und Heiligenfeste auf der Grundlage von Familienfrömmigkeit.
♦ Seelenkulte und mit dem Landleben verbundene Riten dominieren.
♦ Der Übergang von Religion zu Magie ist nahtlos; Heiler, Gesundsprecher und Regenbeschwörer betrachten sich alle als gute Katholiken.128
Diese Formen des ruralen Katholizismus konnten in den großen Industriestädten, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts gebildet hatten, keine Wurzeln schlagen. Ein Großteil der katholischen ländlichen Bevölkerung immigrierte in den letzten Jahrzehnten in die Städte. 1940 lebten 30% der Brasilianer, 1970 mehr als 50% der Bevölkerung in Städten. Die Migration in die Städte
nimmt weiter zu. Daraus ergeben sich unzählige Veränderungen und Probleme, die alle Lebensbereiche umfassen. Der urbane Katholizismus ist gegenüber dem ruralen wesentlich unpersönlicher, da die Lebensumstände der Bevölkerung nicht mehr großfamilienähnlich sind mit starker Bindung an einen
Priester, der persönliche Beziehungen zu den Leuten unterhält. Er ist ebenfalls nüchterner als der ländliche, meist beschränkt auf wöchentliche Messen,
bei der sich viele Kirchenbesucher nicht persönlich kennen.
Religiöse Vorstellungen und Praktiken verändern sich ebenso beständig
wie religiöse Bewegungen und die Zahl ihrer Anhänger. Einflüsse aus religiösen
Bewegungen anderer Länder wirken sich, wie ich noch darstellen werde, ebenfalls nachhaltig aus. Die ehemals ländliche Bevölkerung konnte von der
Kirche nicht zum sonntäglichen Kirchenbesuch gebracht werden. Die Funktionen der katholischen Kirche reduzieren sich im allgemeinen auf die "rites de
passage", Taufe, Kommunion, Heirat, Begräbnisritus.129 Außerdem werden
Krankensakramente in Anspruch genommen. Die städtische Kirche ist eher auf
gebildete Schichten eingestellt und hat wenig Berührungspunkte mit der Kultur des einfachen Volkes geschaffen. Die sozialen Dienste der Kirche wie Essensverteilung u.a. werden von den Armen in Anspruch genommen.
"Das Volk sucht private Praktiken, verständlichere und direkt wirksamere wie
Magie und Emotion, um direkte und konkrete Resultate ihrer religiösen Handlungen zu erzielen" .
(Deelen 1967:72).
128
Camargo 1971:9 ist der Ansicht, daß sich die beschriebene Religionsform und Magie gleichermaßen aus Quellen des portugiesischen Katholizismus entwickelt haben.
129
Camargo 1973: 61.
53
Protestantische, spiritistische und afro-brasilianische Religionsformen
sprechen die Bedürfnisse der Städter aus unteren, größtenteils analphabetischen Schichten mehr an. Die katholische Kirche selbst analysiert dies als Tatbestand.130
Die Familienstrukturen in der Stadt sind gegenüber denen auf dem Land
loser geworden. Schnellebigkeit, ökonomische und kulturelle Veränderungen
dominieren das Leben der in die Städte gezogenen Menschen. Das kulturelle
Niveau entwickelt sich laut Camargo (1973:33) in funktionaler und mehr profaner Form, dadurch soll sich bei Städtern eine Art von Entsakralisierung und
Entzauberung der Welt ausprägen.131
Favela-Bewohner in Rio de Janeiro z.B. haben kaum Kontakt zur zuständigen Kirche und wenn, dann oft zu profanen Veranstaltungen, die von der
Kirche organisiert werden. Aus religiösen Bedürfnissen132 werden spiritistische
und andere Kulte besucht.
Jene, die unregelmäßig religiöse Versammlungen besuchen, stammen
aus etwas gebildeteren und sozial höheren Schichten; es sind vorwiegend
Frauen und Kinder.133 Bei meinen Nachfragen zur Ursache dessen erwähnen
viele Frauen dazu, daß Frauen mehr Zeit haben als Männer, in die Kirche zu
gehen, und Männer religiösen Angelegenheiten gegenüber ignorant seien.
Unverheiratete Frauen sind aktiver in Religionsausübung als verheiratete, ab dem vierzigsten Lebensjahr nehmen sie die Religionsausübung langsam
wieder auf. Das gilt für Katholiken, Protestanten, Kardezisten und nach meinen Erfahrungen candomblé- und umbanda-Mitgliedern. Im gleichen Maße
nehmen Männer mit zunehmendem Alter, von 40 Jahren an aufwärts, ebenfalls verstärkt an religiösen Praktiken teil.134 Dies sehe ich im Zusammenhang
mit den größer werdenden Lebensproblemen der Bevölkerung mit zunehmendem Alter sowie nach Ehescheidungen und der daraus resultierenden Problematik, wie ich in Kapitel 2 darstellen werde.
2.9.2 Einführung in die afro-brasilianischen Religionen
Im baianischen Alltagsleben spielen Elemente der afro-brasilianischen Religionen eine viel größere Rolle als man im größten katholischen Land der Welt
vermuten würde. Restaurants und Geschäfte geben sich Namen der afrikanischen Götter, und viele Straßen und Stadtteile in Salvador tragen ihre Namen.
Abbildungen von ihnen finden sich an Hauswänden wieder, und bei den Volks-
130
Camargo 1973: 59-63; 81-84;116; 135-151; 173-176.
Nach Camargo 1973: 33. Das Bedürfnis nach Sakralisierung bleibt allerdings meiner Ansicht
nach bestehen, jedoch gestaltet es sich mehr und mehr außerhalb der Kirche. Die katholische
Kirche in ganz Lateinamerika verliert beständig Mitglieder.
132
Wie diese Bedürfnisse im einzelnen aussehen, werde ich an späterer Stelle erläutern.
133
In der Studie zu favela-Bewohnern in Rio de Janeiro von Medina:1966-70 oder 1968: 175,
wird u.a. die Beteiligung der Bevölkerung an katholischen und religiösen Ritualen anderer
Religionsgruppen analysiert.
134
Camargo, 1973:31-33.
131
54
festen werden sie nicht nur von Anhängern der afro-brasilianischen Religionen, sondern auch von Außenstehenden verehrt.
In die Alltagssprache sind sie ebenfalls integriert, wenn irgend etwas
Unvorhergesehenes und Absurdes passiert, ist es üblich, einen der Götter dafür verantwortlich zu machen, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen.
Die Kleidung der Bevölkerung orientiert sich zum Teil an den Farben und Wochentagen der Götter, wie ich später darstellen werde.135
Die beliebte baianische Küche besteht aus Speisen für die orixás, die
auf der Straße verkauft werden und den Hauptbestandteil der Ernährung der
Bevölkerung darstellen. An Straßenecken, in Parks und am Strand findet man
überall ebós (rituelle Opfergaben, meist Lieblingsspeisen der jeweiligen Götter) für die verschiedenen Gottheiten. Orakelsprüche der Priesterinnen werden manchmal in den Stadtzeitungen abgedruckt, und Prominente berichten
hier, wie sich die Orakel bei ihnen verwirklicht haben.
Auf den Straßen verkaufen viele Marktstände ausschließlich Kräuter,
Seifen, Tees und verschiedene Heilmittel, die in den religiösen Ritualen und
von den Mitgliedern der Kultgemeinden benötigt werden und die ebenfalls als
Opfergaben für die Götter dienen. Fast in jedem Stadtteil befinden sich einer
oder mehr Läden, die nur Artikel anbieten, die für das rituelle Geschehen in
den Gemeinschaften bestimmt sind.
Glasketten und Schmuck in den verschiedenen, den Göttern entsprechenden Farben, Heiligen- und afrikanische Götterstatuen aus Plastik und Ton,
indianische Ahnengeister, Metallgegenstände, die Insignien der Götter sind,
Kronen, die sie beim Tanz tragen werden, und vieles mehr wird hier angeboten.
In der ethnologischen Literatur wird permanent von Vermischungen
zwischen katholischer und den afro-brasilianischen Religionen gesprochen,
was allgemein als „Synkretismus“ bezeichnet wird. Die Interpretationen davon
sehen verschieden aus und sind durchweg falsch. Synkretismus wird als „bewußter Zusammenschluß verschiedener Religionen bzw. einzelner Elemente in
ihnen“ oder „als organisches Zusammenwachsen von Religionen zu einer Einheit“ definiert.136
Die katholische Kirche betont das natürliche Zusammenwachsen zwischen den
genannten Religionen mit dem Katholizismus, doch bestehen daran etliche
Zweifel. Nach Meinung verschiedener neuerer Autoren handelt es sich vielmehr um eine Umbenennung der afrikanischen Götter in katholische Heilige,
135
Vgl.: Tabelle S.:
„Synkretismus (griech.) bezeichnet Religionsmischung, wie sie überall zustande kommt, wo
die Geschichte die Träger einer Religion mit einer anderen in Berührung bringt.“
Der Wortursprung steht im Zusammenhang mit dem Hellenismus. Vgl. Wörterbuch der Religionen (1962:563).
136
55
damit die Sklaven ihre eigene, von der Kirche verbotene Religion tarnen konnten.137
In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die Frage, ob Menschen
nicht widersprüchliche oder verschiedene Glaubensauffassungen zugleich haben können. Die Forderung der logischen Widerspuchsfreiheit von verschiedenen Glaubensüberzeugungen entspringt wahrscheinlich theologischem Denken,
und sie kann von anderen gläubigen Menschen nicht erwartet werden.
Die Übersetzung der Götternamen in die der katholischen Heiligen läßt
sich nicht generell rekonstruieren, aber meistens bestehen Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Der heilige Hieronymus wird oftmals mit einem Löwen abgebildet, was dem Tier, das zu Xangô, einem der orixás gehört, entspricht. So entstand an manchen Orten der von der katholischen Kirche als „Synkretismus“
bezeichnete Zusammenhang zwischen den beiden, was eigentlich nur eine
Umbenennung und Namensänderung darstellt.
Die katholische Muttergottes, immer in weißem Gewand und hellblauem
Mantel dargestellt, weist eindeutig eine Ähnlichkeit zur afrikanischen Göttin
des Meeres und Mutter vieler orixás auf, die darin besteht, daß ihre Lieblingsfarben weiß und hellblau sind.
Kubik (1981:I:22) vergleicht diese Phänomene der Umbenennung mit einer Münze, bei der auf der einen Seite sich ein orixá und auf der anderen Seite ein katholischer Heiliger befindet. Für die Mitglieder der afrobrasilianischen Religionen soll es sich meist nur um eine Übersetzung, ohne
inhaltliche Gleichsetzung und Austauschbarkeit handeln.
Lühning (1990:15) veranschaulicht das treffend: Im candomblé-Ritual
werden die orixás oftmals als santos (Heilige) bezeichnet, aber es ist selbstverständlich, daß damit nur die orixás gemeint sind. Die Gleichsetzung vollzieht sich nur auf der sprachlichen Ebene. Kein Mensch käme auf die Idee, daß
katholische Heilige auf irgendeine Art und Weise anwesend sein könnten.
Die vielen wirklichen Synkretismen, die existieren, sind Synkretismen
innerhalb der afro-brasilianischen Religionen, die sehr wohl freiwillig gewählt
wurden und wo im Lauf der Zeit verschiedene Elemente zusammengewachsen
sind. Sich untereinander ähnelnde Kulttraditionen, Übernahmen verschiedener
Gottheiten anderer Nationen, Geschichten, Legenden, Gesänge, Tänze,
Trommelrhythmen und spezifische Rituale sind Beispiele dafür.138
Ganz bewußt wurden ebenfalls die afro-indianischen Synkretismen gebildet. Die indianischen Ahnengeister, die caboclos, wurden ab Anfang des
letzten Jhs. in die afrikanischen Rituale integriert und haben bei vielen der
nações ihren festen Platz und sind nicht mehr wegzudenken.
137
138
Vgl. Bastide (1985:79).
Vgl. Lühning (1990:14-16).
56
Caboclos werden donos da terra (Herren des Landes) genannt, sie sind
die wirklichen Besitzer des Landes, nicht die Portugiesen und deren Heilige.
Die Afro-Brasilianer begannen sie nach dem Unabhängigkeitskrieg von Portugal
1822 zu verehren und in ihre Rituale aufzunehmen. Ihnen ist seit 1823 das Fest
des Tages der Unabhängigkeit, der 2. Juli, gewidmet. Die Afro-Brasilianer demonstrierten damit den Indianern, wen sie als die wirklichen Landbesitzer ansahen, und tun das bis heute.139
Von manchen neueren Autoren wird baianischer „Synkretismus“ als kulturelle Fusion bezeichnet.140 Andere versuchen ihn als religiösen Parallelismus
(paralelismo religioso) zwischen Katholizismus und afrikanischer Religionen zu
definieren. Bei den Personen, die beide Religionen ausüben, existiere nach
deren Meinung jedoch keine Fusion, weder unter den Glaubenssätzen noch bei
den Ritualen.141 Die Gläubigen würden mit den beiden Religionen an ihren
beiden unabhängigen religiösen Plätzen leben und zwar meist ohne jeglichen
Konflikt. Sie seien sich der verschiedenen Bedeutungen der beiden bewußt.
Sie vernachlässigen meines Erachtens hierbei die Tatsache, daß viele der AfroBrasilianer nur aus Tarnung des eigentlichen Glaubens und anderen Gründen
Kontakte zur katholischen Kirche pflegen; z.B. zum Erhalt von Brotspenden an
sie nach der Messe.
Telles de Santos (1992:25) spricht von afro-baianischer Religion, wenn
er candomblé-Anhänger erwähnt, die gleichzeitig die donos da terra verehren,
um deren Distanz von der portugiesischen Religion und Kultur zu verdeutlichen. Bahia de Todos os Santos (Bucht aller Heiligen) wird von den candomblé-Anhängern als das rechtmäßige Land der indianischen Ahnen angesehen
und nicht der Portugiesen, die es Brasil tauften.
Zum Verständnis der brasilianischen Religionsvielfalt werde ich im folgenden kurz die Charakteristika der afrikanischen Religionstraditionen beschreiben. Bedingt durch die Sklaven aus den vielen afrikanischen Nationen,
wie schon ausgeführt, gelangten die unterschiedlichsten Facetten afrikanischer Religionen, Kosmologien, Kultformen und Praktiken nach Brasilien. Verschiedene Prägungen entstanden je nach lokalen Bedingungen. Detaillierte
Beschreibungen afrikanischer Glaubensformen und Praktiken finden sich bei
Verger 1981 über die Yoruba, u.a.142
139
Dies beinhaltet zugleich einen ideologischen Zusammenschluß zweier Minderheiten gegen
die dominante Kultur, die der Portugiesen. Der afro-indianische Synkretismus sowie die seit
Beginn des Jhs. dazu geführten ethnologischen Diskussionen würden den Rahmen meiner Arbeit sprengen. Innerhalb der candomblé-terreiros der verschiedenen nações wird der cabocloKult ebenfalls heftig diskutiert und zum Teil nur unter Ausschluß der Öffentlichkeit im Privaten zelebriert. Siehe hierzu Teles dos Santos (1992:15-83).
140
In: Teles dos Santos 1992:26
141
Vgl. Ebd.
142
Vgl. Bascom 1969, Burt 1977. All die unterschiedlichen Kulte genauer zu beschreiben, würde zu weit führen. Ich werde im folgenden nur kurz anreißen, wie breit sich das Spektrum darstellt.
57
Im candomblé von Bahia, das ich später genauer beschreiben werde,
findet sich der Kult der Yoruba am reinsten, ausdruckstärksten und am weitverbreitetsten wieder. Damit verwandt sind die in Recife gängigen XangôKultformen. In Rio Grande do Sul existiert eine ähnliche afro-indianische Religion, batuque und synonym pará genannt.
Im Nordosten wird catimbó praktiziert, ein ursprünglich indianischer
Kult, der aber durch die Dominanz der schwarzen Bevölkerung, hauptsächlich
der Bantus, geprägt wurde und eine der afro-indianischen Mischformen darstellt. Andere Mischformen existieren im Süden des Landes.143
Die Yoruba hatten in ihren Kulten bereits in Afrika Einflüsse von ihren
Nachbarn, den Ewe (Gege), und in geringem Maße vom Islam zu verzeichnen.144 In Brasilien selbst hatte der Islam kaum Bedeutung, während die dahomeanischen Ewe neben der Yoruba-Tradition die stärkste afrikanische Religionstradition bildeten.145
Spuren von ihr sind im Kult noch aufzufinden, die orixá-Kulte der Yoruba haben aber bei weitem dominiert. Ebenfalls überlebten in Brasilien Fantiund Ashanti-Einflüsse; religiöse Elemente aus Moçambique, Angola und dem
Kongo sind in Einzelfragmenten z.B. im umbanda noch zu finden.146 Die Nationen- oder Stammesnamen, mit denen sich einzelne Kultzentren in Brasilien
bezeichnen, können Auskunft über deren ursprüngliche Ausrichtungen erteilen, haben aber heutzutage nichts mehr mit der Herkunft ihrer Mitgliedschaft
oder den in den Zentren vermittelten Lehren zu tun.
Elemente indianischer Religionsformen sind am deutlichsten im afrobrasilianischen umbanda, den ich noch beschreiben werde, reflektiert. Ihre
Wurzeln haben sie in der frühen Kolonialzeit. Der schnell verlaufende Assimilationsprozeß führte zu einer Vermischung147 indianischer, afrikanischer, mes143
Vgl. Bastide 1971. All diese Kulte werden als traditionell bezeichnet und gleichfalls als moderne Verfallsformen der ursprünglichen afrikanischen Religionen angesehen.
144
Die Yoruba pflegten in Afrika Kontakte zu den Malê, die islamisiert worden waren. In Brasilien selbst werden alle Islam-Anhänger als Malê bezeichnet. Im religiösen Ritual des brasilianischen umbanda erinnern nur noch das Verwenden von Gebetsteppichen und das Tragen von
spezieller Kultkleidung an frühe islamische Einflüsse. In Bahia waren die Hausa die Hauptanhänger des Islam (Vgl. Ramos 1934). Rodrigues 1900 beobachtete in Brasilien die Tendenz,
daß islamische Traditionen zugunsten von afro-brasilianischen und katholischen aufgegeben
wurden.
145
Die dahomeanische Religion der Ewe weist als ein Charakteristikum drei verschiedene Pantheons auf, und wie bei den Yoruba befaßt sich der Kult nur mit einzelnen Gestalten dieser
Göttervielfalt. Himmelsgötter, Erd- und Donnergottheiten sowie Ahnen werden rituell geehrt.
Der Charakter und die Funktionen der Voudou-Götter (große Himmelsgötter der dahomeanischen Religion, nach Herskovits 1948) und der Yoruba-orixás sollen sehr ähnlich sein. In Brasilien soll der Voudou-Kult fast gänzlich verschwunden sein. Da bei Yoruba und Ewe die gleichen Grundzüge der Religion bestanden, glichen sich die Ewe meist an die Yoruba an, und an
manchen Orten entstand ein Synkretismus aus den beiden (siehe Koch-Weser 1976:283-295).
146
Angola-Kongo-Traditionen sollen auch den afro-brasilianischen macumba stark beeinflußt
haben (Bastide: Las Americas Negras, ohne Jahresangabe).
147
Siehe obige Diskussion zum Synkretismus. Der Begriff Vermischung ist unpräzise und
schwammig.
58
sianischer, spiritistischer und katholischer Traditionen. Von den indianischen
Religionsgruppen, die inzwischen stark dezimiert sind, soll hier nicht die Rede
sein.
Es existieren viele Entsprechungen zwischen indianischen und afrikanischen Glaubensvorstellungen und Kulten, da beide Kulturen wesentlich durch
einen vorindustriellen Umgang mit der Natur geprägt sind. Naturphänomene
verkörpern bei beiden spezielle Gottheiten. Zum anderen entsprechen sich
Teile der kurativen und magischen Ritualpraktiken.148
2.9.3 Candomblé - Mutter des schwarzen Bewußtseins
„Warum schlägt man die candomblé-Trommeln?“
„Das ist das gleiche, wie die Frage zu stellen, warum wir Brot zum Essen kaufen. Warum ißt man? Weil man Hunger hat. Höre, der candomblé ist eine Sache, die aus Millionen von Jahren kommt. Viel älter als unser Brasilien mit
seiner Entdeckung 1500. Also es ist eine Lebensaufgabe, ein Tabu, es ist eine
Verpflichtung. Es sind die Schläge der Trommeln. Die Afrikaner „schlugen
den candomblé“ als ihre Religion und tanzten ihren samba, ihr maculelê, ihr
capoeira, größter kultureller Ausdruck, all das ist von den Angolanern.149
„candomblé-Schlagen, weil die Instrumente der nação150 die atabaques
(Trommeln) sind. Es wird wie eine Pflicht ausgeübt, nicht weil man es halt
machen will.“
(Benzinho in: Encontro de nações-de-candomblé 1984:45)
Candomblé bezeichnet einen sakralen Ort, an dem in Ritualen mit
Trommelrhythmen und Gesängen, wie beim voudou in Afrika, die afrikanischen Götter gerufen werden. Hier fallen die Kultmitglieder in Trance, die
Götter steigen hernieder, bemächtigen sich ihrer und manifestieren sich in
den Gläubigen. Die Götter reiten ihre Pferde, sagt man. Sie, die orixás, tanzen ihre Tänze, bringen den Menschen Botschaften, geben Hilfestellungen und
erhalten von ihnen Gaben. Die beim Tanz in Trance gewesenen Personen erinnern sich danach an nichts mehr.
Candomblé ist jedoch mehr als das. Komplexe Kosmologien, Weltanschauungen, Ethik und Lebensweisen der Gläubigen sind damit verbunden.
Jahrhundertelange afrikanische Traditionen haben sich erhalten, brasilianisch
bzw. baianisch modifiziert und verändern sich weiter. Sie haben die lange Reise von Afrika, 400 Jahre Sklaverei, Unterdrückung und Missionierung durchund überlebt.
„Candomblé ist eine schwierige und schöne Welt. Viel schwieriger, als das
Wort auszusprechen, ist die drei Konzepte zu vereinigen, die wir gewohnt sind
148
Siehe Bastide 1971; Koch-Weser 1976 und Gerbert (1970:23-35).
Benzinho spricht hier von den Angolanern, das gleiche gilt jedoch auch für die anderen
nações.
150
Die afrikanischen ethnischen Gruppen wurden seit Beginn ihrer erzwungenen Existenz in
Brasilien nach nações (Nationen) benannt. Später wurde dieser Begriff zur Unterscheidung ihrer verschiedenen Kulturen verwendet und bezieht sich nun auf die verschiedenen candomblés. In Salvador unterscheidet man bei den candomblés vorwiegend zwischen den nações
Angola, Kongo-Angola, Jeje, Nagô, Ketu und Ijexá. (Vgl.: Pinto 1991:161).
149
59
zu trennen, die aber unlösbar miteinander verbunden sind in der Tradition der
orixás: Religion, Leben und Kunst.“
(Galembo 1993:117)
Künstler, Schriftsteller und Musiker, die in Bahia geboren sind, wie Jorge Amado, Dorival Caymmi, Caetano Veloso, Gilberto Gil, und viele andere
mehr, die Baianos durch Wahl geworden sind, wenn sie es nicht durch Geburt
waren, sind in die candomblé-Kultur und -Traditionen eingetaucht. Viele
Kunstwerke wurden geschaffen, aber bei den politischen und gesellschaftlichen Autoritäten Brasiliens wird candomblé immer noch als eine folkloristische Kuriosität angesehen.
Bahias Seele ist der candomblé. Die Feste, Karneval, Kunst, Musik,
Tanz, das baianische Alltagsleben, die Sprache und das Essen sind davon geprägt. Zu Recht befürchten viele seiner Freunde, daß er untergehen wird und
als kommerziell vermarktete Folklore sein Dasein fristen wird wie viele Kulturgüter Brasiliens, die sich durch sozio-ökonomische und ökologische Bedingungen verändert haben und ebenfalls verloren gingen. Noch hat es den Anschein, daß die Ängste nicht viel mit der Gegenwart zu tun haben, bei genauerer Betrachtung sieht man jedoch schon Spuren des Zerfalls.
Manche candomblé-terreiros können nicht überleben, weil sie nicht die
nötigen finanziellen Mittel haben, sich zu halten. Wenn die Regierung nicht
willig ist, zu helfen, zerfallen viele der Häuser, und viele Feste können nicht
mehr gefeiert werden, gegenüber vielen orixás können dann die Pflichten
nicht mehr erfüllt werden.
Manche der alten „Eingeweihten“ haben ihre Geheimnisse nicht weitergegeben und keinen jungen candomblé-Nachwuchs großgezogen. Manche der
terreiros haben sich für die Folklorisierung entschieden und vermarkten Elemente ihres candomblés kommerziell. Die Nachfrage bei den vielen heute Bahia überschwemmenden Touristen ist da und wurde mittels Propaganda teils
von der Regierung, teils von Tourismusorganisationen und Agenturen geweckt.
Früher war candomblé ein Ort der resistençia negra, ein Ort des Widerstands und Überlebens afro-brasilianischer, schwarzer Kultur. Candomblé war
politisch.151 Heute ist es alles mögliche, wie angedeutet, und kann nicht generalisiert betrachtet werden. Er wird durch das movimento negro erneut politisiert. Die Suche nach einer eigenen, unabhängigen Identität macht viele
Schwarze neugierig, und sie treten daraufhin in Kontakt mit dieser afrobrasilianischen Welt und identifizieren sich mit ihr. Andere schämen sich für
ihre Kultur und wenden sich vom candomblé ab. Sie suchen sich Religionsformen, die von weißer Kultur geprägt sind und wollen selbst weiß sein, denn
weiß zu sein, heißt weniger Probleme zu haben und mehr gesellschaftliche
Anerkennung zu bekommen.
Heutzutage wird in vielen terreiros die Diskussion der Reafrikanisierung
geführt. Manche Priesterinnen gehen soweit, Bestandteile ihrer Rituale, wie
151
Vgl. Costa da Lima 1984
60
Liedtexte und Rhythmen u.a. innerhalb ihres terreiros zu verändern, sie zu
reafrikanisieren und zu versuchen, den „puren, reinen“ Gehalt ihrer jeweiligen nação zu destillieren.152
Einzelne Elemente aus der afro-brasilianischen Kultur, aus dem Gesamtzusammenhang gerissen, sind in Bahia beim weißen gehobenen Mittelstand und bei der Oberschicht in Mode gekommen und werden jetzt von
ihnen konsumiert. Noch vor einigen Jahren besuchten manche Weiße heimlich
aus Neugierde candomblé-Priesterinnen. Heute diskutieren sie, wer die Beste
sein soll, welche Orakelsprüche gut sein sollen, interessant und amüsant, und
wo das Preis-Leistungs-Angebot den Vorstellungen der Klientel entspricht, ein
Schnäppchen geschlagen zu haben. Heute halten die Weißen es für schick,
sich von einer candomblé-Priesterin ein Orakel legen zu lassen und abends,
bei gesellschaftlichen Anlässen, davon zu erzählen und sich darüber zu amüsieren.
Candomblé ist die weitverbreitetste Religion afrikanischen Ursprungs in
Brasilien, die aus Nigeria und Benin stammt und von den Sklaven von dort mitgebracht wurde. Im Norden und Nordosten von Brasilien und im Staat Bahia
hat sie sich primär ausgebreitet.153 Sie hat viele Gemeinsamkeiten mit den
anderen afrikanischen Religionsformen. Die Riten, Mythen und Legenden wurden schon in Afrika oral und kollektiv tradiert.
Eine umfassende Kosmologie liegt dem candomblé zu Grunde. Sie wurde
in ihrer brasilianischen Form von den afrikanischen Sklaven entwickelt, hauptsächlich von den nações Nagô, Jeje, Ketu und Kongo-Angola. Alle nações des
candomblés haben eine ähnliche, fast identische Kosmologie. Die unterschiedlichen inhaltlichen Auslegungen, Ritualabläufe, Text- und Musikrepertoire sind
Charakteristika der einzelnen candomblé-terreiros. Die caboclos werden ähnlich verehrt wie die afrikanischen Götter, die orixás.154 Liedtexte und Vokabular sind beim candomblé-de-caboclo portugiesisch. Bei den nações afrikanischen Ursprungs wird in den jeweiligen Sprachen gesungen.
In Nigeria wurden in den 50er Jahren von Pierre Verger die Ausprägungen der dortigen Religion mit all ihren Besonderheiten untersucht und später
152
Pinto (1991:165) hat den Eindruck, daß man sich manchmal dem Gefühl einer „Erfindung
von Tradition“ nicht verwehren kann. Andererseits beklagen sich viele Intellektuelle über die
fortschreitende Nationalisierung, d.h. Auflösung afrikanischer Überlieferungen im candomblé
(Béhague 1986:22).
153
In Brasilien existieren candomblé-terreiros in allen Städten sowie in anderen Ländern, wohin
viele Afro-Brasilianer emigriert sind (Lissabon, Miami etc.) Manche der baianischen Priesterinnen werden in andere Regionen Brasiliens gerufen und üben ihre Tätigkeiten ebenfalls reisend aus.
154
Ursprünglich deifizierte Yoruba-Ahnen, deren Kulte vor allem innerhalb Familien und Clans
der Yorubas ausgeübt und weitergegeben werden. Sie manifestieren sich in einigen ihrer
Nachfahren und werden in der Natur verehrt. Es gibt keine exakte Übersetzung für das Wort
orixá. Nach Epega (1931) bedeutet es: „einer, der einen Topf in die Erde versenkt hat“. Ein
orixá kann mit einem bestimmten, nach einem speziellen Ritus zubereiteten Tontopf, der an
seinem Kultplatz vergraben ist, in Zusammenhang gebracht werden. In diesem Topf soll seine
Kraft verborgen sein.
61
mit den brasilianischen und speziell baianischen verglichen. Ich werde im folgenden nur die brasilianische Schreibweise der Yoruba-Wörter155 benutzen und
nur auf die baianische Form des candomblés eingehen.
Dem Wort candomblé werden verschiedene Bedeutungen zugeschrieben. Nach Meinung der Linguisten soll es aus dem zentralafrikanischen Bantu,
speziell Kimbundo, stammen und „Haus der Initiation” bedeuten.156 Es wird
ebenfalls mit “Versammlung” übersetzt, und manche Wissenschaftler vermuten, daß es sich von dem Wort candombé (heiliger Tanz) ableitet.157
Seit der Jahrhundertwende beschäftigen sich Forscher mit dieser diskriminierten Religion der Schwarzen Brasiliens, vorwiegend unter funktionalistischen Gesichtspunkten und mit der Absicht der Suche nach dem Ursprung der
Religion in Afrika sowie nach afrikanischen Elementen in den Kulten.158
Nach Bastide (1971) soll sich der Schwarze in zwei Welten bewegen, der
kapitalistischen weißen Welt und der schwarzen mystisch-ideologischen. Er
soll losgelöst von seiner traditionellen, sozio-ökonomischen Umwelt sein und
seine kulturelle Identität sowie Widerstandsformen in der Religion des candomblé suchen, die sich den brasilianischen Lebensbedingungen anpaßte.159
“Afrikanismus” und damit verbunden die Ausübung des candomblé
wurden von Rodrigues (1935) bis hin zu Bastide (1950-1980) als Widerstandsform interpretiert und als primitiv, chaotisch und unrein bewertet. In den
letzten Jahrzehnten formierten sich viele der Schwarzen Brasiliens und bildeten das movimento negro.160 Sie stellen sich gegen diese Sichtweise und versuchen, ihre afro-brasilianische Kultur, deren Hauptbestandteil die Religion
bildet, aufzuwerten.
Es liegen diverse neuere Forschungen zu einzelnen candombléKultstätten und den dort stattfindenden Ritualabläufen unter verschiedenen,
zum Teil kontroversen ethnologischen und soziologischen Gesichtspunkten
vor.161
In Schwarzafrika existieren etwa 1.000 Ethnien mit verschiedenen
Glaubensformen, deren Gemeinsamkeit man derart definieren kann, daß sie
155
Die Bantu- und Fon-Ausdrücke werde ich vernachlässigen, da sie den Rahmen dieser Arbeit
sprengen würden.
156
De Hohenstein (1991:158) spricht hier von westafrikanischen Bantus, das ist jedoch
schlichtweg falsch.
157
Siehe dazu: de Hohenstein (1991:158).
158
Vgl. Rodrigues 1935 und 1977; und Ramos 1934.
159
Der neueste Diskurs zur schwarzen Identität und zum candomblé wird von de Hohenstein
(1991:73-156) geführt.
160
Politische Bewegung gegen Rassismus und Unterdrückung und zur Bildung schwarzen Bewußtseins der Schwarzen in Brasilien, die seit den 70er Jahren stark anwächst.
161
Die Beschreibung und Analyse der gängigen Kontroversen würden den Rahmen meiner Arbeit sprengen (Vgl. de Hohenstein 1991; Landes 1967; Lima 1977; Frey 1986; Teles dos Santos 1992, Braga 1992; u.v.a.).
62
alle Lebensbereiche umfassen. In diesen Gesellschaften existiert keine Trennung zwischen sogenanntem profanem und sakralem Leben.162
In Pernambuco, Recife entsprechen die Xangô-Kulte in etwa dem candomblé163 von Bahia, und in der Gegend von Rio de Janeiro und São Paulo wird
die afro-brasilianische Religionsform vorwiegend als macumba bezeichnet. Mit
dem Wort macumba werden negative Bewertungen der Religion der Schwarzen, die mit schwarzer Magie verbunden sind, assoziiert. Trotzdem ist in den
letzten Jahrzehnten ein Zulauf der weißen Mittel- und Oberschicht sowie von
ausländischen Touristen zu den afro-brasilianischen Religionen zu verzeichnen. Im Süden werden vorwiegend umbanda-Rituale164 besucht, im Norden,
Nordosten und Bahia candomblé-Rituale.
2.9.4 Der Erschaffer der Welt und seine Kinder
Zunächst möchte ich drei Versionen von Welterschaffungsmythen sowie
Anthropogenesen vorstellen, die bei Ziegler dokumentiert sind.
1. „Vor langer, langer Zeit war das Universum ein einziges weites Gelände, das durch
eine undurchdringbare Grenze zweigeteilt wurde. Eine einzige Tür, von einem einzigen Wächter bewacht, stellte die Verbindung vom Orun (Himmel) zum Ayé (Erde)
her. Der Türhüter trug den Namen Olodumaré oder Olorum. Die orixás erschienen
kurz nach der Entstehung der Welt. Sie hatten verschiedene Funktionen:
• Orisanla knetete die Erdscholle, formte Köpfe und Körper und stellte so die
Menschen her. Das Zentrum seiner Tätigkeit lag dort, wo sich heute die Stadt Ifé
befindet.
• Orunmila oder Ifá gab diesen Menschen die Weisheit der Vergangenheit ein und
verlieh ihnen die Gabe, in die Zukunft zu schauen, damit eine vernünftige Ordnung die Welt regiert.
• Ogun schlichtete die Konflikte, herrschte über die Gewalt und lenkte die Kriege.
• Elegbara, der auch unter dem Namen Exú bekannt war, wachte über die Aufrechterhaltung der Ordnung, ordnete die Opfer an, um begangene Fehler wiedergutzumachen, und bestrafte die orixá, die ihre Kompetenzen überschritten hatten.
162
Vgl. Koch-Weser (1976:27). Meiner Ansicht nach kann die Trennung von profanem und
sakralem Leben als solches für keinen Ort behauptet werden, sondern müßte zu jedem Beispiel, in jeder Kultur neu untersucht werden. Vielleicht existiert sie bei vielen Ethnien überhaupt nicht.
163
Es werden in Bahia verschiedene candomblé-Formen unterschieden, die sich nach der ursprünglichen Zuordnung der afrikanischen Nationen richten. Die meisten terreiros gehörten
zu den Ethnien der Yoruba oder Nagô und Jeje (sie stellten in Salvador zur Zeit der Sklaverei
26% der Afrikaner). Angolaner, kongolesische Bantu u.a. repräsentierten die zahlenmäßige
Minderheit der Sklaven. Das baianische Nagô-Modell wird als das reine, authentische und intellektuell überlegene dargestellt. (Vgl. de Hohenstein 1991:87; Bastide 1971; Koch-Weser
1976 u.a.).
164
Umbanda ist eine Mischform aus Kardezismus, afrikanischem Spiritismus, Katholizismus
und der Reinkarnationslehre aus Asien, die in den dreißiger Jahren entstanden ist und sich
immer mehr ausbreitet (Koch-Weser 1976: 304 u.a.).
63
• Eines Tages aber löste sich Orun (der Himmel) von dem gemeinsamen Gelände
und entfernte sich von dem Ayé (der Erde). Olodumaré (Olorum), der Türhüter,
und die orixás, darunter Exú, gingen mit ihm. Im Orun jedoch, der nun von der
Erde, auf der die Menschen lebten, getrennt war, fuhren die orixás fort, ihre
Funktionen auszuüben, mit denen sie beauftragt worden waren. Olorum blieb das
Oberhaupt der orixás.“165
2. Bevor die Welt bestand, gab es nur Luft und Wasser. Am Anfang aller Zeiten gab es
nicht einmal das Wasser, sondern nur die Luft. Olorum war eine unendliche Luftmenge. Eines Tages begann sich diese Masse langsam zu bewegen, zu schwanken
und zu atmen, und ein Teil der Luft wurde in Wasser verwandelt. So wurde Orisanla
geboren, Luft und Wasser fuhren fort, sich zu bewegen. Und eine Art feuchter Erde,
die Scholle erschien. Aus diesem Erdklumpen stieg ein Hügel auf, eine rote Form,
einem Felsen vergleichbar. Das war das Erscheinen der Materie. Olorum bewunderte
sie. Stark atmend, beugte er sich über sie. So hauchte er dieser Materie seinen Atem
ein. Der Hügel begann zu leben. Und das erste Wesen, das zum Leben erwachte, war
Exú.“ ( aus Ziegler 1977)
3. „Olorum hat einen Sohn namens Oxalá. Eines Tages ruft er ihn zu sich. Er übergibt
ihm die Elemente der Natur: das Feuer, das Wasser der Flüsse, das Meerwasser, das
Regenwasser, die Wolken, den Blitz, das Eisen, den Staub, die Sterne, die Krankheiten, das Wort, die Halskette, die es erlaubt, Zukunft und Gegenwart zu erkennen, den
Donner, die Pest, die Pocken und den Samen, aus dem die Bäume und Pflanzen hervorgehen.
• Oxalá gehorcht, er ruft die orixás herbei und vertraut jedem von ihnen ein Element an. So wurde die Welt geschaffen. Seither fahren die orixás in regelmäßigen Abständen in die Menschen herab, die in ihren Dienst eingeweiht sind. Oxalá, der sie zusammengerufen hat, ist der erste unter ihresgleichen. Auch er offenbart sich in wichtigen Augenblicken des Überlebens der Welt den Menschen. Olorum selbst tritt nie in Erscheinung. Ihm ist kein Gegenstand geweiht, und kein
menschliches Wesen spricht je in Trance seinen Namen aus. Die Menschheit ist
wiederum mit einer einzigen und ständigen Aufgabe betraut: unter den Mitgliedern jeder Generation sind einige in den Dienst der orixás eingeweiht. Als grundlegende Elemente des Universums offenbaren sich die orixás ihnen und sprechen
durch ihren Mund.“ (Ziegler 1977:269-271; nach Verger 1971 und 1981)
Der candomblé bezieht sich auf die ursprünglich afrikanischen “Gottheiten”, die orixás. Bei den Yorubas und afro-brasilianischen Formen des candomblés ist der Glaube an einen “höchsten Gott” (er wird ebenfalls Olorun,
Olorum und Olodum genannt) charakteristisch. Er hat die Funktion eines fernen Schöpfers, der die orixás erschaffen hat, die als seine Botschafter und
Vermittler zwischen Olorum und den Menschen fungieren. Sie werden als die
Ahnen der Menschheit angesehen, die sich nach ihrem Tod in Götter verwandelten.
165
Dies ist einer von vielen Ursprungsmythen, der von Pierre Verger bei den Yorubas in Nigeria
in den 50er Jahren gesammelt wurde. In Salvador werden zum Teil andere erzählt mit unterschiedlichen Namensgebungen für die oberste Gottheit sowie die anderen Wesenheiten. Über
die Funktionen von Olorum sowie der orixás sind sich Forscher und candomblé-Mitglieder
weitgehendst einig. Zur Problematik der verschiedenen Namen siehe Verger (1981: 21)
64
Olorum wird nicht direkt verehrt. Ihm sind keine Feste und Rituale geweiht. Die orixás, die von den Menschen geehrt werden und denen geopfert
wird, geben einen Teil ihrer Opfergaben an Olorum ab. Sie werden als Boten
und Vermittler zwischen den Menschen und Olorum angesehen. Olorum gibt
jedoch jedem Menschen sein Schicksal mit auf die Welt, das er, wenn es ungünstig ausfällt, durch Erfüllung seiner rituellen Pflichten und Opfern gegenüber den orixás positiv beeinflussen kann. Schon vor der Menschwerdung kniet
die Seele vor Olorum nieder und bittet um ein günstiges Schicksal. Die Mythen
und jeweiligen Stellungen der orixás werden je nach Religion, nação und den
verschiedenen terreiros in Bahia unterschiedlich bewertet, aber die Verwandschaftsbeziehungen unter ihnen werden einheitlich, wie im folgenden Schema
dargestellt, wiedergegeben.166
♦ Genealogie der wichtigsten orixás im brasilianischen candomblé:
Olorum der
Schöpfer
Nanã
Oxumaré
Oxalá
Omolu
Oxóssi
Iroko
Ossaim
Obá
Yemanjá
Oraniã (Odudua)
Ogum
Xangô
Yansã
Euá
Oxum
Exú
Exú hat eine Sonderstellung darin. Er ist der Sohn von Oxalá und Yemanjá, der oftmals dem katholischen Teufel gleichgesetzt wird. Er wird wegen mancher negativer Assoziationen in einigen Schemata deshalb unterhalb
der Linie der Kinder angesiedelt. Bei anderen steht er darüber, ebenfalls außerhalb der Genealogie, was seiner speziellen Botenfunktion entsprechen soll.
Die meisten Forscher geben ihm einen Sonderstatus, was durch seine Gleichsetzung mit dem Teufel und dem Unverständnis, daß er aktiv verehrt wird,
zusammenhängen muß. Er scheint, aktiver als die anderen orixás, die
Alltagsgeschehnisse zu beeinflussen.167
166
Vgl. u.a. Pinto 1991:167
Ich werde später auf ihn zu sprechen kommen und seine positiven und negativen Aspekte
beleuchten.
167
65
Der Kosmos ist von vielen orixás bewohnt, die mit den Menschen nur innerhalb der Trance in Kontakt treten können. Júlio Braga (1988), der das zum
candomblé gehörige Orakelwesen analysiert, beschreibt, daß aktuell 16 orixás
die wichtigsten in Bahia sind. Im Kaurimuschelorakel, das mit 16 Kaurimuscheln geworfen und von allen mães und pães-de-santo betrieben wird, ist
jedem orixá eine der 16 Muscheln zugeordnet. Somit findet jeder der orixás
Berücksichtigung.168
Die orixás haben ähnliche Charakterzüge und Schwächen wie die Menschen, sie werden als launisch und als nicht den gängigen Moralvorstellungen
entsprechend, beschrieben. Ihre Mythen berichten von Liebe und Leidenschaft, Intrigen und Verrat, Krieg und Kampf, Rache und Versöhnung. Im Gegensatz zum Menschen sind sie gegen Tod, Krankheit und Alter gefeit und besitzen wesentlich größere Macht als die Menschen.169
Jeder orixá hat hier auf Erden seine Menschenkinder, die ihm entsprechen, d. h. die gleichen Charaktereigenschaften wie er aufweisen.170 Durch
Initiationen lernen manche, die orixás zu empfangen. Wenn die Menschen ihnen genügend Aufmerksamkeit zukommen lassen, sie verehren und ihre obrigações (Pflichten) ihnen gegenüber erfüllen, helfen ihnen die orixás auf ihrem
Lebensweg.
Jedem orixá wird ein breitgefächertes Spektrum von Eigenschaften und
Attributen zugeordnet. Dieses umfaßt bestimmte Tiere, Pflanzen, Farben,
Halsketten, Zahlen, Wochentage, musikalische Rhythmen, Gesänge, Gerüche,
einen Edelstein oder ein Mineral, bestimmte Mahlzeiten und Getränke, Instrumente wie Pfeil und Bogen oder Spiegel und Kamm. Zudem verkörpert jeder einen Bereich der Natur wie Blitz, Wasser, Feuer oder Erde.171
Zu jedem orixá gehört ein katholischer Heiliger, entsprechend der Tradition der Sklaven, ihre orixás verstecken zu müssen. Auch hier gibt es lokale
Unterschiede, welcher Heiliger mit welchem orixá korrespondiert. In unterschiedlichen Regionen und terreiros haben orixás andere Bedeutungen bzw.
Funktionen, und es wird ihnen in verschiedenen Ritualen, je nach nação, anders gehuldigt. Viele orixás erhielten regional unterschiedliche Namen und
168
Es existieren weitaus mehr orixás, die zum Teil nicht aktiv verehrt werden. Manche von
ihnen seien nach Afrika zurückgekehrt, heißt es (aus meinen unveröffentlichten Interviews mit
mães und pães-de-santo in Salvador, 1994).
169
de Hohenstein (1991:160).
170
Verger (1981) spricht von Archetypen, die den orixás entsprechen und die Charakterzüge der
jeweiligen Kinder der orixás dominieren. Den Begriff Archetypus halte ich jedoch für nicht
eindeutig definierbar. Nach Jung sollen sie im menschlichen Gehirn verankert sein, dies läßt
sich jedoch nicht nachweisen.
171
Diese Zeichen, Elemente und Codes sollen in einem dynamischen Kontext interpretiert werden, wobei sie als Teil des Prozesses bedeutungsvoll sein sollen. Die Vergleiche zwischen den
Attributen der orixás und deren symbolischer Bedeutung sollen auf die Beziehung zwischen
ihnen, ihren Charaktereigenschaften und ihrem Platz im Pantheon hinweisen (de Hohenstein
1991:161).
66
Zuordnungen, die sich u.a. nach dem Beliebtheitsgrad der jeweiligen katholischen Heiligen richten.172
Nach de Hohenstein (1991:160) präsentieren sie auf der kosmischen Ebene einen Teilaspekt der Natur; auf der sozialen Ebene erfüllen sie Funktionen wie z.B. den Schutz der Gläubigen, auf der psychologischen Ebene verkörpern sie Aspekte menschlicher Charaktereigenschaften.173
Die orixás stehen in direktem Bezug zur Welt und den hiesigen Geschehnissen. Es wird versucht, mit ihnen in Kontakt zu treten, um sie zum Eingreifen in Notlagen zu bewegen. Dafür haben sich Spezialisten ausgebildet,
die “mães-de-santo” und die “pães-de-santo” (Mütter und Väter der Heiligen).
Sie haben in langjährigen Ritualen, Einweihungen und Ausbildungen gelernt,
als Medien zu fungieren und die Sprache der orixás ihrer Glaubensgemeinschaft zu vermitteln.
Jeder Mensch besitzt einen, zwei oder mehrere orixás (orixá da frente,
d`atrás: vorderer und hinterer orixá), die über das Orakel festgestellt werden
können. Sie können ihm helfen, wenn er sie auf die richtige Art und Weise
darum bittet. Die Charakterzüge der jeweiligen Person entsprechen dem oder
der zugehörigen orixás und sollen ihnen gemäß ausgebildet werden. Wenn
derjenige, Sohn oder Tochter des jeweiligen orixás, seinen Charakter nicht
dementsprechend ausbildet, kann er die verschiedensten persönlichen Probleme bekommen.
Jedes Individuum hat zwei Seelen. Die eine ist die Vitalseele, mit deren
Hilfe der Mensch lebt und die ständig durch Nahrung erhalten werden muß.
Die zweite Seele, der Geist, wird im Ritual genährt, und er ist für die Ahnen
und das Weiterleben nach dem Tod in anderer Form zuständig und bestimmt
Glück und Intelligenz der betreffenden Person.174
Andere Wesenheiten, gute und böse Geister, beleben ebenfalls den
Kosmos. Auch die bösen Geistwesen können in die Geschehnisse der Welt eingreifen und das Leben einer Person entscheidend negativ beeinflussen. Mães
und pães-de-santo versuchen, deren Energien aufzulösen, abzuwenden und
gegebenenfalls, wenn sie schwarze Magie betreiben, auf andere Personen zu
lenken. Die Ursachen von Leid werden oft auf Hexerei zurückgeführt. Wenn
eine neidische Person Übles will, ist sie in der Lage, mit Hilfe bestimmter Rituale von darauf spezialisierten Personen andere zu verhexen.
So können psychisch und sozial abnorme Verhaltensweisen, persönliches
Unglück in allen Lebensbereichen bis hin zu Todesfällen nicht nur für die betroffene Person, sondern auch für deren Familie entstehen.
172
Koch-Weser 1976:270-279.
Zur Beschreibung der einzelnen orixás, ihren jeweiligen Attributen und Mythen, was über
den Rahmen meiner Arbeit hinausgeht, siehe: Verger 1981; Bastide 1971; de Hohenstein
1991; Koch-Weser 1976, u.v.a.
174
Der Geist oder die Geistseele wird auch Schutzengel genannt (de Hohenstein 1991:161).
173
67
Alle orixás erklären sich durch ihre afrikanischen Ursprungsmythen. Die
Entstehung von Natur und Mensch geht in den Mythen auf die Schöpferkraft
der orixás zurück.175
Die eguns, die Totengeister, werden in speziellen Riten verehrt und
werden nicht bei den üblichen Festen gerufen. Auf der Ilha Itaparica, nahe bei
Salvador, haben sich ausgeprägte egun-Kults erhalten.176
2.9.5 Das Pantheon der orixás
„orixá é uma coisa muito fina. Não pode tá se chamando toda hora e todo o
instante, e nem todo minuto“.
(R.S.D. in Telles de Santos 1992:69)
Der Glaube an die orixás gelangte mit den Yoruba aus Westafrika in die
Neue Welt. Die vielen Mythen und Legenden geben Auskunft über die Orte und
Landschaften, von wo ihre Handlungen ausgingen. Nigeria und Benin stand
unter dem Einfluß von Islam und Christentum, und trotzdem hat die YorubaReligion dort, wie in Brasilien, überlebt. Alle der geistigen Wesen die zu diesem Pantheon gehören, werden in der Regel hierarchisch bestimmt. An der
Spitze steht der „Eigentümer des Himmels Olodumaré (Olorum). Er erschuf
die orixás, welche gemeinsam die folgenden Positionen innerhalb der Hierarchie einnehmen und die Machtbereiche untereinander aufteilen. Auf der folgenden Ebene stehen die „deifizierten Ahnen“, und als viertes folgen die Geister, die mit den Naturelementen im Zusammenhang stehen.177
175
Siehe Verger 1981.
Zu diesem Thema verweise ich auf Braga 1992.
177
Vgl. Pinto de Oliveira (1991:165-166).
176
68
♦ Übersichtstabelle der bekanntesten orixás in Bahia und ihren zugeordneten Symbolen178:
Katholische Heili- Element
Insignien
Tag
Farben
Opfer
Hirtenstab
Freitag
Weiß
Ziege,
ge
Oxalá
Nosso Sr. do Bon- Himmel
fim (Jesus)
Yemanjá
Nr.
da Meer
Sra.
Conçeição
Huhn,
Taube
Spiegel, Säbel, Samstag
(Got-
Fisch
weiß hellblau, rosa
tesmutter Maria)
weiße Hühner,
Ziegen,
ben
Tau(weiße
Süßspeisen)
Oxóssi
São Jorge (Sankt Wald, Wildnis Pfeil und Bogen Donners-
Ogum
Georg)
(Mond)
Santo Antonio
Krieg, Eisen
Grün
tag
Ziegenbock,
Schwein, Hahn
Dienstag
Dunkelblau
acarajé, Hahn
Metall-spiegel
Samstag
Golden,
gelb
Huhn, Ziege
Doppelaxt
Mittwoch
rot,
rot/weiß
Hammel,
Eisengegenstände,
silber-
nes Schwert
Oxum
Nr. Sra. das Can- Süßwasserdeias (Liebe Frau gewässer
der unbefleckten
Empfängnis)
Xangô
São Jerônimo (St. Blitz, Feuer
Hieronymus)
Widder, Huhn
(carurú)
Omolu
São Lazaro, São Erde, Pocken
Zepter (Sense)
Montag
Roque (St. Laza-
Schwarz/
weiß
rus, St. Rochus)
Exú
Yansã
Ossâim
Büffelhaarwe-
Barbara)
del, Schwert
Benedito Kräuter,
(Sankt Benedikt)
Oxumaré
Montag
Dreizack
Santa Bárbara (St. Wind
São
São Bartolomeu
Schwein, Hahn
(Popkorn)
Wegkreuzungen
Luzifer
Ziegenbock,
dizin
Mittwoch
Me- eiserne sieben- Montag
spitzige Gabel Donnerstag
mit Vogel
Regenbogen
kupferne
Dop- Dienstag
pel-schlange
Schwarz/ro
t
Hahn, Ziegen-
Rot
Ziegenbock,
bock, Schnaps
Huhn (acarajé)
grün, rosa
(weiß)
Ziegenbock,
Hahn Bohnenmehl (Honig)
Regenbogenfarben
Ziegenbock,
Hahn (Bohnen,
Maismehl)
Nanã
ruku
178
Bu- Nr.- Sra. Santana Schlamm,
geschwungenes Mittwoch
Erde, Gewäs- Zepter
(Skt. Anna)
ser
weiß, dunkelblau
Huhn,
Lamm,
Essen
ohne
Ölzugabe
Vgl. Pinto (1991:169 u.a.)
69
2.9.5.1 Oxalá, weiser Vater, Schöpfer der Menschen
Oxalá wurde von Olorum vom Himmel herabgeschickt, um die Erde zu erschaffen. In einem großen Sack, den er trug, war die Welt erhalten. Bei einer
Rast auf dem Weg betrank sich Oxalá (aus Versehen) mit Palmwein und schlief
ein. Als Oxalá aus dem Schlaf erwachte, war die Welt schon geschaffen (von
einem anderen orixá, Odudua). Mit dem Rest der verbliebenen Erde schuf Oxalá nun die Menschen. Da er noch im Rausch war, schuf er ebenfalls Mißbildungen, Krüppel, Bucklige und Albinos.179
Abbildung 2: Oxalá180
Oxalás Anhänger dürfen keinen Palmwein trinken. Seine Kultspeisen müssen ungesalzen sein.
Sein Charakter wird als unabhängig
und rechthaberisch beschrieben.
Der alte Oxalá heißt Oxalufã, der
den Frieden und die Weisheit symbolisiert; der junge Oxalá namens
Oxaguiã steht für Krieg und Kampf.
Kreative Kräfte werden Oxalá zugeordnet. Er ist der orixá der Krüppel
und Behinderten, die sehr geachtet
werden. Er ist männlich, sein Element ist die Luft. Seine Kinder sind
ruhige, vertrauenerweckende und
reservierte Personen, die in der Gesellschaft sehr geschätzt werden. Sie gehen langsam und unhaltbar ihren eigenen Weg und sind vor fremden Einflüssen gefeit. Sie verändern ihre Pläne
nicht, tragen und akzeptieren die Konsequenzen ihres Handelns ohne zu klagen.181
Seine Farbe ist weiß, die Farbe des Friedens, der Stille, Reinheit und
Weisheit. Sein Tag ist der Freitag, an dem viele seiner Anhänger weiß gekleidet sind. Bei Festen ihm zu Ehren herrscht die weiße Farbe ebenfalls vor.
Ganz besonders in Bahia wird Oxalá von vielen als der wichtigste der orixás angesehen und wird als der orixá mit dem ausgewogensten Charakter
verehrt. Ihm entspricht der katholische „Senhor do Bonfim“ und Jesus. Er ist
der Herr des Initiationsritus, der Tod und Geburt symbolisiert. Mitte Januar ist
das größte Fest zu seinen Ehren. Katholiken und candomblé-Mitglieder ziehen
dann, in Weiß gekleidet, zur Kirche Bonfim und erweisen den beiden ihre Ehre, jeder auf seine Art. Die Kirchentreppe wird von mães-de-santo gewaschen
und mit Blumen bestreut.
179
nach Ojo (1966:181).
Die folgenden Abbildungen (Nr. 2 bis 12) sind Zeichnungen der orixás von Hector Carybé.
181
Vgl. Verger (1981:261)
180
70
Wenn Oxalá tanzt, in seinem weißen Gewand, mit seinem Stab mit drei
Rädern mit kleinen Glocken und silbernen Vögeln, bewegt er sich wie ein alter
Mann. Er tanzt meist nach vorn gebeugt, mit den Lasten des Alters auf den
Schultern. Er vermittelt körperliche Schwäche, dabei jedoch große Würde und
Weisheit. Er hat die Kraft, die Last und das Leid des Alters zu tragen. Nach
Pinto 1991 ist er, der bei den orixá-Tänzen als letzter erscheint.
2.9.5.2 Yemanjá, die schöne Göttin des Meeres, Mutter
der Fische
Yemanjá hatte zusammen mit Aganyu einen Sohn. Ihr Sohn entflammte in Leidenschaft zu ihr, während sie schwanger war und vergewaltigte sie. Yemanjá
floh vor ihm nach Ifé, der heiligen Stadt, und stürzt dabei auf den Boden. Hier
gebar sie die verschiedenen orixás und aus ihren Brüsten flossen zwei große
Flüsse, die das Meer bildeten.
Abbildung 3: Yemanjá
Yemanjá ist die Mutter von vielen orixás.
Sie, Königin des Meeres, ist ebenfalls Göttin der
Fruchtbarkeit und Symbol der Mütterlichkeit, der
bedingungslosen Liebe zu den Kindern. Wie aus
einigen Mythen hervorgeht, liebt sie Luxus und
Schönheit über alles. Sie ist stark, beschützt ihre
Kinder und rächt sich an ihren Feinden. Wie das
Meer kann sie sanft und geschmeidig, aber auch
wütend, tobend, brausend und tötend sein. Weiß
und Blau sind ihre Lieblingsfarben, mit denen sie
sich gerne schmückt.182
Im Tanz erscheint Yemanjá majestätisch,
elegant und unnahbar. Sie tanzt mit dem Spiegel,
kniet sich nieder bis zum Meeresgrund, begießt
sich mit Wasser und freut sich an den fließenden
Bewegungen. Sie ist wendig wie ein Fisch in den
Wellen, entsprechend ihrem Bildnis, sie wird immer mit einem Fischschwanz
wie eine Meerjungfrau dargestellt. Sie zeigt die gleichen fließenden Energien
wie ihr Element, das Meer.
Sie ist besonders beliebt in Bahia. In Rio Vermelho, einem Stadtteil Salvadors, hat sie am Meer ihren weißen Tempel mit ihrem Standbild erhalten,
an dem ihr von Gläubigen jeden Tag Gaben gebracht werden. Am 2. Januar,
ihrem Ehrentag, erhält sie von fast der ganzen Bevölkerung, schwarzen und
weißen Menschen, Unmengen von Gaben, Blumen und Gegenständen, die sie
liebt, welche die Fischer in ihren großen Körben in ihren Booten auf das Meer
hinaus bringen. Wenn sie die Geschenke annimmt, bedeutet das, daß sie bereit ist, die Wünsche, welche die Menschen an sie gerichtet haben, zu erfül182
Vgl. Verger (1981:190-195).
71
len. Die Bevölkerung Salvadors fühlt sich ganz besonders mit dem Meer verbunden, verehrt es, und die meiste Freizeit wird ebenfalls am Meer verbracht.
Weiße Kaurimuscheln, die am Meer gefunden werden, sind Gaben Yemanjás
und werden zum Schutz vor Bösem getragen. Mit ihnen werden auch die Orakel geworfen, denen die wichtige Bedeutung beigemessen wird, die Zukunft
günstig zu beeinflussen, Leid zu beenden oder wenigstens zu vermindern.
2.9.5.3 Oxóssi, der wendige Krieger des Waldes und
Gott der Jagd
Oxóssi ist der dritte Sohn Yemanjás, der in den Wäldern herumzieht und erfolgreich Wild aufspürt. In Afrika war er König der Ketu. Die Jagd ist seine
Leidenschaft, über die er sich selbst vergißt. Mit Pfeil und Bogen zieht er ruhelos umher und wittert seine Beute von weitem. Mit seiner Intelligenz und
Beweglichkeit schafft er es, allen Gefahren des Waldes standzuhalten. Er ist
bescheiden und aufrichtig, ein ehrlicher Kämpfer. Für ihn gibt es keinen Zweifel, daß er den Aufgaben, die er sich stellt, gewachsen ist. Er ist sich seiner
Kräfte und seines Wissens sicher. Was er leistet, entspringt seinem freien Willen. Seine Kraft gewinnt er durch seine ihm innewohnende Ruhelosigkeit,
Neugierde und Lernbereitschaft. Instinktiv hat er sich das Wissen über die
Kräfte der Natur zu eigen gemacht, wie ein Magier.
Abbildung 4: Oxóssi
Seine Kinder, deren Haupt-orixá
er ist, sind aufgeschlossene, bewegungsfreudige Personen, die immer auf der
Suche nach neuen Ereignissen und Abenteuern sind. Sie ergreifen die Initiative
und sind gerne an verschiedenen Plätzen. Zudem sind sie freundlich und
hilfsbereit, haben ein offenes Herz und
beschützen instinktiv ihre Familien und
Freunde.183
Oxóssis Tanz ist zielstrebig, energiegeladen und schnell. Er ist immer in
Bewegung. Er hat sämtliche Richtungen
im Blick, was ihn unverwundbar macht,
und zielt mit Pfeil und Bogen. Flinke
Eleganz und Leichtigkeit kennzeichnen
ihn, den großen Jäger.
183
Vgl. Verger (1981:112-114).
72
2.9.5.4 Ogum, der wilde Gott des Krieges und des Kampfes
Ogum, Herr des Eisens und des Krieges, ist ebenfalls ein Sohn von Yemanjá. Er
ist der schützende orixá all der Personen, die mit Eisen und Metall arbeiten:
der Schmiede, Jäger, Barbiere, Bildhauer, Mechaniker und Bauern. Ohne das
Eisen von Ogum könnten viele Arbeiten nicht verrichtet werden. Er ist der
Krieger, dessen einzige Lust der Kampf mit dem Eisen ist. Nach einer afrikanischen Legende wollte sein Vater eines Tages, daß er über sein Reich wie ein
König herrsche. Ogum jedoch lehnte ab, lieber wollte er sich in neue Kämpfe
mit den benachbarten Königreichen stürzen.
Ogum schmiedete seine Waffen über dem Feuer, und seine Frau Yansã
sah ihm dabei zu. Er schenkte ihr einen Eisenstab, der im Kampf Männer in
sieben und Frauen in neun Teile teilt. Er selbst besaß den gleichen Stab. Xangô, der spätere Ehemann von Yansã, kam oft in die Werkstatt von Ogum und
setzte sich zu ihnen an das Feuer. Yansã und Xangô verliebten sich hier ineinander. Yansã floh, und Ogum verfolgte sie. Sie kämpften beide gleich stark
mit ihren Stäben, und Ogum wurde in sieben, Yansã in neun Teile gespalten.
Abbildung 5: Ogum
Ogum wird mit sieben Eisengegenständen und einem Silberschwert
repräsentiert. Er tanzt bei den großen
orixá-Festen meistens als erster in einem blauen Kostüm, öffnet und bahnt
die Wege für die anderen. Er demonstriert die Freude am Kampf und der Auseinandersetzung und zeigt damit, daß
sie unmittelbar zum Leben gehören. Er
wirbelt sein Schwert in der Luft und
schlägt damit so zu, als würde er die
Lüfte durchtrennen, alles im Weg Stehende vernichten. Er ist ein gebündeltes
Kraftpacket, das keinen Widerstand kennt. Er ist unbestechlich und geht rücksichtslos seinen eigenen Weg. Ogum geht über Leichen. Er setzt sich energisch
und bis ans Ende seiner Kräfte gehend für seine Ziele ein. Ogum verliert nie
den Mut.
2.9.5.5 Oxum, die sinnliche Göttin der Flüsse und der
stillen Gewässer
Oxum ist die Göttin des Flusses mit dem gleichen Namen in Nigeria. Sie ist die
zweite Frau Xangôs, nachdem sie mit Ogum, Orunmilá und Oxóssi
zusammengelebt hat. Sie ist die Königin der Verführungskünste, denen kein
orixá und kein Mensch widerstehen kann. Sie herrscht über alle süßen Gewässer, Flüsse, Seen und Bäche. Ihr untersteht die Fruchtbarkeit, der Reichtum
und die Schönheit. Spielerisch erreicht sie mit ihrer von innen kommenden
73
Schönheit alle Ziele und erobert alle Herzen im Flug. Ihr Charakter ist von eitler Schönheit und magischem Charme geprägt.
Abbildung 6: Oxum
Nach den Mythen, die über sie berichtet werden, gelingt ihr alles, was
andere mit Blutvergießen und Kämpfen
nicht erreichen, indem sie ihre friedlichen, oft unschuldigen, verführerischen
Kräfte einsetzt. Sie ist graziös und elegant, liebt die Farbe und das Metall Gold
sowie schöne Kleider und schönen
Schmuck. Anlässe, sich zu zeigen, darzustellen und ihre Schönheit bewundern zu
lassen, stellen ihre größten Freuden dar.
Sie liebt die Künste, Feste und Gesänge,
das schöne gesellschaftliche Leben
schlechthin.184
Sie trägt, wie Yemanjá einen
Spiegel, in dem sie sich beim Tanz bewundert. Mit einem Fächer wedelt sie sich beim Tanze frische Luft zu. Sie
klimpert mit ihren vielen Armreifen aus Metall, die leise bei ihren sanften Bewegungen klirren. Kleine Schritte und Bewegungen drücken ihre Schönheit und
ihre Lust daran, schön zu sein, aus. Ihre Kleider sind in hellen Pastelltönen,
golden, gelb, hellblau und hellrosa gehalten.
Sie ist sehr beliebt bei den Baianos, den Menschen Bahias, die sich wie
sie gerne schmücken, pflegen und ästhetisch sein wollen. Tochter oder Sohn
von Oxum sein, heißt, im Leben spielerisch etwas geschenkt zu bekommen
und beinhaltet die Leichtigkeit des Seins, nach der sich alle so sehnen. Oxum
ist die Königin der Feste, ohne sie braucht kein Fest begonnen zu werden. Sie
ist die Kraft, welche die wilden Krieger besänftigt.
2.9.5.6 Xangô, der Herrscher über Donner und Blitz
Abbildung 7: Xangô
Xangô ist ein weiterer heroischer Sohn von
Yemanjá. Einst war er ein mächtiger König
in der Stadt Oyó in Afrika und ein starker
Krieger. Legenden über ihn berichten, daß
er von seinem Vater das Feuer geschenkt
bekommen hat, um gegen seine bösen
Feinde siegen zu können. Er ist wie das
Feuer leicht entzündbar, von aufbrausen-
184
Siehe Verger (1981:1774-176).
74
dem Charakter, dann auch gewalttätig und schwer zu besänftigen. Seine Feinde fürchten ihn zu recht, denn sein Zorn gegen Widersacher, die ihm Böses
wollen, kennt keine Grenzen. Gleichfalls ist er ein Herrscher von großer Seriosität. Niemand wagt seinen Handlungen entgegen zu treten. Xangô ist sich
seiner Bedeutung so gewiß wie seiner unbändigen Energien. Er wirkt majestätisch und edel. Xangô versteht es, sich Respekt zu verschaffen. Widersprechende Meinungen toleriert Xangô keineswegs, jedoch sein Gerechtigkeitssinn
ist berühmt. Xangô ist mächtig. Nach ihm sind die Xangô-Rituale, die candomblé-Entsprechungen in Recife, benannt.
Sein Tanz ist wie sein Charakter, kräftig, aufbrausend, ausdauernd und
dominant. Rot ist seine Lieblingsfarbe. Er schwingt die Doppelaxt beim Tanz.
Er tanzt in vollem Einsatz seiner Kräfte und schüttelt cholerisch, zornig seinen
Körper. Mit seinen Bewegungen regiert er den Raum, den er ausfüllt. Er nimmt
keine Rücksicht auf seine Umgebung, man weicht ihm aus. Er ist der kraftvolle
König, der Beherrscher des Raumes.
75
2.9.5.7 Omolu, der gefährliche Gott der Pocken, Krankheiten und des Wohlergehens
Man weiß nie, was Omolu bringt, denn er verbirgt sich unter einem Umhang
aus Stroh. Seine Berührungen können tödlich sein, sie können aber auch heilen. Er besitzt unfaßbare Kräfte, die Angst machen und gleichzeitig faszinieren. Er ist der Sohn von Oxalá und Nanã Buruku und wurde von ihnen, nach
einer Legende verstoßen, weil er so häßlich war. Yemanjá erbarmte sich seiner, des pockennarbenübersähten Hinkefusses, und zog ihn groß. Er ist der
König, der die Welt mit Wunden schlägt. Bei dem Erbstreit zwischen ihm und
seinen Geschwistern gaben sie ihm den ihm zustehenden Erbteil nicht ab. Daraufhin schleuderte er wütend Pockenpusteln in alle vier Himmelsrichtungen,
und die Menschen wurden krank, siechten dahin und starben. Der um Rat befragte Wahrsager schlug den Leidenden vor, Omolu um Verzeihung zu bitten
und ihm Opfer darzubringen. So wurden die Pocken geheilt, und keiner starb
mehr.
Abbildung 8: Omolu
Omolu hat die Kraft, die
Menschen zu töten. Nicht wie die
Krieger im wilden Kampf, feurig
und schnell, agiert er, sondern mit
unbekannten, deshalb noch mehr
schreckenerregenden Mitteln. Er
kann die Menschen innerlich
verbrennen, dann sterben sie langsam und gequält an Fieber. Stirbt
ein Mensch auf diese Art, wurde in
manchen Regionen Afrikas ein
Freudenfest für Omolu gefeiert,
um ihn zu ehren. Der Gestorbene
ist sein Sohn. Um den Verstorbenen darf dann nicht getrauert werden.
Man sagt, er liebt pipoca (Popcorn), das für ihn ausgestreut wird, so wie
er Pocken und Seuchen verbreitet. Man zeigt ihm, wie all den anderen orixás,
daß man seine Kräfte respektiert und akzeptiert.
Er selbst verbirgt sich wegen seines von Pockennarben entstellten Gesichts, unter einem Bastvorhang. Beim Tanz sieht man, daß er vom Tode gezeichnet ist. Seine Haut juckt ihn, er muß sich dauernd gequält kratzen.
Schwach ist Omolu jetzt, seine Kräfte verlassen ihn, die Knie sacken ein, er
strauchelt und fällt, er ist vom Fieber geschüttelt, und er tanzt den Tanz des
Sterbens. Er klagt, rauft sich die Haare, schlägt sich auf die Brust. Die vielen
Heilpflanzen, deren Gebieter er ist, nützen ihm jetzt auch nichts mehr. Omolus Sterben beinhaltet Kraft. Er löst sich vom Alten, vom Körper, der zu nichts
mehr nutze ist. Um das, was danach kommt, kümmert er sich jetzt nicht
76
Seine Kinder sind innerlich unruhig und suchen immer irgend etwas, so
sagt man. Sie scheinen extreme Situationen, die den Alltag durchbrechen, zu
benötigen, und ihr Charakter scheint daran zu wachsen, wie auch immer. Vielleicht eignen sie sich wie Omolu magische, verborgene Kräfte an, die andere
nicht beschreiben, geschweige denn verstehen können - und auch nicht müssen.
2.9.5.8 Exú: Der listige Hüter der Wege
Exú, in diesem Mythos der jüngste Sohn von Yemanjá, ist Botschafter zwischen
den Menschen, den anderen orixás und Olorum. Er ist der Herr der Wegkreuzungen sowohl auf Erden als auch im Himmel. Dort verbindet er die Beziehungen und übersetzt die Botschaften der orixás aus dem Jenseits für die Menschen. Er ist jedoch nicht nur das. Seine Listen und Streiche, zu denen er immer aufgelegt ist, sind berühmt und vielfältig. Wenn Exú erzürnt ist, hüte
sich, wer kann. Man sagt z. B., wenn ihm sein zugehöriger Anteil an Gaben
nicht dargeboten wird, kann und wird er allerlei Unheil anrichten und den
Menschen übel mitspielen.
Exú ist in der Lage, furchtbare Streitigkeiten unter den Menschen hervorzurufen, böse Intrigen zu spinnen und ihnen Krankheiten und Leid anzuhexen. Anderseits kann er Wege und Straßen vor Gefahren schützen. Ohne Exú
gelingt somit nichts, aber mit ihm kann alles gelingen. Ihm werden deshalb
vor Antritt von Wegen, Prozessionen, Reisen, Ritualen und verschiedenen Tätigkeiten die bestimmten Opfer, die er will, gespendet.
Abbildung 9: Exú
Probleme auf Wegen und Reisen sind
meist darauf zurückzuführen, daß Exú nicht
angemessen gewürdigt wurde, wie das Orakel
der candomblé-Priesterinnen bestätigt. Opfer
an Exú dienen der Harmonie zwischen dem
Kosmos und den Menschen. Gleichzeitig bringt
Exú die begehrten Kräfte des Universums zu
den Menschen, das axé,185 das allen Gegenständen, Pflanzen und der Natur innewohnt und
dessen sich die Menschen bedienen, um Positives und manchmal auch Negatives zu erreichen. Mit axé verhält es sich wie mit Exú, ohne
axé geht ebenfalls nichts auf Erden.186
185
axé (yorub.) Kraft, die ihren Ursprung in den orixás hat und sich bei den religiösen Ritualen
auf die Initiierten überträgt.
186
In sämtlichen candomblé-Festlichkeiten, inklusive der Heilungsrituale stellt axé die in allem
innewohnende Kraft der orixás dar, deren sich die Mitglieder zum Gelingen der Geschehnisse
bedienen möchten.
77
Exú bringt Zufall und Glück, er unterbricht Langeweile und Monotonie
des Alltags. Die Unruhe, die er stiftet, gibt Möglichkeiten zu Veränderungen,
Erneuerungen und des Unerwarteten. Aus diesem Grund symbolisiert Exú ebenfalls Sexualität.
Manchmal und vor allem von Außenstehenden wird er ganz und gar negativ interpretiert, was durch die Gleichsetzung mit dem Teufel der christlichen Tradition zum Ausdruck kommt. Andererseits ist Exú ein Symbol vieler
wichtiger, positiver Aspekte des menschlichen Lebens und des Einklangs zwischen den Menschen und dem von den orixás bewohnten Kosmos. In Afrika und
Bahia existieren unzählige Mythen und Legenden über ihn, die sowohl sein
tricksterhaftes Wesen als auch seine wahrlich üblen Scherze beschreiben.187
Die ihm geweihten Feste sind, nach meiner Beurteilung, sehr fröhlich.
Exú erscheint oftmals den filhas-de-santo und filhos-de-santo, welche hierzu
in Partykleidung in bunten, vorwiegend rot/schwarzen Kleidern und Anzügen,
gekleidet sind. Er wird geehrt und bekommt cachaça und Sekt zu trinken,
tanzt wie ein Clown und ist dabei sehr kontaktfreudig. Seine Bewegungen sind
ausgelassen, manchmal obszön und kommen alle aus der Hüfte. Er kontaktiert
viel mit den anderen Anwesenden, tanzt und balgt mit ihnen. Er kichert zufrieden und stößt fröhliche Laute und Gelächter aus. Exú scheint ritualisierte
Sexualität darzustellen.
Die Feste Exú zu Ehren sind nicht billig, denn mit Exú zusammen will
die Gemeinschaft, Gäste und Mitglieder, anstoßen und trinken. Exú scheint
Whisky und Sekt dem billigen Zuckerrohrschnaps vorzuziehen. Bei den Festteilnehmern verhält es sich zum Teil ebenso.188
2.9.5.9 Yansã, die wilde Kriegerin der Winde
Abbildung 10: Yansã
Auch Yansã ist ein Kind von Yemanjá und Oxalá mit einem sehr freiheitsliebenden Charakter. Zuerst war sie mit Ogum verheiratet, verließ ihn jedoch, um mit Xangô, dem Schönen,
Jüngeren, zusammenzusein. Zwischen den
beiden besteht deshalb bis heute große Kon-
187
Trickster: Mythischer Clown, Spaßmacher und Possenreißer, der sowohl Menschen als auch
Göttern seine Streiche spielt. Er ist das Medium der Kommunikation zwischen Göttern und
Menschen.
188
Bei Exú-Festen in den terreiros habe ich nur vereinzelt Touristen angetroffen, die mit den
jeweiligen terreiros bekannt waren. Ich interpretiere dies folgendermaßen: Zum einen ist es
für die terreiros zu teuer, die notwendigen Getränke für die Anwesenden zu bezahlen, zum
anderen vermitteln die Feste nicht die Art „Folklore“, die Bahia seinen Touristen offerieren
möchte, da Sinnlichkeit per se dargestellt wird. Der Erklärungsbedarf dürfte zu schwierig zu
erfüllen sein, als daß sie für touristische Zwecke, d. h. schnell und oberflächlich, geeignet
sind.
78
kurrenz. Yansã, eine temperamentvolle Schönheit, hat einen heftigen und
aufbrausenden Charakter. Sie liebt die Farbe rot und scheut sich nicht, ja,
freut sich daran, Aufmerksamkeit zu erregen. Sie ist voller Energie und Lebenslust und ständig zu Abenteuern bereit, wobei sie dem ruhigen Leben
durchaus zeitweilig etwas abgewinnen kann, eben wie der Wind.
Sie scheut sich nicht, alle Sicherheiten hinter sich zu lassen und neue
Wege anzutreten. Yansã fürchtet sich als die einzige orixá nicht vor den eguns, den Seelen der toten Vorfahren, sondern tritt in Kontakt mit ihnen. Deshalb wird sie auch Hüterin der Seelen genannt. Ihre Feinde fürchten sich vor
ihr und ihrer Rachsucht zu recht.
Yansãs Tanz symbolisiert den Wind. Schnell und behend wie Samba,
leicht und lustvoll. Sie hat einen Wedel in der Hand wie die afrikanischen Könige. Sie schwenkt ihn, leicht wie der Wind, und Yansã übt die gleiche Autorität wie die afrikanischen Könige aus. Wenn sie Ogum beim Tanz begegnet,
kämpft sie mit ihm, unverändert, wie zu Zeiten ihrer Ehe. Sie schreit beim
Tanz laut, kämpferisch und kraftvoll. Sie scheint von unerschöpflicher Energie
zu sein. Räume wirken fast zu klein für sie, denn sie ist Wind, Sturm und Unwetter zugleich.
Sie symbolisiert die unabhängige Frau, die sich an ihren Bedürfnissen
orientiert und sich das Recht dazu herausnimmt. Dadurch, daß einige der
männlichen orixás ihren Willen unbedingt durchsetzen wollen, sind Probleme
vorbestimmt. Es ist jedoch nicht von vornherein gesagt, wer siegen wird. Yansã hat ihren festen Platz und ihre gesellschaftliche Achtung. Wenn in Bahia
von einer Frau gesagt wird, daß sie von Yansã ist, bedeutet das für alle, daß
es sich um eine nicht zu unterwerfende, willensstarke Persönlichkeit mit eigenen Bedürfnissen handelt. Wenn ihr Charakter Probleme in der machismoGesellschaft haben wird, ist dies auf ihr unbeugsames Wesen zurückzuführen,
das toleriert wird.189
2.9.5.10
Ossâim, Gott der heiligen und medizinischen Pflanzen
Abbildung 11: Ossâim
Ossâim ist der Heiler unter den orixás, der die
Kenntnisse über die heiligen und medizinischen
Pflanzen und ihre Anwendungen, Wirkungsweisen
und die dazugehörigen Gebete und Gesänge besitzt. Einstmals wußten die Menschen nichts von
heilkräftigen Pflanzen und siechten krank dahin.
Ossâim wohnte im Wald in einer Höhle und sprach
189
Unter machismo versteht man das in Süd- und Mittelamerika typische männliche, latent oder
offen frauenfeindliche Verhalten innerhalb einer von Männern und Männerphantasien dominierten Gesellschaft.
79
eines Tages einen Mann an, der ihm begegnete. Er wußte, daß dessen Frau
krank war, und gab ihm Heilkräuter für sie. Sie wurde daraufhin gesund, und
alle anderen kranken Menschen kamen daraufhin ebenfalls zu ihm und erhielten die verschiedensten Heilkräuter gegen ihre Leiden.
Die anderen orixás wurden eifersüchtig auf die große Macht Ossâims
und wollten einen Teil davon abhaben. Yansã wehte mit einem großen Sturm
seine Kräuter in alle Himmelsrichtungen, und so erhielt jeder der orixás eines
davon, über das er nun alleine herrschen konnte. Das allumfassende und größte Wissen ist jedoch bei Ossâim geblieben.
In den Pflanzenblättern und Kräutern sind Kräfte und Energien der orixás enthalten, die bei den verschiedenen candomblé-Ritualen eingesetzt
werden. Räumlichkeiten und Personen werden mit diesen Energien gereinigt
und gestärkt. Das Symbol von Ossâim ist ein Eisenstab mit sieben Spitzen, auf
deren mittlerer ein Vogel sitzt. Er tanzt damit zu schnellen, sprunghaften
Rhythmen, die ihn bis zur Atemlosigkeit treiben. Seine Bewegungen mit den
Händen sind wie das Flattern von Blättern im Wind. Er nimmt alle vielfältigen
Energien des Waldes in sich auf. Er wird selbst zum Wald, zum Hüter der Geheimnisse des undurchdringlichen Waldes. Sein Wissen und seine Macht wachsen mit ihm.
Ossâim hat einen ausgeglichenen, geheimnisumwobenen Charakter wie
der undurchdringliche Wald, jedoch ist dies für viele nicht mehr einsichtig.
Deshalb umgibt ihn ein Mysterium. Von Ossâim wird gesagt, daß er seine Gefühle gut unter Kontrolle halten und sie der Ordnung des Waldes untergliedern
kann. Er verfügt wie die Wildnis über große schöpferische Kräfte, und seine
Entscheidungen scheinen wohl durchdacht wie die Gesetze der Natur.
2.9.5.11
Oxumaré, Gott der Regenbogenschlange
Oxumaré, das Kind von Nanã Buruku und Oxalá, ist weiblich und männlich
zugleich. Sechs Monate im Jahr ist er männlich, und die anderen sechs Monate
ist sie weiblich. Er/Sie, aber immer als er angesprochen, ist der Gott der
Schlange mit der sich regenerierenden regenbogenfarbenen Haut. Seine Doppelnatur wiederholt sich im Regenbogen, in dem die verschiedenen Farben
vereint sind. Er/sie häutet sich zweimal im Jahr. Er ist sehr mobil und aktiv.
Er dirigiert die Kräfte, welche die Bewegung verursachen.
Er schlängelt sich unendlich, für alle Zeiten, um die Erde herum. Wo
der Regenbogen jeweils am Himmel erscheint, befindet sich Oxumaré gerade.
Wenn der Regen fällt und sich der Regenbogen zeigt, demonstriert er seine
Kraft. Oxumaré lebt im Himmel und kommt nur ab und zu auf die Erde, aber
wenn er kommt, bringt er den Menschen Geschenke und Reichtümer mit, die
er freizügig verteilt. Wenn man ihn am Himmel erblickt, als Regenbogen, erfüllt es die Herzen der Menschen mit Freude.
Oxumaré tanzt, geschmückt mit Ketten aus vielen verschiedenen
Glasstücken in den Regenbogenfarben geschmeidig mit schlängelnden Bewegungen, die von seinen aufeinandergelegten Händen ausgehen. Mit einem wei80
chen Sprung beginnt er seinen Lauf zur Erde, auf die er vom Himmel niederstößt. Elastisch und flexibel wendet er sich nach links und rechts. Er trägt einen eisernen Stab mit einer Schlange mit sich. Mit ihm erscheint der Einklang
mit der unverständlichen Natur sowie die Einheit zwischen Leben und Tod.
2.9.5.12
Nanã Buruku, die alte Göttin der Gewässer
Nanã Buruku wird, bedingt durch ihr unendliches Alter, mit dem Tod in Verbindung gebracht. Nach einem afrikanischen Mythos soll sie selbst in der Lage
sein, Schlangen mit ihren bloßen Händen, ohne Benutzung eines Messers, umzubringen. Sie ist die Älteste der orixás. Die Gewässer, die ihr unterstehen,
sind weder das wogende Meer von Yemanjá noch die ruhigen Flüsse Oxums,
sondern die stillen Tümpel und ruhigen Seen, die ersten Gewässer, die es auf
der Erde gegeben haben soll. Ihr Charakter wird als ruhig, bedächtig und
ernsthaft dargestellt. Sie charakterisiert die Ewigkeit und Unendlichkeit mit
langsamen Bewegungen, tanzt wie eine respektable und ernsthafte Frau, gekleidet in den Farben Weiß und lichtem Blau. Sie ist kinderlieb und widmet
sich ausgiebig deren Erziehung. Nanã Buruku wirkt majestätisch und sehr
selbstsicher. Sie steht für Gerechtigkeit und Ausgeglichenheit. Ihre Entscheidungen entspringen aus ihrer tiefen Weisheit.
Abbildung 12: Nanã Buruku
Ihre Kräfte setzt sie für das Leben ein. Wenn sie den Tod bringt,
dient sie dem Leben, auch wenn dies
nicht verständlich erscheint. Sie bringt
Frieden in die Seelen, der aus den
Gründen ihrer Wassertümpel erscheint.
Nanã Buruku beruhigt wie das sanfte
Wiegen im Mutterschoß, wie das sanfte
Wiegen auf ihren Gewässern. Hier fragt
niemand nach dem Warum.
2.9.6 Caboclos - die Besitzer des Landes
„Die Erscheinung der caboclos ist sehr unterschiedlich zu der eines orixás.
Der orixá ist viel ruhiger, der caboclo ist viel wilder. Der Unterschied zum orixá ist, daß der orixá viel langsamer kommt, er ist eine sanfte Sache. Der caboclo nicht, manchmal wenn er kommt, ist er viel stärker als der orixá.“
(C.R.P.S. in Teles de Santo 1992:81)
81
Die caboclos werden von manchen der erwähnten Autoren und mães-desanto zu den orixás gezählt, von anderen als eigenständige Gruppe von Wesenheiten angesehen, was m.E. ihrem Wesen und ihrem Ursprung eher entspricht. Sie gelten als Ahnen der indianischen Ureinwohner. Caboclos sind die
donos da terra, denen Brasilien gehört.
Sie werden mit der Natur und der Wildnis in Zusammenhang gebracht.
Bei den ihnen gewidmeten Festen, die von vielen terreiros praktiziert werden,
sind die Räumlichkeiten vorwiegend in der Farbe grün, manchmal auch in den
Farben grün und gelb, entsprechend der brasilianischen Nationalflagge, geschmückt, was symbolisiert, daß die caboclos die Besitzer des Landes sind.
Die caboclos werden zum Tanz ebenfalls in Kleidung mit den Farben der
Natur geschmückt, und ihre Insignien demonstrieren Verbundenheit mit der
Natur. Manche caboclos tragen indianische Kleidung, Baströcke und Federn,
und ihre Tänze erinnern an indianische Tänze.
Die Gesänge für die caboclos sind meist in portugiesischer Sprache
gehalten, und oftmals verbunden mit Bantu-Ausdrücken, da vorwiegend, aber
nicht ausschließlich Bantu-nações sie verehren. Caboclos werden viel häufiger
als angenommen in den terreiros verehrt, aber oftmals ohne Teilnahme der
Öffentlichkeit und manchmal nur von einer Person.190
2.9.7 Candomblé-terreiros in Salvador
Die ersten terreiros in Salvador wurden Anfang des 19. Jhs. von Frauen gegründet, die sich als Katholikinnen tarnten. Sie existierten im Verborgenen,
und die Frauen schlossen sich einer katholischen Schwesternschaft an. Diese
wurden Orte des passiven Widerstands der Sklaven, wo sie ihre eigene schwarze afrikanische Identität mit ihren eigenen Ritualen festigten.
Ab 1835 ergriff die Polizei repressive Maßnahmen gegen die terreiros.
Erst 1976 wurde candomblé gesetzlich erlaubt, und danach kam es immer
noch zu vielen Übergriffen der Polizei, die in die terreiros (Kultstätten) eindrangen und oftmals wahllos Personen gefangennahmen.
Die terreiros bildeten Allianzen mit sozial gutsituierten Bürgern, die
Beziehungen zu den Machthabern pflegten, um sich vor den vielen Übergriffen
zu schützen. Diese mit dem candomblé sympathisierenden Personen erhielten
den Posten des ogãs, der administrative und diplomatische Fähigkeiten für das
jeweilige terreiro der Öffentlichkeit präsentierte.191 Die ogãs konnten durch
die Funktion, die sie in den terreiros einnahmen, wiederum ihren Einflußbereich auf die Unterschicht ausdehnen.
190
Ausführlicher hierzu siehe: Teles dos Santos (1992:15-82). Die drei am meisten verehrten
caboclos sind Eru, Boiadero und Oxóssi (hier als caboclo) Siehe Teles dos Santos 134-156.
191
Der erste ogã war der weiße Nina Rodrigues, Pionier der afro-brasilianischen Studien im
terreiro Gantois. Vgl. Hohenstein (1991:62-65). Dies geht auf die ursprüngliche Patenschaftssysteme zwischen Plantagenbesitzern und bevorzugten Sklaven zurück, die sich im Laufe der
Zeit bildeten und für manche Sklaven eine Erleichterung ihres harten Lebens darstellten (Silveira 1988:184).
82
Es existieren heute in Salvador ca. 3.000 registrierte terreiros der verschiedenen nações. Viele davon sind unbekannt und klein, manche aber haben
es geschafft, sich einen Namen zu machen und von der baianischen Regierung
Unterstützung zu erhalten. Das Interesse der Regierung besteht zum einen
darin, einige terreiros zu pflegen und zu unterstützen, da sie als kulturell interessantes Phänomen dazu geeignet sind, Touristen anzulocken. Zum anderen
steht candomblé heute bei vielen Wissenschaftlern international im Brennpunkt des Interesses, was eine kulturelle Aufwertung darstellt.
Manche terreiros versuchen zusammen mit interessierten Intellektuellen und Künstlern, ihren Einfluß bei der Regierung zur Förderung der terreiros
und der afro-brasilianischen Kultur geltend zu machen. Einen anderen, nicht
zu unterschätzenden Faktor stellt die Propaganda für Wählerstimmen dar; indem die Regierung einige terreiros und damit Personen aus der sozialen Unterschicht unterstützt, kann sie dies für ihren Wahlkampf einsetzen. Das movimento negro (kurz: MNU, politische Bewegung der Schwarzen) setzt ebenfalls den candomblé und die damit verbundene schwarze Kultur in Szene und
kann im Moment nicht überhört werden, wegen seiner Popularität und da es
zu einflußreich geworden ist.
So wurde 1992 das terreiro der berühmten verstorbenen candombléPriesterin Mãe Meninha de Gantois aufwendig restauriert, weiß gestrichen und
der Platz davor nach ihr benannt und mit Blumen bepflanzt. Einige andere der
großen, seit Jahren bekannten terreiros erhielten ebenfalls in den letzten
Jahren Gelder für An- und Umbauten. All diese terreiros scheinen als Gegenleistung dafür Busse voller Touristen in Empfang zu nehmen und sie bei ihren
öffentlichen Festen zu empfangen.192
Die terreiros unterscheiden sich je nach nação. Wenn man die terreiros
miteinander vergleicht, bemerkt man Unterschiede, was ebenfalls auf die Individualität der jeweiligen Leiterin, der mãe-de-santo zurückzuführen ist. Jedes terreiro, so klein es auch sein mag, hat einen besonderen Raum, den barracão,193 in welchem die Feste stattfinden. Rechts hinten stehen meist die
atabaques (Faßtrommeln), die an Festtagen mit Tüchern geschmückt werden.
Links hinten befinden sich im allgemeinen die orixás der mãe-de-santo und ihr
Stuhl bzw. Thron, von wo aus sie das Fest leitet und überblickt. Meist zur Linken sind die Bänke für die Frauen und zur Rechten die der Männer. In der Mitte ist der kreisförmige Raum, in dem die orixás tanzen.
Die Decken sind mit weißen, baumelnden Stoffetzen geschmückt, der
Boden mit Blättern von palmeiras,194 einem heiligen Baum des candomblés. An
den vier Wänden befinden sich zum Teil Abbildungen der orixás, manchmal
auch der katholischen Entsprechungen. Jedes terreiro hat ein Extrazimmer
192
Die Mitglieder der jeweiligen terreiros äußern sich dazu nicht, bzw. sagen, das sei nicht
wahr. In den anderen terreiros werden viele Geschichten, die in diese Richtung gehen, zum
Teil voller Neid, erzählt.
193
(port.) Schuppen; Raum, in dem die öffentlichen Feste und Tänze zelebriert werden.
194
Bei den caboclos (Teles dos Santos 1992:103).
83
mit dem Altar der mãe-de-santo, ein kleines Umkleidezimmer für die filhasde-santo und oftmals auch ein Zimmer, in dem die Leute aus der Trance zurückkehren. Eine Küche, in der das Essen für die orixás und die Gäste zubereitet wird, befindet sich bei großen terreiros im dann großzügig angelegten Hinterhof. Dort sind ebenfalls Zimmer für die Initianden, die je nach terreiro und
Gegebenheiten dort verschieden lange bleiben müssen.
Der Boden soll so natürlich wie möglich sein; früher war er meistens aus
gestampftem Lehm, heutzutage besteht er meistens, vor allem in den reicheren terreiros, aus rohem Zement. In den großen terreiros gibt es im Hinterhof
für viele orixás ein eigenes Zimmer, während die kleinen oftmals nur ein
Zimmer, den barracão haben. Ein Platz ist für Exú, ein anderer für die eguns
bestimmt, wieder ein anderer für die caboclos, je nach Größe des terreiros.
An bestimmten Plätzen im Hinterhof werden die Reinigungsrituale durchgeführt, an anderen die Heilungen und wieder an anderen die Opfer dargebracht. Alte, wohlhabendere terreiros haben im Innenhof große, schöne Bäume, die zu den jeweiligen orixás gehören. In den Hinterhöfen können orixáInsignien an den einzelnen Bäumen zu finden sein, Tonkrüge mit Opferspeisen,
Federn, Blut, Tiere.
Manche terreiros sind so arm, daß der winzige Hinterhof einer Müllhalde gleicht und dort alle Rituale stattfinden. Terreiros wurden und werden an
heiligen Plätzen, Plätzen der Kraft, erbaut, und die Ästethik der Umgebung ist
nicht von Bedeutung. Die Berührung mit axé, der kosmischen Kraft, ist das
Angestrebte, mit dem man durch ausüben von vorbestimmten Ritualen in Kontakt tritt.
84
2.9.8 Die candomblé-Familie
Die innere Struktur der Mitglieder eines terreiros ist hierarchisch gegliedert
und entspricht einer „geistigen“ Verwandtschaft, wie die Namen andeuten. An
oberster Stelle steht die mãe-de-santo195 bzw. der pai-de-santo,196 welche die
Position der Kultleiter einnehmen. Ihnen sind die filhas-de-santo und filhosde-santo unterstellt.197 Die mães-de-santo kontrollieren die Ritual-, Fest- und
Initiationsabläufe. Sie beherrschen das jogo-de-búzios198 und haben in langer
Initiationszeit (mindestens sieben Jahre) ein alle Bereiche des candomblés
umfassendes Wissen erlernt. Ihre mãe-de-santo wiederum bestimmt, wann sie
genug Wissen haben, um ein eigenes terreiro in ihrer Tradition zu eröffnen.
Wenn sie eine ihrer Schülerinnen nicht für fähig hält, erlaubt sie es nicht.
Die Schülerinnen, die filhas-de-santo199 müssen ihre mãe-de-santo respektieren. Untereinander sind sie wiederum hierarchisch gestaffelt, nach der
die älteste, das heißt die filha-de-santo, die am längsten im terreiro lernt,
den meisten Respekt verdient, bis hin zur jüngsten, welche die kürzeste Zeit
zum terreiro gehört.
Die mãe pequena, die kleine Mutter, ist die Stellvertreterin der mãede-santo. Sie ist die höchste in der Hierarchie nach der mãe-de-santo. Oft
nimmt sie, wenn die mãe-de-santo stirbt, deren Position ein. Sie übt die besondere Rolle der Betreuung der Initianden aus, die sich über einen längeren
Zeitraum in Initiationshütten und -räumen in Reklusion befinden.
Die feitura (Initiation), in traditionellen terreiros streng geheimgehalten, ist ein langandauernder Prozeß. Die Initianden müssen dabei zwölf bis
sechzehn Tage in einer dunkle Hütte eingeschlossen bleiben und von der Außenwelt isoliert werden, nachdem sie ihre alten Kleider, als Symbol des vorherigen Lebens abgelegt haben. In der Abgeschiedenheit müssen bestimmte
Tabus eingehalten werden. Zuerst verbringen sie zehn bis vierzehn Tage im
terreiro, um sich einzugewöhnen und Reaktionen auf bestimmte Rhythmen,
die zum jeweiligen orixá gehören und zu den Gesängen und Liedern zu üben.
Das erste darauf anschließende Ritual namens bori (dem Kopf zu essen
geben), das bedeutet rituelle Nahrung zu sich nehmen, bewirkt den Kontakt
zwischen orixá und Initianden. Die Novizen werden nun darauf vorbereitet,
ihren orixá während der Trance zu empfangen. Es werden ihnen dafür die
Haare geschoren, denn der orixá wird durch den Hinterkopf in sie eintreten,
und dies wird ihnen durch die Rasur erleichtert. Die Rasur erinnert sie an den
ungeschützten Zustand des Kopfes eines Neugeborenen, dem Status, den sie
nach der feitura innerhalb ihrer Gemeinschaft haben werden.
195
Synonym zu: ialorixá, yoruba.
Synonym zu: babalorixá , yoruba.
197
(port.) Töchter und Söhne des Heiligen; Priesteranwärterinnen und Priesteranwärter.
198
Divinationsverfahren mittels Kaurimuscheln, die von den mães-de-santo und pães-de-santo
ausgeführt werden, welche dabei mit den orixás kommunizieren.
199
Synonym: iaôs (yoruba)
196
85
Auf diesen vielleicht wichtigsten Teil der Initiation, den verschiedenen
Ritualen um den Kopf für den orixá empfänglich zu machen, folgt die Seclusion im roncó, der dunklen Abgeschiedenheit der Initiationshütte.
In dem Moment, an dem die Initianden in Trance ihren jeweiligen orixá
empfangen, erhalten sie von ihm ihre zukünftigen neuen Namen, in Yoruba.
Dieser Tag ist daraufhin der Namenstag ihrer orixás, den sie ab jetzt jedes
Jahr feiern werden. Nach dem, mit der Namensgebung einhergehenden großen
Fest, das mit der candomblé- Familie gefeiert wird, kehren sie ins alltägliche
Leben mit den gewohnten Pflichten in ihrem terreiro zurück. Nach weiteren
vier bis sechs Wochen, können sie das terreiro verlassen und ihr neues Leben
mit ihrem nun neuen Status, der innerhalb der candomblé–Gemeinschaft von
Bedeutung ist, draußen beginnen bzw. dorthin als neue Menschen zurückkehren.
Sie werden nun bis zum Ende ihres Lebens ihrem orixá bestimmte obrigações (Ausdruck für rituelle Verpflichtungen im candomblé) schulden, die sie
einzulösen haben. Dabei handelt es sich um verschiedene Opfer und Feste, die
in bestimmten Abständen zu verrichten und abzuhalten sind. Das erste Jahresfest, das dritte und das siebente sind hierbei besonders wichtig. Danach erhalten sie den Zugang zum geheimen Wissen ihres candomblé-terreiros. Ab dieser
Zeit dürfen sie bei der Initiation anderer filhas-de-santo anwesend sein und
sollen all die verschiedenen rituell festgelegten Vorgänge ihres terreiros beherrschen.
Ab dem siebten Jahrestag ihrer neuen Namen und ihrer feitura müssen
die filha-de-santo jährlich ihrem orixá ein Tier opfern, um den Kontakt zu
ihm zu erneuern. Bei ihren gesamten Werdegängen während der feitura und
danach spielt das jogo-de-búzios eine herausragende Rolle, da es als Leitfaden
für ihr ganzes Leben, ihrer Beziehung zu ihrem orixá und ihren zukünftigen
speziellen Tabus, die sie ihr ganzes Leben lang einhalten sollen, gilt. Dazu
zählen bestimmte Speisen, Orte, Kleidungsstücke, Schmuck und andere Gegenstände, die sie meiden werden müssen.200
Dieser rite-de-passage, der nun den persönlichen Tod und die Wiedergeburt als Kind eines orixás einschließt, entspricht bei den traditionellen nagô-terreiros gänzlich den afrikanischen Initiationsriten nach der Beobachtung
von Verger in den 50er Jahren bei den Yorubas.201 Ab dieser Zeit dürfen die
künftigen filhas und filhos-de-santo festgelegte obrigações gegenüber ihren
orixás nicht vernachlässigen, die ab jetzt für sie bestimmend sein werden.
Wenn sie ihren nun geltenden obrigações nicht nachkommen, können Unglücksfälle ihren Lebensweg zeichnen.
Sie vervollständigen während der feitura ihre Pflicht, für ihren orixá
ein „gutes Pferd“ zu werden. Der Ausdruck, “die orixás reiten ihre Pferde”,
200
201
Vgl.: Lühning (1990:67-77).
Nach Verger (1981).
86
ist die gängige Bezeichnung dafür, wenn die orixás von den filhas und filhosde-santo Besitz ergriffen haben.202
Die Initiationsriten haben sich im Laufe der Zeit, bedingt durch sozioökonomische Faktoren, verändert. Früher, so wird berichtet, sollen die Initiationszeiten länger gewesen sein, was heute oftmals nicht mehr durchzuführen
ist. Wenn eine filha bzw. ein filho-de-santo fest bei einem Arbeitgeber angestellt ist, kann sie unmöglich drei Monate fehlen, was ungefähr dem Zeitraum
der ehemaligen traditionellen Initiation entsprechen soll.203
Zur família-de-santo, der Familie des Heiligen, wie die candombléGemeinschaft genannt wird, gehören ebenfalls die ogãs, die ich an anderer
Stelle beschrieben habe. Der Trommler an der rum, der größten der drei verwendeten atabaques, (der Trommel, die den Rhythmus angibt) wird als ogãde-atabaque bezeichnet und ist tonangebend für den rhythmischen Teil des
Festes. Er erfüllt ehrenamtlich hier eine wichtige Funktion und beeinflußt die
Geschwindigkeit der Tänze. Mit den Rhythmen der Trommeln werden die orixás (caboclos) gerufen, und sie begleiten die cantigas (Gesänge), mit denen
orixás (caboclos) gerufen und geehrt werden. Dabei sind jedem orixá (caboclo) ein eigener Rhythmus und eigene Gesänge zugeordnet.
Andere vielfältige Aufgaben erfüllen die ekedes, Frauen, die bei den öffentlichen Festen, den xirês (Festen), mithelfen und viele der anfallenden
Tätigkeiten wie z.B. das Umziehen und Aufpassen auf die filhas-de-santo während der Tänze erledigen
Die Mitglieder der família-de-santo204 sind freiwillige Verwandtschaftsbeziehungen eingegangen, die denen einer Familie entsprechen und das Inzesttabu mit einbeziehen. Sie selbst wiederum sind die Kinder der orixás. Die
mães-de-santo sehen es, wie innerhalb einer Familie von Blutsverwandten, als
ihre Pflicht an, ihren filhas-de-santo und deren Kindern zu helfen, wenn dies
nötig und möglich ist. Dies schließt finanzielle Hilfe in Notlagen mit ein.
Durch die Konzeptualisierung als Verwandtschaft ersetzt die família-desanto den Mitgliedern die fehlende eigene Familie, die sonst Geborgenheit
vermittelt. Bedingt durch die sozialen Mißstände seit der Verschleppung aus
Afrika sind glückliche Verwandtschaftsbeziehungen immer noch rar und die
damit verknüpften Bedürfnisse der Menschen unerfüllt. Im terreiro ist die Mutter im Idealfall fürsorglich und tröstend für die Nöte ihrer Schützlinge präsent.
Viele sind stolz, nun endlich einer Familie anzugehören.
Die família-de-santo ist gekennzeichnet durch ganz spezielle Kleidung,
bei der die Farbe weiß dominiert. Die Frauen tragen, wenn sie es sich leisten
können, aufwendig angefertigte weiße Spitzenblusen und lange weiße Spitzen202
Vgl. Hohenstein (1991:446-537) Verger 1981, u.a., die der Initiation mehr Raum widmen.
Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, daß es während der Sklaverei möglich gewesen sein
soll, sich drei Monate in Reklusion zu befinden, und nach der Zeit der Sklaverei erscheint es
ebenfalls nur im Fall von Arbeitslosigkeit als durchfürbar.
204
(port.) Familie des Heiligen; eine candomblé-Gemeinschaft.
203
87
röcke, die in Stufen übereinander getragen werden. Darunter befinden sich
Reife, mit Hilfe derer die Röcke abstehen, ähnlich den europäischen RokokoRöcken. Die Kopfbedeckungen, ebenfalls meist weiße Spitzentücher, werden
im afrikanischen Stil von den Frauen um den Kopf gewickelt. Während der
Feste werden meist keine Schuhe getragen, der Erdkontakt, der hergestellt
werden soll, wird in den meisten terreiros betont.
Schmuck spielt ebenso eine große Rolle, sowohl bei weiblichen als auch
bei männlichen candomblé-Mitgliedern. Es werden Glasperlenketten getragen,
die den Farben der orixás entsprechen, wobei die Anzahl und Farbe abhängig
ist vom jeweiligen Fest und der Person, die sie trägt. Kaurimuschelschmuck,
wie er zu Ehren Yemanjás getragen wird, spielt eine besondere Rolle; er ist
außer in Halsketten traditionell in fast allen Ohrringen und Ringen der candomblé-Frauen enthalten. Bei alten Frauen sieht man mehr Schmuck als bei
den jüngeren. Ob das als Zeichen der Verarmung der Kultur zu deuten ist, oder ob man sich im Laufe der Jahre im candomblé mehr Schmuck aneignet,
entsprechend den Kenntnissen zu den einzelnen orixás, die man erlernt, ist
ungewiß.
Die Männer der candomblé-terreiros sind bei den Festen in weiße Hosen
und Hemden ohne Kragen in afrikanischem Stil gekleidet und benutzen Halsketten, die den Farben entsprechen, welche den einzelnen orixás zugeordnet
werden.
2.9.9 Die orixás manifestieren sich: candomblé-Feste
„Was habt ihr Europäer nur mit eurer Trance? Ihr seid wohl neidisch, daß ihr
so was nicht habt! Es scheint euch zu fehlen, ne? Was das ist? Etwas ganz natürliches, wer will, der macht das einfach. Alle brauchen das nicht. Aber wer
will, kann es haben, und wer es braucht, dem tut es gut. Und ihr Europäer
könnt nicht. Das scheint euch zu ärgern und deshalb versucht ihr es wissenschaftlich zu erklären oder steht herum und glotzt....Euch scheint in eurem
Lebensgefühl was zu fehlen, was wir mit der Trance haben, wenn wir wollen....“205
(L. M. L. S. 1995)
„Wenn man aus sich herausgeht, (wie wir in der Trance) macht man den Leuten (den Außenstehenden) Angst.“
(J.J. 1993)
In der Woche oder dem Tag vor dem Fest werden von den filhas-desanto die Kleider gewaschen und gestärkt, denn die orixás wollen sie sehr
sauber haben. Einkäufe werden getätigt, je nach dem zu Ehren welches orixás
das Fest stattfindet, werden verschiedene Speisen gekauft. Das gleiche gilt für
205
Ich werde nicht auf die Tausende von Seiten füllende Diskussion über Trance, die von vielen
wissenschaftlichen Zweigen, einschließlich Psychiatrie, geführt werden, eingehen. Ich habe
Touristen und Wissenschaftler, da sie ebenfalls Außenstehende sind, die aus irgendeinem
Grund fasziniert die Phänomene beobachten, gefragt, was sie daran so faszinierend finden und
werde dies an anderer Stelle, beim Zusammentreffen von Gastgebern und Gästen, erörtern.
Den Begriff Trance habe ich in der Einleitung im Zusammenhang mit der Ekstase geklärt. Der
Sinn der Feste ist primär, die orixás und caboclos zum Kommen einzuladen, und sie erscheinen nur in der Trance, deshalb ist sie existentiell notwendig.
88
die matanças (port.), die Opfer, die, je nach nação im Morgengrauen des Festtages den orixás oder am späten Nachmittag den caboclos im Hinterhof dargeboten werden.206 Dies geschieht in der privaten Atmosphäre der Gemeinschaft
des terreiros, Außenstehenden und Gästen bleibt das abendliche Fest vorbehalten. Strenge rituelle Regeln werden hierbei eingehalten, welche die Reihenfolge, welche Wesenheit, welche Speise bekommt betreffen. Sie essen
manche Speisen roh, andere Lebensmittel wiederum gekocht.207
Die matanças gehen mit Gesängen einher, die ebenfalls sich nach der
jeweiligen nação richten und bei den caboclos in portugiesischer Sprache mit
einigen Bantu-Ausdrücken verknüpft sind. Das padê, 208das nachmittags stattfindet, stellt ein streng ritualisiertes Opfer für Exú dar, den man bittet, den
Festablauf nicht zu stören. Generell ißt Exú als erster vor allen anderen orixás
(caboclos).209 Es wird bei den Opferungen grundsätzlich berücksichtigt, daß in
den verschiedenen Körperteilen der Opfertiere unterschiedlich viel axé
enthalten ist. Leber, Herz, Blut, Hirn und Beine mit besonders viel axé sind
für orixás und caboclos bestimmt. Die anderen Fleischstücke werden für die
Festteilnehmer für den Abend gekocht. Je nach finanzieller Lage des terreiros
wird reichhaltig gekocht und werden die Räumlichkeiten hergerichtet.210
Die orixás erscheinen zu den sorgfältig vorbereiteten Festen, wenn sie
von der Gemeinschaft gerufen werden. Mit Trommelrhythmen und speziellen
Liedern, die ihnen gewidmet sind, werden sie angelockt, gerufen und manifestieren sich in den mães-de-santo und pães-de-santo sowie in den filhas und
filhos-de-santo, die in der meist siebenjährigen Ausbildung mit abschließender
Initiation Rituale, Trance, Heilungen, Orakelhandhabung u.v.a. rituelle Handlungen erlernen.
Die Ästhetik der candomblé-Besessenheitsfeste ist berühmt. Viele Besucher, die nicht zur Gemeinschaft gehören, kommen, um dem öffentlichen Kult
beizuwohnen, um sich hier mit Freunden und Nachbarn auszutauschen und die
Tänze zu bewundern. In manchen terreiros in Salvador ist candomblé
neuerdings auch für Touristen offen, durch deren Spenden die oft armen Kultführer zu etwas Geld kommen.
Das rituelle Geschehen ist komplex, die orixás erhalten Ehrungen, Speisen, Opfergaben und haben ihre speziellen Festtage, an denen sie vielerlei
obrigações erhalten. Unerläßlich sind dabei immer Trommelrhythmen, die den
verschiedenen orixás zugehörigen Gesänge und die orixá-Tänze. Die spezielle
206
Zur Beschreibung der Opfer sowie der dazu gebildeten Theorien siehe Teles dos Santos
(1992:99-102) und Lühning (199o)
207
Mit den Worten Leví-Strauss (1964) haben hierbei je nach nação und Fest sowohl die Natur
als auch die Kultur ihren bestimmten Platz. Vgl. Teles dos Santos (1992:100-102).
208
(yorub.) Synonym: encontro (port.) Treffen
209
Eine ausführliche Ritualbeschreibung der matança und des padê findet sich bei Lühning
(1990:44-46).
210
Auf das komplexe Gebiet des Essens und der Speisen möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen.
89
Kultkleidung variiert, je nachdem, wie reich oder arm ein terreiro und dessen
Mitgliederschaft sind. Die Farbe Weiß wird eindeutig bevorzugt, sie symbolisiert Reinheit und fördert das Erscheinen der orixás. Mit anderen Farben wie
z.B. Schwarz und Rot werden Kräfte assoziiert, die während der Rituale nicht
erwünscht sind. Reichere terreiros besitzen für jeden orixá ein spezielles Gewand aus Brokat und Spitzen, das farblich mit den Farben der orixás übereinstimmt. In ärmeren Kulthäusern wird weiße einfache Kleidung getragen, oder
es werden weiße Tücher um die Hüften geschlungen.
Die Attribute, die den orixás zugeordnet sind, werden im Ritual getragen und sind in den Räumen abgebildet oder ausgestellt. Der Altar einer jeden
mãe-de-santo und jedes pai-de-santo befindet sich in einem der Nebenräume
des terreiros, Opfergefäße und andere Ritualgegenstände werden im Hinterhof aufbewahrt. Die Altäre sind individuell gestaltet und reichhaltig mit katholischen Heiligenfiguren und den orixás zugeordneten Kultgegenständen
ausgestattet.211
Oftmals werden die orixás auch von Laien, Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft oder Besuchern empfangen. Dies wird meist als Zeichen gedeutet, daß sie dazu berufen sind, ebenfalls candomblé-Priester bzw. Priesterinnen zu werden. Wenn jedoch Touristen in Trance fallen, ist man der
Ansicht, daß es sich eher um ein Versehen handelt, und man legt ihnen nicht
nahe, filha-de-santo zu werden, da es praktisch nicht für möglich gehalten
wird.
Als erstes, egal, bei welcher nação, wird Exú gerufen. Nicht ein orixá
macht eine Aktion, geschweige denn nur eine Bewegung, ohne „seinen“ Exú.
Nur Exú ist in der Lage, Opfer zu akzeptieren und dahin zu transportieren, wo
ihr Bestimmungsort ist, bzw. den Ort auszuwählen, für den sie bestimmt sind.
Er harmonisiert die Verbindung zwischen den Menschen und den übernatürlichen Wesen, nur er schafft das Gleichgewicht.212
Die zahlreichen Lieder und Gesänge, die seine und alle anderen Anrufungen und Ehrungen begleiten, sind in der Sprache der jeweiligen nação. Es
wird jetzt von den mães-de-santo die Räume und Gegenstände mit Kräuterinkredenzien auf einem Teller geräuchert, dabei wird bei den atabaques begonnen. Gesänge begleiten die Aktion der Reinigung. Die filhas-de-santo, die
danach in den Raum treten, berühren den Boden in allen vier Himmelsrichtungen mit ihrer Stirn, wobei sie beim Ausgang beginnen. Sie begeben sich danach in den Kreis und tanzen gegen den Uhrzeigersinn, die „Älteste“ bildet
dabei den Anfang und die „Jüngste“ den Schluß.
211
Je nachdem, wie reich ein terreiro ist und wie viele Mitglieder dieser candomblé hat, kann es
ein ganzes Areal von kleinen Häusern und einem oder mehreren Hinterhöfen umfassen. Die
filhas und filhos-de-santo wohnen teilweise hier, und die Initiationshütte ist hier angesiedelt.
Die Küche für die reichhaltige Speisenzubereitung für die orixás gehört ebenfalls zu diesem
Areal (Siehe de Hohenstein 1991:201-227).
212
Je nach nação wird das padê für Exú nicht in der Öffentlichkeit abgehalten. Vgl. hierzu Elbein dos Santos (1975:183).
90
Nun kann für die orixás bzw. caboclos gesungen werden. Die Reihenfolge, in der sie gerufen werden, variiert wiederum je nach terreiro und Festgelegenheit. Das gleiche gilt für die Gesänge.
Als nächstes folgt die invocação, die Anrufung, welches die Aufforderung beinhaltet, daß die orixás (caboclos) nun erscheinen mögen. Die mãe-desanto schüttelt ein caxixí213 im Rhythmus der atabaques, und sie und ihre filhas-de-santo singen, wobei die filhas in Übereinstimmung mit dem Rhythmus
in die Hände klatschen. Mit dem schneller werdenden Rhythmus wird den Wesenheiten gehuldigt. Bei bestimmten Liedern beginnen die filhas-de-santo und
je nach terreiro die mãe-de-santo zuerst langsam im Kreis zu tanzen.214
„Ich fühle, wie Yansã sich meiner bemächtigt... Das Kontrolle zu verlieren ist
der Übergang vom Menschsein zur göttlichen Besessenheit, zum Tanz für die
Gottheiten. Es kommt von unseren Ahnen, den Schwarzen, den Sklaven. Wir
müssen es einfach geschehen lassen. Schließlich kommt es aus unserem Inneren, aus den Ursprüngen. Wir haben es von unseren Vätern auf die Söhne und
Töchter vererbt, und so wird es weiterhin sein. ...
Unsere Gottheiten wollen tanzen und zeigen uns damit, wie sie in der Natur
existieren. Sie existieren nicht in statischer Ruhe. Sie sind Kräfte des Universums, und sie sind Kräfte von Bewegung. Der Ozean ist ständig in Bewegung,
Blitz und Donner sind Bewegung. Deshalb ist Tanz ein wichtiges Medium,
indem sich Religion ausdrückt und die Bewegungen des Universums versinnbildlicht.“
(A. d. P. S. L., der irmandade Boa Morte, 1993)
Das Hauptcharakteristikum des candomblé, aber auch aller anderen
afro-brasilianischen Kulte ist die Trance, in welche die von den orixás Besessenen fallen. Über den Hinterkopf sollen die orixás in die Körper der Personen
eindringen, die sich für sie geöffnet haben, und von dort aus vom ganzen Körper der Person Besitz ergreifen. Die Besessenheitszustände äußern sich unterschiedlich.
Die darin ausgebildeten mães-de-santo und filhas-de-santo tanzen die
orixá-Tänze, Kreistänze mit dem jedem orixá eigenen, für ihn typischen Tanz,
wie bei den einzelnen orixás beschrieben.215 Begonnen wird mit kleinen samba-Schritten im Kreis, begleitet von den drei Trommeln, Klatschen und Gesängen. Die Tänze sind reich an individuellen Ausprägungen, orixás können
schnell, stürmisch und heftig tanzen oder in kleinen Schwingungen die ihnen
eigenen Tanzabläufe ausführen.
Alle orixás (und caboclos216) kündigen sich mit einer Kreisbewegung an,
danach mit heftigem Schulterzucken, wobei die filhas-de-santo die Arme auf
dem Rücken verschränkt haben, und spezifischen schrillen Schreien. Das ist
213
Korbrassel
Vgl. Teles dos Santos (1992: 100-112) sowie Lühning (1990:50).
215
Auf die Vielzahl der caboclos will ich nicht eingehen. Es gibt sehr viele, Teles dos Santos
(1992) listet ca. 80 bis 100 auf, die sich beim Tanz dementsprechend unterschiedlich verhalten.
216
Bei den caboclo-Festen wird oftmals ein spezielles Getränk (jurema, mit Kräutern und Tierblut als axé-reiche Inhaltsstoffe) getrunken, bevor die caboclos kommen.
214
91
der Moment in dem sie ihre Pferde besteigen. Die Schreie und die dabei gewählten Wörter identifizieren ihre Persönlichkeit, bevor der Tanz beginnt.
Die filhas werden daraufhin bei den meisten terreiros aus dem Raum
geführt, um umgekleidet zu werden. Sie werden nun mit den Festkleidern der
den orixás (caboclos) entsprechenden Farben gekleidet und erhalten deren
Insignien in die Hände, die sie beim Tanz einsetzen werden. Dann werden sie
wieder in den barracão geführt und dort freudig begrüßt. Der orixá (caboclo),
dem das Fest gewidmet ist, erscheint meistens als letzter. Jeder orixá (caboclo) tanzt zu seinem Trommelrhythmus.217 Die mãe-de-santo bestimmt hierbei
Zeitpunkt und Dauer. Tomar rum dient der Kommunikation zwischen den beiden Welten sowie der Verbindung des axé darin.218
Wenn die Trance sich auf die unausgebildeten Zuschauer überträgt,
zeigt sie sich unkontrolliert, mit Schütteln der Körper, Zuckungen, Schreien
und Stöhnen, Sich-auf-den-Boden-Werfen und Hin- und Herrollen. Personen,
die beobachtende und kontrollierende Funktionen haben (Mães und Pães pequenas - kleine Mütter und Väter u.a.), wachen über die Ritualabläufe und
tragen oder führen die sich in unkontrollierter Trance befindenden Kultmitglieder aus den Räumlichkeiten, um sie aus ihrem Zustand zu wecken.
Heftige Trance von Nichtinitiierten habe ich in terreiros, die von Touristen (omnibusweise) frequentiert werden, nie beobachtet. Sie scheinen hier
keinesfalls erwünscht zu sein. Bei einem anderen terreiro wirkte die Umarmung des pães, der von Ogum geritten wurde, tranceauslösend bei über der
Hälfte der Gäste. Ogum ist heftig, wie beschrieben, und viele der sich in
Trance auf dem Boden wälzenden Personen mußten von mehreren Helfern
hinausgetragen werden.
In den dafür bestimmten Kämmerchen blasen die mãe pequenas ihnen
in das linke Ohr, wodurch die orixás verscheucht werden sollen. Sollte dies
nach mehreren Versuchen nicht funktionieren, betrachtet man es als Anzeichen, daß die betreffende Person initiiert werden sollte, weil ein orixá nach
ihr ruft und die jeweilige Person als Tochter oder Sohn haben möchte.219
217
Dies wird als o santo toma rum (port.) der Heilige nimmt rum, beschrieben.
Der Trommler der atabaque rum nimmt ebenfalls Einfluß darauf. Einmal habe ich Streitigkeiten zwischen der mãe und dem rum-Trommler erlebt, der das rum verlängern wollte. Ein
reibungsloser, perfekter Ritualablauf, wie so oft, bzw. ausschließlich beschrieben, ist ein „Idealfall“, den die Forscher oft so gerne hätten, wahrscheinlich, da dies einer europäischen Norm
entspricht. In keinem der hier aufgeführten Beschreibungen, außer den eineinhalb Stunden
andauernden „Tourismuspektakeln“ habe ich dies erlebt. Lange Zeit konnte ich die in der Literatur auftauchenden Beschreibungen mit meinen eigenen nicht in Verbindung setzen. Ich
zweifelte meist an der „Echtheit“ meiner terreiros und der von mir erlebten Feste. Vielmehr
hielt ich deshalb den genormten Ablauf der in der Literatur beschriebenen Feste für das „pure,
reine, wirkliche“ candomblé. Heute habe ich mehr den je den Eindruck, daß die Forscher es
nicht für legitim halten, das Leben und die Menschen, die wirkliche lebendige Realität, zu beschreiben, sondern konstante Regeln, entsprechend mathematischen Formeln, zumindest im
Bereich der afro-baianischen Kultur und Religion, erstellen wollen.
219
Ausführliche Initiationsbeschreibungen mit allen zugehörigen Inhalten und Interpretationen
dieses typischen "Rites de Passage" befindet sich bei de Hohenstein 1991:446-540.
218
92
Die besessenen Personen erinnern sich nach den Tänzen und allen verschiedenen Formen der Trance nicht an das Geschehene. Candomblé-Trance
geschieht ohne das Bewußtsein der Besessenen. Die orixás haben sich im Tanz
offenbart und oftmals ebenfalls verbal geäußert. Ihre Reden sind zum Teil für
nicht Eingeweihte unverständlich, und sie werden dann von ausgebildeten und
initiierten Personen der Gemeinschaft der angesprochenen Person übersetzt.
Manchmal artikulieren sich die orixás verständlich und erteilen einzelnen
Kultbesuchern Ratschläge zu ihren Problemen, prophezeien ihnen die Zukunft
und fordern von ihnen bestimmte Opferhandlungen.
Mir selbst hat einmal während eines Festes für Yansã (Zeitdauer: ca. 8
Stunden), eine mãe, die von Yansã besessen wurde, ein jogo-de-búzios gelegt.
Ihre unverständliche Sprache (sie röchelte, schnaubte, rauchte Zigarren falsch
herum, spuckte, stöhnte und verdrehte die Augen dabei), wurde von einem
pai pequeno übersetzt. Ich wurde hierbei von Yansã zur Kasse gebeten, sie
forderte ein Geldopfer auf ihren Altar.
In den terreiros, die von Touristen der großen Tourismusorganisationen
frequentiert werden, finden solche und andere Unterbrechungen nicht statt.
Es scheint versucht zu werden, ca. eineinhalb Stunden, ähnlich wie die Zeitdauer eines Kino- und Theaterbesuches, ein für die Allgemeinheit interessantes, repräsentatives, ästhetisches Schauspiel abzuhalten. Diese Zeitdauer
scheint sich bewährt zu haben, das allgemeine Interesse aufrecht zu erhalten.
Dabei werden an alle Speisen und manchmal Getränke verteilt, so ist Abwechslung geboten.
Caboclo-Tänze unterscheiden sich von orixá-Tänzen in der Art, daß caboclos Personen aus dem Zuschauerkreis integrieren, sie nehmen sie eine Weile zum samba-de-roda Tanzen zu sich und entlassen sie danach wieder. Der
caboclo variiert eigenständig zwischen seinem traditionellen Tanz mit dem
dazugehörigen Rhythmus und dem samba-de-roda. Die Trance ist unterschiedlich und wird manchmal von den mães-de-santo, indem sie den Begrüßungsspruch für den caboclo in das Ohr der betreffenden Person flüstern, provoziert, wenn er sich zögerlich oder gar nicht einstellt. Im Unterschied zum orixá singt und trinkt der caboclo.220
Außer der großen Trance, den Trance-Tänzen, ist die Form des ere221
bekannt, bei der nur leises Schütteln durch die Körper der Besessenen vibriert
und die oft ein Zwischenzustand ist, bevor die große Trance einsetzt, und in
der die Personen noch leicht zurückgerufen werden können.
Das Ende eines Festes ist erreicht, wenn alle gewünschten orixás (caboclos) erschienen sind, die Kommunikation mit all ihren verschiedenen Elementen, Gesängen und Tänzen stattgefunden hat. Dies variiert je nach Anlaß
des Festes, und jedes terreiro pflegt dabei seine Individualität, die auf die
jeweilige mãe-de-santo und die Gemeinschaft zurückzuführen ist. Die Besu220
221
Vgl. Teles dos Santos (1992:118-126).
(yoruba) infantile Manifestation der orixás (caboclos), auch leichte, kindhafte Trance.
93
cher der terreiros erhalten manchmal während der Tänze, manchmal nach
den Tänzen Speisen und manchmal auch Getränke. Variationen sind auch von
der finanziellen Lage des terreiros abhängig.
„Die Feste sind so teuer. Stell Dir vor, für das letzte neulich für Exú mußte ich
4.000 Reais bezahlen! Mit all dem Sekt und Whisky!....Für ein jogo-de-búzios
nehme ich 20 Reais, für eine Arbeit mit Hühnchen 100. Alles ist so teuer, aber
ich muß ja Geld verlangen, Du siehst ja die Ausgaben....
Früher war candomblé für die Armen, jetzt ist es für die Reichen. Für manche
arbeite ich umsonst. Ja was soll ich denn sonst machen, wenn sie kein Geld
haben....“
(D. R. in Matatu de Brotas, 1995)
2.9.10 Andere Aufgaben der candomblé-Priesterinnen
„Manche sind echt schlimm dran. Neulich hat die Tochter meiner Nachbarin
fast einen Monat nichts gegessen, hat nur gekotzt, die wäre der Mutter noch
verhungert. Ich hab sie eine Nacht zu mir genommen und das mit einer Arbeit
gelöst. Es war ein Exú-Sklave, der sie verhext hat - böser Blick (Neid). Morgens war sie gesund. Die Mutter hatte leider kein Geld, um es mir zu bezahlen.
“
(D.R., 1995)
Ein großer Bereich der Aufgaben einer mãe-de-santo besteht aus heilenden Tätigkeiten. Die Kenntnis, Diagnose und Heilung von Krankheiten und
Linderung bei Beschwerden aller Art sind Bestandteile dieser Arbeiten. Das
Heilwesen des candomblé umfaßt viele Bereiche, z. B. Kräuterheilkunde, Reinigungen und Opferungen.
Mães und pães-de-santo können auch außerhalb der orixá-Feste in
Trance fallen, beim Erstellen eines Orakels oder bei Heilungszeremonien,
wenn die Kräfte der orixás erforderlich sind, die ihre eigenen übertreffen.
Dies kann geschehen, wenn böse Geister am Werk sind, die einer Person
Krankheit, Leiden und Probleme gebracht haben, oder wenn Feinde und Neider der jeweiligen Person böse Geister beschworen haben, um Leiden zu verursachen, oder wenn mehrere orixás um die Person kämpfen, bzw. darauf
aufmerksam machen wollen, daß sie mehr Achtung und Opfer erwarten. All
die negativen Kräfte werden in den Heilungsritualen neutralisiert.
Nach dem jogo-de-búzios, dem Kaurimuschelorakel, bestimmen die
mães-de-santo die nötigen Heilungs- und Reinigungsrituale, bei denen viele
verschiedene Kräuter und Essenzen eine Rolle spielen. Während des jogo-debúzios ermitteln sie mit Hilfe der orixás die Ursprünge der Probleme, welche
negativen Kräfte und Wesenheiten zu Gange sind, und die orixás geben Anweisungen, wie dem abzuhelfen ist.
Jogo-de-búzios wird von candomblé-Mitgliedern zu allen Schritten, die
Veränderung in ihrem Leben bedeuten, zu Rate gezogen, zu Heiraten, Geburten, Reisen, Veränderungen auf dem Gebiet der Arbeit und Wohnung und um
den zugehörigen orixá der jeweiligen Person zu ermitteln.
Der Wille des orixás wird für andere ermittelt. Wie schon erwähnt, lassen sich auch Außenstehende, Weiße aus höheren Gesellschaftsschichten das
94
jogo-de-búzios legen. Die mãe-de-santo, die das Orakel legt, sagt den Fragenden, was gut ist, was sie tun sollen und ebenfalls, was sie meiden sollen, was
die orixás nicht mögen. Dies entspricht den Regeln des candomblés, nach denen es z.B. besonders gefährliche Orte gibt, an denen böse Mächte leicht Kontakt zu der jeweiligen Person aufnehmen können. Außerdem existieren
schwächende Energien, z.B. bestimmte Farben, Speisen und Gegenstände für
bestimmte Personen.
Reinigungs- und Heilungsritualen wird in allen terreiros viel Bedeutung
beigemessen, sie sind selbstverständlicher Bestandteil der Welt des candomblés, die viel mehr als nur geistige Glaubenssätze und damit zusammenhängende Vorschriften umfaßt.
2.9.11 Stellung der Frau im candomblé
Die candomblé-Priesterinnen sind Vermittlerinnen innerhalb und außerhalb
der candomblé-Gemeinschaft. Sie haben Funktionen, die ähnlich denen einer
Mutter beschrieben werden. Sie organisieren ihre Gemeinschaft nach bewährten hierarchischen Strukturen, sorgen für Harmonie und versuchen, gruppeninterne Konflikte zu lösen. Ihre Fähigkeiten der Hilfe und Heilung bei Krankheiten und Problemen sind hoch angesehen und werden oftmals auch von weißen
Personen in Anspruch genommen.
Auffallend bei den candomblé-Kulten ist, daß Frauen, sei es als passive
Mitglieder oder als aktiv am Kult Beteiligte, zahlenmäßig den Männern gegenüber weit überwiegen, daß zudem die meisten dominanten Positionen und die
meiste Macht innerhalb des Kultes in ihren Händen liegt.222
Gegenüber den wenigen pães spielen sie keine untergeordnete Rolle.
M.E. haben sie im Lauf der Zeit ein natürliches Selbstbewußtsein entwickelt,
das ihrer Position innerhalb der Gesellschaft, in der sie sich befinden, entspricht. Sie wird geschätzt innerhalb ihrer Gemeinschaft, in ihrer Funktion als
Priesterin geachtet, die verantwortungsvoll ihren „Kindern“ gegenüber und als
Vermittlerin bei menschlichen Streitigkeiten auftritt.
Manche von ihnen treten heute selbstbewußt in wissenschaftlichen Diskussionen auf und vertreten ihre persönlichen Interessen sowie Interessen des
candomblés in der Öffentlichkeit. Sie sind selbstbewußt und aktiv innerhalb
ihrer „marginalen“ Gesellschaft.
De Hohenstein (1991:227-445) vergleicht die Rolle der schwarzen Frau
in der Gesellschaft, der Familie und im Kult mit der des schwarzen Mannes,
ebenso mit den Rollenbildern der weißen Frau sowie jenen des weißen Mannes. Die Familien der Schwarzen sind matrifokal-zentripetal organisiert, d.h.
die Mutter ist das Zentrum der Familie. Sie setzt darin die Normen fest, dik-
222
Vgl. Lima 1977. Er untersuchte in São Paulo 136 Kultstätten, von denen 102 von Frauen
geführt wurden und 34 von Männern, von denen die meisten Homosexuelle seien und sich nur
deshalb ausgezeichnet als Medien eignen würden. Weiter hat er dieses Phänomen nicht ergründet.
95
tiert das dortige Verhalten, hütet die Moral, zieht die Kinder auf, kocht, putzt
und wäscht und versucht dabei oftmals noch, die Familie durch minderqualifizierte Tätigkeiten außer Haus zu ernähren. Ihr Territorium aber ist das
Haus.223
Die Mutter soll die zentrale Figur darstellen, um die sich die Familienmitglieder gruppieren. Die Familie hat einen viel engeren Kontakt zu der Familie mütterlicherseits als zu der des Vaters. Die Kinder sehen die Mutter als
die starke Persönlichkeit in der Familie. Ihre Macht soll nicht auf den mütterlichen Funktionen beruhen, sondern sie soll die unumstrittene Autorität darstellen. Der Mann dagegen treibt sich auf der Straße herum, versucht sich dort
irgendwie durchzuschlagen, Jobs zu ergattern und lebt das gefährliche Leben
auf den Straßen der favelas mit den Gefahren der Kriminalität, Drogen und
des Alkohols und moralischen Verfalls.
Die Männer sind oft tage- und wochenlang verschwunden, und es
scheint kein Verlaß auf sie zu sein, weder in emotionaler noch in ökonomischer Hinsicht. Ihre Schwäche sollen die Männer hinter dem zur Schau getragenen machismo verbergen. Die Frauen stellen dem den marianismo gegenüber, sie wollen bzw. sollen die reine, heilige Jungfrau Maria darstellen. Sie
geben dies in der Erziehung weiter, und das Rollenverhalten der Kinder prägt
sich nach diesem Vorbild.224
Diese von vielen Forschern formulierte Einstellung entspricht nicht der
tatsächlichen Situation der Frau in Bahia. Wie ich versucht habe darzustellen,
sind die orixás keineswegs katholisch und mit den an die Jungfrau Maria gebundenen Moralvorstellungen vergleichbar.
Kein Mensch, zudem kein candomblé-Anhänger (bei den protestantischen Sektenmitgliedern verhält es sich natürlich anders, wie später klar werden wird), erwartet wirklich von einer Frau, daß sie wie die Jungfrau Maria
sein soll. Abweichende Verhaltensweisen werden von der Gesellschaft toleriert und sind auch durch die mangelnden gesellschaftlichen Möglichkeiten
einer marginalisierten Frau an der Tagesordnung. Konservative und moderne
Erwartungen und Erziehungenstile (z.B. Stadt/Land) existieren parallel.
Der Freiraum, jedoch nicht die gesellschaftlichen, beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten einer Frau sind m.E. größer, als von den zitierten Forschern beschrieben, wobei ich mich hauptsächlich, aber nicht ausschließlich,
auf die Hauptstadt von Bahia beziehe.
223
Die Matrifokalität soll das Ergebnis sozialer und historischer Umstände sein, und das "patriarchalische Familienmodell der Weißen" habe aufgrund des Sklavensystems nicht entstehen
können. In der Zeit der Sklaverei, vor allem in ihrer frühen Phase, war es den Sklaven verboten zu heiraten, und oftmals wurden selbst Mütter und Kinder getrennt, bestenfalls durften sie
Kontakt zueinander haben. Die heutige Arbeitslosigkeit, existentielle Unsicherheiten und
Marginalität dieser Bevölkerungsgruppe sowie "Vielweiberei" des schwarzen Mannes sollen
dazu beitragen, daß sich patrifokale, nukleare Familien nicht bilden können. Je höher eine
schwarze Familie sozial und ökonomisch aufsteigt, desto mehr soll sie jedoch die Organisationsstruktur und Ideologie der Weißen übernehmen (Thales de Azevedo 1966).
224
Vgl. de Hohenstein 1991:228-437 und Nadig 1968 und 1989.
96
Die candomblé-Göttinnen sind keine Jungfrau Maria, warum sollten es
die wirklichen Frauen sein? Legitimieren nach diesen Forschern (hier richtiger
Forscherinnen) nur die männlichen orixás das Verhalten der Männer? Wie vereinbart sich dies mit der starken Position der Frau innerhalb des candomblés,
deren Autorität, außer bei kleinen üblichen, alltäglichen Streitigkeiten nicht
in Frage gestellt wird?225
„Die Söhne übernehmen, bis sie verheiratet sind und wegziehen und oftmals
darüber hinaus, bestimmte Funktionen des Ehemannes der schwarzen Frau
wie Schutz, Vertretung der Familie nach außen u.a.“226
Die Kinder beiderlei Geschlechts stellen die Altersvorsorge der Frauen
dar. Die Geschlechterproblematik ist vielschichtig, und deren Fazit für die
Frau ist häufig tatsächlich so, daß sie sich oftmals mit vielen Kindern, verlassen von ihren Männern, durchschlagen muß.
Ihre bedeutungsvolle und mächtige Position in den Besessenheitskulten
soll die Position, die sie innerhalb der Familie hat, widerspiegeln. Außerdem
soll der orixá der Priesterin bzw. Priesteranwärterin den nicht vorhandenen
Ehemann ersetzen.227
225
Die Ergebnisse, zu welchen diese Forscher gekommen sind, weisen daraufhin, daß sie heute
noch wie viele andere auch, dem Eurozentrismus erliegen. Gleichzeitig verweise ich auf den
offensichtlichen „Egozentrismus“ einiger etablierter einheimischer Forscher, die gleichermaßen den Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten verstellt.
226
Manche Söhne, andere jedoch nicht. „Meine mãe schlägt mich, wenn ich bis heute abend, 11
Uhr dreißig, wenn der letzte Bus nach Peri-Peri fährt. nicht für zehn Reais Erdnüsse verkauft
habe. Dann schlafe ich lieber am Strand und schaue morgen weiter!“ (Pinocio, einer der vielen
Erdnußverkäufer in Salvador, 1995).
Bei einer meiner abendlichen Exkursionen mit der Erzieherin R., bei der wir alle Straßen- und
“Halbstraßenkinder”, die sie kannte und deren häusliche Beziehungen ihr ebenfalls vertraut
waren, die in den Hausecken (diesen Absätzen der Türen) schliefen, befragten wir sie nach
dem Grund, warum sie nicht bei ihrer mãe schlafen. Hierbei stellte sich durchwegs heraus, daß
ihre Beziehungen zu ihren Müttern miserabel waren. Eine gesellschaftliche Stellung innerhalb
ihrer marginalen Gesellschaft werden aufzubauen, die ihnen ermöglichen könnte, ihren Mütter
auf irgendeine Art zu helfen, wird für viele der Unterschicht nicht möglich sein.
227
Frühere Forscher waren der Ansicht, daß die schwarze, "unterwürfige, schwache, passive
Frau" in den Kulten und nur dort ihre Rolle umkehrt (de Hohenstein 1991:333). Die Rolle der
schwarzen Frau in Kult und Gesellschaft wird ausführlich beschrieben bei de Hohenstein
(1991:228-445) und bei Landes (1967). Ich bin der Ansicht, daß das hier postulierte Frauenbild nur einen Teil der tatsächlichen Realität widerspiegelt. Die Rolle der schwachen, unterdrückten Frau, die Hilfe im Ritual sucht, wurde hier vernachlässigt. Sie ist allerdings m.E. ebenfalls Bestanteil des schwarzen Frauenbildes und ihres realen Lebens. Dies ist m.E. vergleichbar mit den von Lewis (1989) erstellten Thesen im Zusammenhang mit Ekstasekulten in
Afrika. Hier spielt die Frau innerhalb des Rituals einmal die Hauptfigur und bekommt dabei
gesellschaftliche Zuwendung. Im Alltag befindet sie sich in einer marginalen Rolle, auch
wenn sie sich innerhalb ihrer Familie und meistens erst in fortgeschrittenem Alter eine dominante Position schafft.
97
2.9.12 Gesellschaftliche, soziale, religiöse und therapeutische Funktionen des candomblés
2.9.12.1.1
Die sozialen Funktionen der Wahlfamilienbildung
„Dies ist meine Gemeinschaft. Ich bin der Vater dieser Menschen und meine
Aufgabe ist, ihnen allen zu helfen. Wer will, kommt zu mir, und ich gebe, was
ich kann. Ich bitte die orixás um Hilfe, und sie erzählen mir die Probleme der
jeweiligen Person. Ich behandle sie wie meine Kinder und bin in der Not für
sie da. Du siehst, mein terreiro ist schön. Es ist ein Ort, wo die orixás leben
und sich alle Menschen wohl fühlen. Schau, heute ist ein großes Fest. Ich gebe
allen zu essen und zu trinken und gebe ihnen Trost. Heute vergißt jeder seine
Sorgen. Wir werden gemeinsam tanzen, und die Kraft der orixás wird unsere
Familie stärken. Viele sind sehr arm. Aber heute werden wir glücklich sein.
Mir ist egal, was einer ist. Bei mir sind alle gleich. Vielen geht es schlecht,
weil sie das Falsche tun und nicht auf die orixás hören. Das kann nicht gut gehen, wie du siehst. Wer seine Verpflichtungen den orixás gegenüber erfüllt,
wird aufhören, Schlechtes zu tun.“
(Pai B. de Muritiba)
Der candomblé hat verschiedene Funktionen innerhalb der brasilianischen Gesellschaft als Religion einer diskriminierten Minderheit, der meist
marginalisierten Gesellschaft der Schwarzen, sowie für die einzelnen Individuen. Seine therapeutischen, seelsorgerischen und Gemeinschaftsgefühl produzierenden Funktionen gehen weit über das hinaus, was z.B. die katholische
Kirche in Brasilien leisten kann und will.
Früher, wie beschrieben, im Verborgenen praktiziert, stärkte es das
Gemeinschaftsgefühl der ausgebeuteten Sklaven und gab ihnen ihr kulturelles
Selbstwertgefühl wieder. Das gleiche gilt heute, die ausgebeutete Unterschicht trifft sich oft ebenfalls heimlich, um einer weiteren Diskriminierung
aus dem Wege zu gehen.
Der Aufbau von intimen (asexuellen), doch gleichwohl reellen Verwandtschaftsbeziehungen wird von den Mitgliedern als bedeutendste soziale
Funktion des candomblés bewertet. Die Integration in sozial funktionierende
Einheiten, welche die terreiros real darstellen, wird oft als einzige Rettung
aus dem sozialen Dilemma empfunden, wodurch das Leben mit neuem Sinn
erfüllt wird. Die neue Familie gibt Rückhalt und verspricht Anerkennung und
Hilfe.
Der/die Einzelne wird in der Leiter der Hierarchie aufsteigen, wenn
er/sie die internen Gesetze und Initiationen bewältigt. Die Möglichkeit einer
später zu erwartenden höheren gesellschaftlichen Position, z.B. einer mãe-desanto und Kultleiterin, verspricht mit zunehmendem Alter einen Zuwachs an
Anerkennung und Macht durch die Gemeinschaft und im Idealfall ebenfalls
mehr materielle Sicherheit.
„Ich fühlte mich ziemlich verloren in der weißen Gesellschaft, die mich diskriminierte. Meine Familie hielt nichts vom candomblé. So wurde ich erzogen,
als Quasi-Weiße. Nur, daß das nicht stimmte und jeder zeigte mir, daß das
nicht stimmte. Als ich zum Movimento Negro (Bewegung der Schwarzen in
brasilianischen Großstädten) ging, kam ich so an. Ich ging dann zum can-
98
domblé, um etwas über meine Wurzeln zu erfahren, und es gab mir unheimlich viel Kraft. Zum ersten Mal fühlte ich mich irgendwo zugehörig und mit
meiner Hautfarbe und meinem wenigen Geld akzeptiert. Und ich begann die
Kraft der orixás zu spüren. Yansã hat mich gerufen und mir von ihrer Kraft
gegeben. Heute bin ich ihre filha-de-santo. Ich ziehe meine Tochter alleine
groß, denn die Männer laufen weg, wenn’s Arbeit gibt. Aber Yansã ist eine
große Kriegerin. Ich brauche keinen Mann mehr, ich habe jetzt meine Familie
und meine Identität. ... Meine mãe-de-santo hilft mir, denn manchmal fühle
ich mich ganz schön am Ende. Ich liebe sie mehr als meine eigene Mutter. ....
Ich bin im Kampf.“
(I., filha-de-santo, Salvador)
Viele, die aus zerrütteten Familien stammen, finden zum erstenmal eine intakte Familie mit Verantwortlichkeiten. Dafür begeben sie sich in das
hierarchische Gefüge dieser Wahlverwandtschaft, die dem Individuum gegenüber tolerant ist. Es wird eine Stärkung des Selbstwertgefühls und Selbstbewußtseins erfahren. Marginalisierte Personen werden in der neuen Familie
akzeptiert. Der den Mitgliedern zugeordnete Aufgabenbereich im terreiro wird
meist als der sinnvollste im Leben beschrieben und ist oftmals der einzige Bereich der Anerkennung im Leben der diskriminierten Personen. Das einsame,
problembeladene Individuum wird integriert und kann sich mit Personen, die
ähnliche oder gleiche Probleme haben, identifizieren, was wiederum die psychische Anspannung mildern kann.
„Wir diskriminieren nicht. Schau, hier sind viele Schwulen und Transvestiten.
Für die orixás ist das o.k. und für mich auch. Du siehst ja die Gesellschaft und
wie alle sie auslachen. Viele tanzen besonders schön und das mögen die orixás
besonders gerne. Die orixás sind tolerant. Weißt Du, wie jemand liebt, das ist
doch egal. Die Schwulen und Transvestiten fühlen sich bei uns besonders
wohl, weil wir sie akzeptieren, sie sind die schönsten Tänzer. Nein, zu mir
kann jeder kommen, das wäre doch gelacht. Bei uns dürfen sie so sein, wie sie
sind.“
(M., mãe-de-santo, Salvador).
2.9.12.1.2
gen
Therapeutische Funktionen der Identifizierun-
„Ich habe dann erfahren, wer Yansã ist und gemerkt, daß ich eigentlich so bin,
wie sie. Das hab ich nur nie sehen wollen. Eine Frau soll immer angepaßt sein,
das mögen die Männer lieber. Und feminin und sanft. Nein, (sie lacht), ich bin
eine Kriegerin wie Yansã, und wer mir zu nahe tritt, muß aufpassen. Ich
kämpfe für meine Unabhängigkeit. Erst war es sehr schwer. Aber jedesmal,
wenn Yansã in mir war, wird es leichter, ich werde immer mehr wie sie und
das muß so sein, sonst geht es mir nicht gut. Ich denke manchmal, sie bestraft
mich, wenn ich versuche anders zu handeln. Jedenfalls kann sie es nicht leiden. Bei alten mães und pães kommen die orixás manchmal nur noch ganz
selten, weil sie schon gelernt haben, so zu sein wie ihre orixás.“
Die Identifizierung mit einem orixá hat für viele die Funktion sich mit
einem von der Gemeinschaft anerkannten Vorbild zu identifizieren. Dies führt
im Ritual, während der Besessenheit, zum Austreten aus alltäglichen Verhaltensnormen. In der Familie sind Persönlichkeitsveränderungen im Sinne von
Angleichungen an die Charaktere der jeweiligen orixás erwünscht.
„Unsere orixás sind keine „Heiligen“. Sie benehmen sich wie du und ich. Haben ihre Laster, schau dir ihre Geschichten an. Sie dürfen Lust haben, da
99
schläft wer, mit wem er will. Sie dürfen trinken und rauchen, anders als die
katholischen Heiligen, die immer nur lieb und gut und nicht da sind. Und
schau dir an, wenn die orixás tanzen, welch Lebensfreude, wie gut, dem zu
zuschau`n! Nein, wenn die so unbeweglich und stumm wie die Heiligen wären, würde ich sie nicht mögen; die tanzen nicht, die essen und trinken nicht
und feiern nicht mit uns. Wie sollen die dann den Menschen helfen können?“
(C., filha-de-santo, Salvador)
Die Identifikation mit den orixás kann leicht erfolgen, da sie mit den
gleichen Charakteren, Schwächen, Vorlieben, Lastern und Ambivalenzen sowie
schön und häßlich wie die Menschen beschrieben werden. Sünde und Sühne
existieren nicht. Von candomblé-Mitgliedern wird dies positiv bewertet und im
Vergleich mit der katholischen Kirche dort als Mangel empfunden.
Im Idealfall findet in candomblé-Familien keine moralische Bewertung
von abweichendem Verhalten von der gesellschaftlichen Norm statt.228 Unglück und Leid werden nicht als die Strafe der orixás angesehen, wie bei der
main-morality-religion,229 dem Katholizismus, wo Gott der Strafende ist und
der Priester für den Sünder um die Gnade Gottes bittet.
2.9.12.1.3
Konfliktlösungen und Vermeidungen, Macht
und Ohnmacht
„Nach dem jogo-de-búzios weißt du, welches die Ursache deines Problems ist
und warum das so ist, wie es ist. Manchmal ist es nur ein böser Blick von einem Feind, der dir anhaftet und all dein Leid verursacht hat, den wir dann auflösen.“
(R. mãe-de-santo; Salvador)
„Du findest keine neue Frau, weil diese Frau dich verhext hat. Und das schon
lange. Sie hat dich in der Hand und du bist machtlos. Da konntest du gar
nichts machen. Es wird höchste Zeit, daß wir etwas dagegen tun. Dein orixá
wird dir helfen. Kaufe morgen weiße Kerzen, Eier und all das was ich Dir jetzt
sagen werde. ... Danach ist dann alles gut für dich.“
(C., mãe-de-santo, Salvador)
Menschliche Konflikte werden angesprochen und bewußt gemacht. Der
Betroffene ist nun nicht mehr ohnmächtig ausgeliefert, sondern das anerkannte candomblé-Weltbild liefert ihm ein Erklärungsmuster. Er kann sich nun vertrauensvoll der Obhut seines religiösen Spezialisten anvertrauen und dessen
Lösungsvorschlag akzeptieren. Sein Handeln ist nur durch Einsatz von Geld und
passiver Anwesenheit gefordert, dann ändert sich alles durch die Aktionen der
mãe-de-santo von selbst. Allerdings werden die realen Konflikte nicht aus der
Welt geschafft, er bleibt den sozialen Realitäten und Begebenheiten weiterhin
ausgeliefert.
228
Ambivalenzen sind existent, abweichende Verhaltensweisen werden toleriert, was nicht bedeutet, daß Personen nicht kritisiert werden oder darüber nicht getratscht oder sich lustig gemacht würde.
229
Vgl. Lewis (1989:93), der die Religion der herrschenden und dominanten Schichten einer
Gesellschaft als main-morality-religion bezeichnet. Nach diesem Konzept stellen Besessenheitskulte die Religion einer Subkultur dar, wie beim candomblé, die der Unterdrückten und
Marginalen. Ich verweise auf seine Diskussion über verschiedene Arten der Besessenheitskulte im Zusammenhang und Abhängigkeit mit der dominierenden Gesellschaft.
100
„Dein Weg ist versperrt, weil sich drei orixás querstellen, wie du an diesen
Muscheln siehst. Das ist nicht schlimm, du mußt ihnen nur zu essen geben,
das wollen sie von dir. Dann geben sie den Weg frei und dir gelingt wieder alles, du wirst fröhlicher und wirst kein Kopfzerbrechen mehr haben. Aber das
Essen mußt du ihnen geben.“
(D., mãe-de-santo, Salvador)
Die Auseinandersetzung mit den Ursachen von Leid und Unzufriedenheit
führen nicht an soziale gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, die es zu verändern gälte, noch an kleinere alltägliche Verhaltensänderungen der jeweiligen
Person. Die Macht der orixás und der mãe-de-santo wird instrumentalisiert, es
handelt sich bei Problemen um Dinge, deren Lösungen in deren Zuständigkeitsbereich fallen. Dies symbolisiert zum einem die Machtlosigkeit der Unterdrückten, zum anderen die Bereitschaft, Macht abzugeben, bzw. von den als
stärker akzeptierten Personen zu übernehmen. Verantwortung kann somit abgegeben werden.
Die brasilianische Gesellschaft, explizit die baianische mit ca.8o %
Schwarzen, funktioniert in dieser Art seit ihrer Existenz. Die Erfahrungen der
Ohnmacht prägt einen Großteil der Gesellschaft seit Generationen. Fremdbestimmung und Gewalt finden im realen Alltag statt und werden ebenfalls auf
den Kosmos projiziert.
„Oh, die Frau, die mich haben wollte, hat mich mit schwarzer Magie völlig
verhexen lassen, das ist jetzt viele Jahre her. Ich wurde so krank, daß ich fast
gestorben bin. Ich hatte keine andere Wahl mehr, ich habe einen Gegenzauber
gegen sie machen lassen, sonst wäre ich jetzt tot. ...Es geht mir noch immer
nicht gut, die alte Kraft habe ich nicht wieder erlangt, und das Glück ist noch
nicht gekommen. Meine Kinder kann ich nicht ernähren, deshalb bin ich dort
weggegangen, dann muß ich sie nicht sehen. ... Ihre Hexerei war sehr stark. ..“
(J., Bierverkäufer, Salvador)
Ängste verwandeln sich in Geister und Wesen; Geister und Wesen verwandeln sich in Ängste. Die Angst von jemandem verhext zu werden, entspricht der realen Angst, jemandem ausgeliefert zu sein, der Macht über einem ausübt, und repräsentiert zudem die Gefühle der Ohnmacht, die im Alltag beständig wieder erlebt werden.230
Ursachen von Leid und Krankheit werden oftmals in zwischenmenschlichen Aggressionen gesucht und gefunden. Neidgefühle, Rachegelüste und der
Wunsch nach Macht werden im Bereich der Hexerei- und Hexereiauflösungsrituale ausgetragen. Diese Konflikte werden nun in den Ritualen heimlich ausgetragen. Der Betroffene zeigt seine Schwächen nur seiner mãe-de-santo, die
wieder Stärke herstellen soll. Die Verantwortung wird an sie abgegeben.
Menschliche Konflikte werden angesprochen, jedoch keine bewußten und direkten Lösungen vorgeschlagen.231
230
Vgl.: Freud (1994:29-109; Original1930).
Der angesprochene Komplex ist zu groß, um in meiner Arbeit ausführlicher diskutiert zu
werden. Alle Motiven aufzuspüren ist nicht problemlos, da Motive schwierig zu objektivieren
sind. Vgl. ebenfalls zu Gründen mittelalterlicher Hexenverfolgungen: Wegeler (1991:192214).
231
101
Als Feinde werden oftmals mißgünstige Nachbarn, neidische Verwandte
und begehrende oder enttäuschte Andersgeschlechtliche ermittelt, Personen
aus den gleichen sozialen Schichten. Die Macht des herrschenden Systems wird
nicht angefochten und nicht in Frage gestellt.
Eigene orixás zu haben, bedeutet für die Gemeinschaft, bei den Ritualen und Feiern frei von Fremdbestimmung der Gesellschaft zu sein und nach
eigenem Bewußtsein zu handeln. Die Befreiung von Fremdbestimmung beinhaltet jedoch wiederum Unfreiheit, wie sich z. B. bei der Besessenheit zeigt.
Eine Person, die „von einem orixá geritten wird“, wünscht diesen Zustand und
unterwirft sich gleichzeitig freiwillig der Macht des orixás. Danach kann sie
sich an nichts mehr erinnern, sie war in diesem Zustand fremdbestimmt.
„Ich gehe nicht zum candomblé, weil das sehr gefährlich ist. Die verhexen
mich dort doch, oder nicht? ...“
„Ja, ich war mal bei einem candomblé- Fest. Ich bin vor Angst fast gestorben.
Alle so schwarz und dann all diese Geister. Um Himmels Willen! Wenn die
mich verhext hätten! ...“
„Paß auf, wenn Du dort hin gehst. Diese mãe-de-santo ist sehr gefährlich. Die
verhext Dich, ohne, daß Du etwas merkst. Und dann brauchst Du viel Geld,
um das wieder in Ordnung zu bringen. ...“
(F., Psychologin, Salvador)
Die mãe-de-santo wird im allgemeinen als Person mit großer Macht dargestellt und empfunden, da angenommen wird, daß sie höhere Wesenheiten
zu ihrem Vorteil manipulieren könne. Sich ihr zu unterwerfen, bedeutet, sich
freiwillig in die Situation der Machtlosigkeit zu begeben und ihre Macht anzuerkennen.
2.9.12.1.4
Sinnlichkeit
„Mãe Menininha war die schönste Oxum, die es je gegeben hat. Wer sie tanzen gesehen hat, war bezaubert und von ihr gefangen. Ihre Schönheit ließ uns
alles Leid vergessen. ...“
(filha-de-santo, über die berühmte, kürzlich verstorbene mãe-de-santo von
Gantois)
Die Aufmerksamkeit wird bei den orixá-Festen wie bei den Heilungsund Reinigungsritualen auf sinnliches Erleben gelenkt. Die Wesenheiten und
die ihnen zugehörige Gemeinschaft tanzt und singt, genießt Wohlgerüche, optische und akustische Ästhetik bis hin zur Ekstase. Das terreiro zeigt sich als
Institution, in der Sinnlichkeit, Emotionalität sowie gesellschaftlich und persönlich Unbewußtes ritualisiert zum Ausdruck kommen dürfen.
Die Ästhetik wird als einer der wesentlichen Hauptbestandteile bei den
orixá-Festen bewertet. Schönheit und Ästhetik sind erstrebenswerte Ideale
der brasilianischen Gesellschaft, mit denen von den gesellschaftlichen
Mißständen und geringen sozialen Chancen abgelenkt wird. Die Chancen auf
Bildung und Arbeit sind für die Ärmsten äußerst gering. Gesellschaftlicher Erfolg ist oft nur geknüpft an die Erfüllung der Schönheitsideale, was im besonderen für die sozial Schwächsten gilt. Die Aussicht auf fast immer unterbezahlte Arbeit beschränkt sich für den Einzelnen meist auf künstlerische Tätigkeiten wie Tanz und Musik oder im Bereich des Sports wie z.B. Fußball. Somit
102
umfassen Schönheit und Sinnlichkeit ebenfalls angestrebte Normen innerhalb
der gesellschaftlichen Verhältnissen.232
Für eine erfolgreiche Besessenheit durch einen orixá, die sich meist in
sinnlichen Tänzen zeigt, erfährt die Person die Anerkennung und Bewunderung
von der gesamten Gemeinschaft. Die Besessenheit durch einen orixá ist erwünscht und erstrebenswert und wird vom sozialen Umfeld honoriert. Das im
Alltag diskriminierte Individuum wird in diesem Augenblick zur Königin, zum
König der Nacht und Mittelpunkt der Gemeinschaft und entflieht für kurze Zeit
der Rolle des ohnmächtigen Opfers innerhalb der Gesellschaft.233
„Für einen Mann hätte ich jetzt keine Zeit mehr. Und auch keine Lust mehr,
Prügel habe ich schon mehr als zuviel bezogen. ...Ich habe genug Kinder, für
die ich sorgen muß. Xangô gibt mir alles, was ich brauche. Er respektiert
mich. Das braucht eine Frau. Ich fühle mich mit ihm verheiratet. ...“
(D., mãe-de-santo , Salvador)
Die Heirat bzw. sexuelle Vereinigung234 mit dem orixá ersetzt emotional
den fehlenden oder ungenügenden Ehemann. Das sinnliche, kreative Sichselbst-Erleben oder Vergessen im Tanz füllt vorübergehend die Leere des auswegslosen, eintönigen Alltags der Armut. Die neuerdings an den Festen teilnehmende Mittelschicht und Touristen erleben dies ähnlich, jedoch ihr Alltag
ist nicht der der Armut. Ihre innere Leere ist durch andere Auswegslosigkeiten, Bindungen und unkreative Passivität begründet.
2.9.12.1.5
Projektionen
Auch eigene Aggressionen werden in die orixás und Geistwesen projiziert, die
sich rächen und kämpfen, wie dies im realen Leben nicht möglich ist oder
nicht möglich zu sein scheint. Die orixás spiegeln jedoch mit ihrer ihnen zugeordneten Macht ebenfalls die Gefühle der Machtlosigkeit und Opferrolle der
Unterdrückten im täglichen Leben.
Betrachtet man die Zusammensetzung der candomblé-Gemeinschaften,
trifft man vorwiegend auf Frauen aus der Unterschicht. Die Männer, oft marginalisiert, wie z.B. Schwule oder Transvestiten, bilden diesen gegenüber die
232
Gleichfalls bringt Sinnlichkeit aggressive Komponenten zum Ausdruck, die sonst innerhalb
der Gesellschaft nicht geäußert werden dürfen und im Ritual sublimiert werden. Die sinnlichsymbolischen Handlungen im Ritual entsprechen den sonst tabuisierten Gefühlen. Verdrängtes kann hier zeremoniell kollektiv verbindliche Gestalt annehmen.
Lewis (1989:182) analysiert in der Besessenheit der Marginalen ebenfalls aggressive Selbstbehauptung, da für die Personen keine andere Möglichkeit besteht, dies sonst zum Ausdruck
zu bringen, bzw. dies sonst sanktioniert wird.
233
Lewis 1989 interpretiert bei Marginalen afrikanischer Kulturen ähnliche Phänomene. Seine
Fragestellung, warum bestimmte soziale Gruppen häufiger Besessenheitszustände als andere
für wünschenswert halten und was das für die jeweiligen Individuen bedeutet, sind vergleichbar mit der brasilianischen Gesellschaft und der sozialen Stellung der dortigen Marginalen.
Von den Kultmitgliedern wird Besessenheit als Bestandteil des religiösen Kultes gesehen und
nicht im Zusammenhang mit dem sozialen Umfeld gedeutet.
234
Während der Besessenheit „reitet der orixá sein Pferd“. Mit diesem Bild wird oftmals eine
sexuelle Relation oder zumindest eine innige Verbindung angedeutet, die im Alltagsleben
nicht oder nicht befriedigend stattfindet.
103
Minderheit. Auch dies scheint ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse
darzustellen. Frauen sind in Brasilien, Süd- und Mittelamerika die Schwächsten
und Unterdrücktesten im sozialen Gefüge. Sie beziehen einen großen Teil ihrer Stärke aus der Gemeinschaft, weil sie oftmals nur dort Anerkennung und
Familienersatz finden. Gemeinsam fühlen sich die Schwachen stärker und die
Zusammengehörigkeit vermittelt Wärme, Geborgenheit, Sicherheit. Obwohl
Frauen in der candomblé-Gemeinschaft stark sein können und in den leitenden
Positionen dies auch tatsächlich sind, werden sie in der gesellschaftlichen Realität fast immer von Männern dominiert und haben mehr Frustrationen zu
ertragen.
Die orixás und anderen Wesenheiten bieten sich zu Projektionen für die
verschiedensten geheimen Wünsche und unbewußten Gefühlen, Ängsten und
Hoffnungen an. Bei ihnen ist alles möglich, im positiven wie im negativen
Sinn. Man setzt sich mit einem idealisierten Kosmos auseinander und wird von
sich selbst, der realen Welt und den realen Konflikten abgelenkt. Mit Hilfe der
Kosmologie kann die Realität definiert werden, die logisch scheint. Die Schuld
an Mißgeschicken wird fremden, höher gestellten Autoritäten zugewiesen, den
fernen orixás und anderen Wesenheiten. Die Geistwesen suchen sich Opfer
unter den Menschen, wobei sie sich anscheinend meist sozial Unterdrückte
auswählen, da diese von mehr Leid als die Reichen geplagt werden. Mit diesem gedanklichen Konzept bleibt die gesellschaftliche Unbewußtheit bestehen.
Gleichzeitig tritt bei Frauen das Gefühl auf, etwas besser zu können als
die Männer, bzw. auserwählt zu sein, was sich am sonstigen gesellschaftlichen
Leben und wirtschaftlichen Erfolg nicht feststellen oder messen läßt.
Zukunftshoffnungen werden geweckt, die sich auf das Leben im hier
und jetzt beziehen.235 Durch Einhaltungen bestimmter Regeln und religiöser
Vorschriften werden die orixás besänftigt und für eine Beeinflussung der Zukunft verfügbar gemacht.
Im Zustand der erwünschten Besessenheit soll und darf das Individuum
Emotionen, die es sonst unterdrückt, öffentlich ausleben.236 Dies ist von der
Gemeinschaft erwünscht und wird von ihr anerkannt und belohnt. Es erfolgt
keinerlei moralische Bewertung. Im Erklärungsmuster der Gemeinschaft handelt nicht der Besessene, sondern der ihn reitende orixá.237
235
Im Gegensatz zu anderen Religionen. Im Katholizismus oder Kardezismus beispielsweise
beziehen sich die Zukunftshoffnungen auf das Leben nach dem Tod.
236
Vgl. hierzu Kapitel 2.10.5., in dem die Charaktere der orixás und die dazugehörigen
Ausdrucksformen im Tanz beschrieben wurden.
237
In der Literatur wird ausschließlich beschrieben, daß das besessene Individuum danach kein
Lob erhält, die Gemeinschaft würde danach nur die sich im Tanz zeigende orixás lobend erwähnen und bewundern. Nach meinen eigenen Erfahrungen ist genau das Gegenteil der Fall,
die guten Tänzerinnen erleben eine Zuwendung wie ein „Star“ nach einem Auftritt, was sie im
alltäglichen Leben nie erfahren.
104
Weitere Funktionen des candomblés werden im Zusammenhang und
Vergleich mit den anderen religiösen Vereinigungen und den Motiven der teilnehmenden Bevölkerung in Kapitel 2.10.19 beschrieben, da sie nicht nur allein
für den candomblé gelten.
2.9.13 Candomblé und Rassismus
„candomblé é coisa do negro“- candomblé ist eine Sache der Schwarzen. Damit will ich nichts zu tun haben. Das ist keine Kultur, die machen mit Blut
herum, und Geister. Nein, danke. ...“
G., morena (braunhäutige Mestizin)
„Daß ich zum candomblé gehe, sage ich niemandem, sonst wird schlecht über
mich gedacht. Das ist meine Privatsache. Heute kann man es schon manchen
sagen, weil es schick ist. Aber nur, wenn man zu einem der ganz reichen terreiros geht, wo viel Geld ausgegeben wird. ...“
A., moreno (braunhäutiger Mestize)
„Die Weißen kommen meist heimlich. Sonst werden sie unter sich verspottet.
Und wer will das schon. Aber bei manchen ist es schick, die kommen dann
wie die Touristen scheinbar aus Neugierde. Aber manche suchen schon Hilfe,
geben den orixás Opfer, damit es ihnen besser geht, aber das sagen sie niemandem. ...“
(F., Mitglied eines terreiros)
„Brasiliens Problem ist, daß es nicht zwei sich befeindende Gruppen gibt,
sondern drei, die sich zudem als solche nicht erkennen und wahrnehmen. Somit ist Verwirrung vorherbestimmt und Lösungen sind schwierig, ja, unmöglich. Solange sich die Feinde nicht beim Namen nennen und erkennen, wie absurd ihre Feindschaft ist, wird sich nichts verändern. Solange bis die Schwarzen und die „morenos“ (Mischlinge, brauner Hautfarbe) sich nicht als eine
Gruppe sehen lernen, wird ihr Feind, Weiß immer der Gewinner sein, und von
ihrer Feindschaft profitieren. ...“
(J.B., Soziologe)
Viele Schwarze und morenos versuchen den Rassenharmoniemythos der
Weißen zu stützen und verleugnen ihre Kontakte zum candomblé.238 Dies geschieht in der Illusion, den Weißen ähnlicher zu werden und näher zu kommen. Die Ablehnung des candomblés durch Personen dunkler Hautfarbe, welche den Prozeß des branqueamentos eingeschlagen haben, ist eine der Konsequenzen daraus. Es werden die eigene Kultur, eigene Religion und die eigene
Wurzel negiert und diffamiert. Eine Folge davon ist, daß die schwache gesellschaftliche Position der terreiros unverändert weiter bestehen bleibt.
Die Kultmitglieder der terreiros erhalten außerhalb ihrer Gruppe weiterhin keine oder wenig gesellschaftliche Anerkennung. Sie leiden unter dem
Rassismus aus den eigenen Reihen und der unreflektierten Übernahme weißer
Ideale. Personen mit mangelndem Selbstbewußtsein verleugnen sich außerhalb
ihrer Gruppe, ihres terreiros. Früher wurden die Kultmitglieder ausschließlich
von den Weißen diffamiert, heute jedoch von drei Gruppen, den Weißen, den
morenos und den Schwarzen, die ihre afrikanischen Wurzeln ablehnen.
238
Zum branqueamento vgl. Kapitel 2.9.
105
Candomblé in Salvador steht heutzutage in der ambivalenten Position,
durch die „schwarze Bewegung“ (MNU) aufgewertet zu werden und durch den
Rassismus, welcher sowohl aus der nicht organisierten und unbewußten Branqueamento-Bewegung als auch aus den höheren Gesellschaftsschichten der
Weißen kommt, eine Abwertung zu erfahren. Die Umgangsweisen hiermit sind
verschieden, abhängig vom Informations- und Aufklärungsstand der betreffenden Person und ihrer jeweiligen Abhängigkeit von Teilen der Gesellschaft.
Schwarze Kultur wird von denselben Personen, welche ihrer eigenen
Kultur das ganze Jahr ablehnend gegenüberstehen, ausschließlich während der
Karnevalszeit, als Aushängeschild, auf das sie stolz sind, gefeiert. In dieser
Zeit werden sie von den höheren gesellschaftlichen Schichten und Touristen
bewundert und schließen vorübergehende und vorübergehend aufwertende
Kontakte. Die scheinbare Zugehörigkeit zur schwarzen Kultur und ihren exotischen, von den Weißen jetzt begehrten Schätzen wird betont.
Durch den anwachsenden Tourismus in Salvador in den letzten Jahren
dehnt sich dieser Zustand auf die in den Sommermonaten stattfindenden Kontakte zu den Touristen, meist bei Karnevalsproben, aus. Der Tourismus bringt
es mit sich, daß es nun auch Mitglieder der Mittelschicht es „schick“ finden,
kurze unverbindliche und heimliche Freizeitkontakte mit erotischen Komponenten mit Schwarzen zu pflegen. Schwarze Haut wird „konsumiert“. Die Verlogenheit dessen wird von Außenstehenden bemerkt, von Beteiligten ignorierrt.
Im Karneval treten ebenfalls mães-de-santo und filhas-de-santo aus ihrem sonstigen kulturellen Rahmen und zeigen öffentliche Teile der orixáTänze, Gesänge und Gewänder auf der Straße. Sie werden nun als Teil des
bunten Geschehens anerkannt, aber deshalb nicht mehr geachtet als sonst.
Gesellschaftliche Aufwertung von Seite der Weißen gestaltet sich für sie als
schwierig. Mães-de-santo und filhas-de-santo, welche mit dem MNU zu tun
haben, legen darauf überhaupt keinen Wert, für sie ist ausschließlich ihr Stand
in der schwarzen Gesellschaft von Bedeutung. Wer jedoch weißes Klientel und
deren Geld haben möchte, versucht sein Image aufzuwerten.
2.9.13.1.1.1
Macumba
Wenn man die ältere Literatur über afro-brasilianische Religionen betrachtet,239 stößt man auf große Probleme, welche die Unterscheidung zwischen
den Begriffen candomblé und macumba betreffen. Um die Verwirrung noch zu
steigern, werden die Begriffe umbanda und quimbanda teils gleichbedeutend
benutzt, und andere wie Xangô-Kulte, caboclos, etc.240 werden im gleichen
Atemzuge mit den unterschiedlichsten negativen Bewertungen besetzt. Die
239
Das meist zitierte Werk dazu "As religiões no Rio" von dem Journalisten João do Rio von
1906 ist unwissenschaftlich und erläutert keinerlei Details.
240
z.B. die Beschreibungen von Ramos (1934:94-103) der macumba-Rituale unterscheiden sich
in keiner Weise von den vorhandenen Beschreibungen der umbanda und quimbandaKultformen.
106
Autoren sind sich über die Benutzung der Begriffe uneinig und verzichten
meistens auf deren Erläuterungen.
In Südbrasilien und Rio de Janeiro z.B. versteht man unter macumba
alle afro-brasilianischen Religionen, die irgendwie mit Magie zu tun haben.
Candomblé wird dort zum Teil als baianische Form von macumba oder als Ursprungsform von macumba angesehen. Macumba wird meist mit schwarzer
Magie und Schadenszauber gleichgesetzt,241 aber gleichfalls für viele oder alle
afro-brasilianischen und spiritistischen Religionen verwendet.242
Charakteristisch im Kult sollen Kerzen, Räucherwerk und spektakuläre
blutige Opfer sein. Metalle und heilige Steine, welche die Kräfte der orixás
bergen, sollen im macumba verschwunden sein. Der Exú-Kult („Teufelskult“)
scheint dominant zu sein. Die vom candomblé bekannte Trance soll “heruntergekommen” sein, d.h. nur noch in anderer und abgeschwächter Form praktiziert werden.243 Die Initiationszeit wird als kurz (bis zu drei Wochen) beschrieben.
Die Verschmelzungsprozesse der Religionen in den Großstädten sowie
die ständigen Veränderungen, Wechselwirkungen und Einflüsse von allen Seiten, Integrationen von Elementen aus dem Okkultismus und dem Spiritismus
scheinen die Verwirrung noch zu vergrößern.
Mit meinem Versuch, die Begriffe zu trennen und klar zu definieren,
stoße ich auf verschiedene Schwierigkeiten. Von christlicher Seite aus werden
die afro-brasilianischen Religionen anders definiert als von den AfroBrasilianern selbst, die sich untereinander darüber nicht einigen. Das Vorurteil
gegen die Magie der schwarzen Bevölkerung, das primär von christlicher Seite
ins Leben gerufen wurde, hat sich unter ihnen gleichfalls gefestigt.
In den verschiedenen terreiros der verschiedenen Religionsrichtungen
wird jeweils gegenseitig voneinander behauptet, die anderen würden schwarze Magie betreiben. Dabei werden, wie bereits angedeutet, die unterschiedlichsten Namen benutzt. Die Diffamierungen sind ebenfalls Ausdruck der existierenden Konkurrenz innerhalb der religiösen Gruppen, sie werden zudem als
Werbemechanismen eingesetzt.
Viele Weiße diffamieren die Magie der Schwarzen, die sie aber gleichzeitig in Anspruch nehmen. Hexereiauflösungsrituale werden teils als weißma-
241
Vgl. weiterführend Greschat (1996:261-279), der zu „ethnischen“ Religionen, welche die
Europäer befremden, hier Stellung bezieht.
242
macumba wird auch als die in Rio de Janeiro und São Paulo herrschende Kultform der Bantu
angesehen (Ramos, 1951). Unterschiedslos werden alle Kultformen afrikanischen Ursprungs
darunter subsumiert. macumba hat sich z.B. den Nagô-Kulten geöffnet. macumba soll sich in
der Art vom candomblé unterscheiden, daß der Geisterkult anders praktiziert wird. Die afrikanischen Schutzgeister sollen sich, unter spiritistischem Einfluß und mit Anknüpfungen an die
alten Vorstellungen des Ahnenkults, in die hilfreichen Geister von verstorbenen Sklaven und
von Indianern verwandelt haben. Die Mythologie der orixás soll fast nicht mehr existent sein,
und es sollen nur noch orixá-Kultfragmente im macumba zu finden sein.
243
Gerbert (1970:46): Die Trance habe sich in individualistische Hysterie verwandelt.
107
gisch, teils als schwarzmagisch angesehen, die Grenzen scheinen fließend. Die
kosmischen Kräfte vermögen verschieden und nicht zuletzt in beide Richtungen gleichzeitig gelenkt werden.
Macumba wird auch beschrieben als eine Religionsform, die wahllos Elemente, entstanden durch Kontakte verschiedenster Kulturen, sich einverleibte und als städtisches Phänomen zu betrachten ist.244
Seine Bedeutung für die Akkulturation der Sklaven in Brasilien, die in
der kulturell-religiösen Abkapselung einen Rückhalt gefunden haben, sei erwähnt, wobei dies m. E. für alle afro-brasilianischen Kultformen gilt. Macumba wird als eine Verfallsform der afrikanischen Kulte beschrieben und ebenso
als Schmelztiegel aller Religionsformen auf Basis der afrikanischen Elemente.
Macumba soll eine der Religionen der Marginalbevölkerung der favelas
sein, die in materiellem und moralischem Elend vegetiert. Dazu gehören
Schwarze, Weiße und Mischlinge, wobei die Situation der Schwarzen, wie
schon erwähnt, die aussichtsloseste ist. Macumba ist jetzt nicht mehr rassengebunden, sondern klassenspezifisch. Der „Synkretismus“, der macumba
innewohnt, ergibt sich aus den unterschiedlichen Kontakten zu den verschiedensten vorherrschenden Religionsströmungen, wie auch zu all den vielfältigen okkulten Praktiken.245
Zu macumba werden auch die “großen Zauberer” gezählt, zu denen
selbst in entlegene Stadtviertel gewandert wird, um medizinische und seelsorgerische Hilfe zu erhalten. Scharlatanerie und Effekthascherei sollen Bestandteile des macumba sein und mit der Anziehungskraft des schwarzen Zaubers,
des Exotischen und Perversen wird geworben. Auf diese Art soll macumba die
höheren Schichten der Gesellschaft faszinieren. Ein spektakulärer Unterhaltungstrieb wird ihm nachgesagt, mit dem er sich den Namen “touristischer
macumba” verdiente, weil mit seinen effektvollen Vorführungen Geld zu
verdienen ist.246
2.9.14 Umbanda
Umbanda wird in der gesamten Literatur nach der Tradition von Ferreira de
Camargo (1991 und 1973:166) als Gegenpol des Kardezismus247 bewertet. Die
gegenseitigen Beeinflussungen der beiden sind mannigfaltig, es existiert eine
Vielfalt der damit im Zusammenhang stehenden Formen und Ausdrücke. Umbanda entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist seit den 40er
Jahren organisiert und hat seither überregionale Formen angenommen. Viele
der spiritistisch/kardezistischen Werte, Vorstellungen und Praktiken, die später beschrieben werden, wurden in die umbanda integriert.
244
Gerbert (1970:53).
Siehe Gerbert (1970:42-47) und Ramos 1951.
246
Vgl. Gerbert 1970.
247
Der Kardezismus wird in Kapitel 2.9.18. beschrieben.
245
108
Kardezisten lehnen umbanda meist ab, mancherorts kam es aber zu
breiten Vermischungen, und es entstanden Zentren, die sich offen sowohl zur
Praxis des Kardezismus als auch der umbanda bekennen.
Umbanda wird definiert als Religion und Glauben an Geister und Geistbesessenheit mit dem Ziel, direkten Kontakt zur Geisterwelt herzustellen. Den
übernatürlichen Wesenheiten wird zugesprochen, daß sie fähig sind, in das
irdische Geschehen einzugreifen. Im Ritual werden Kontakte mit ihnen hergestellt und Hilfsbitten an sie geäußert. Durch „spirituelle“ Hilfe und soziale
Fürsorge gibt umbanda praktische und instrumentale Orientierung. Ihre Zentren sind Orte, die der Lösung persönlicher menschlicher Probleme dienen.248
Hauptmerkmal von umbanda ist die Anrufung der Geister. Medial veranlagte Kultführer treten innerhalb bestimmter Rituale in Kontakt mit den übernatürlichen Wesen. Umbanda hat andere Geistwesen, die beschworen und angerufen werden, als die Kardezisten. Pretos velhos, Ahnengeister von verstorbenen schwarzen Sklaven und caboclos, Ahnen der Indianer, sind im Gegensatz
zu anderen brasilianischen Religionen die Namen der für umbanda typischen
Geister.
Umbanda ist der Schmelztiegel von Elementen all der anderen Religionen. Am ausgeprägtesten sollen kardezistische Strömungen darin vertreten
sein, und gleichfalls wurden Elemente von afro-brasilianischen Religionen,
Katholizismus und orientalische Facetten integriert. Ich vermute, daß bei lokalen Verschiedenheiten manchmal die afro-brasilianische Betonung überwiegt, z.B. in der Stadt Salvador mit ihrer vorwiegend schwarzen Bevölkerung.
In der umbanda-Kosmologie sind die sieben heute anerkannten “Linien”
von Geistwesen eines der Charakteristika.249 Dazu gehören verschiedene orixás, deren katholische Entsprechungen, die Heiligen, und andere Wesenheiten wie hochgestellte und niedrige Geister. Der Kosmos läßt sich in drei Ebenen unterteilen: astrale Sphäre, Erde und Unterwelt. Auf der Erde inkarnieren
sich besagte Geistwesen. Böse Geister aus der Unterwelt besuchen ebenfalls
die Erde und verursachen viel Leid, gegen das die caboclos und pretos velhos
ankämpfen müssen.250
Unterschiedliche Kulte von kurzer Lebensdauer, die Integration neuer
religiöser Strömungen und deren Einbau in die Rituale scheinen umbanda
voranzutreiben. Seit umbanda existiert, hat sie wachsende Mitgliederzahlen
248
Brown (1986:195).
Der Aufbau der verschiedenen Linien mit den Legionen von Geistwesen kann hier nicht
wiedergegeben werden. Einige der Linien haben als Unterscheidungsmerkmal die Zugehörigkeit der Geistwesen zu bestimmten Religionen, z.B. der Linie des Oxalá gehören die Schwarzen an, die in ihrem irdischen Leben gute Katholiken waren. Die Linie des Orients (geführt
von Johannes dem Täufer) bilden die Geister Asiens. Abendländische, indianische und desinkarnierte afrikanische Geistwesen bilden andere Linien (Brown 1986:54-67).
250
Vgl. Brown (1986:54-67).
249
109
zu verzeichnen, und zudem zeichnet sie die Fähigkeit aus, immer mehr soziale
Schichten anzusprechen.251
Umbanda wird als der Versuch einer Umdeutung und Reorganisierung
des afrikanischen Religionserbes beschrieben. Gerbert (1970:51) sieht ein ambivalentes Verhältnis der umbanda-Ausübenden zur Tradition in den Erklärungsversuchen der Ursprünge ihrer Religion. Scheinbar soll die emotionale
Beziehung zu Afrika verleugnet und umgedeutet werden als ursprünglich altägyptische und altindische Hochreligion. Die afrikanischen Religionsformen
seien nun “unvollkommene Derivate dieser Urreligion”, barbarisiert mit der
Einführung in Brasilien und den Bedingungen der Sklaverei. Nur mit umbanda,
durch Ausscheidung aller Verunreinigungen, habe sie den reinen Strom wiedergefunden.252
Umbanda soll auch die Fortsetzung des als macumba bekannt gewordenen afro-brasilianischen Kultes sein.253 Hier, wie auch beim Kardezismus, sind
Garantien der Religionsfreiheit in ihrer Verfassung eine der führenden Strategien zum Erfolg gewesen. Zu einer Vereinheitlichung der Organisation und
Lehre, von der man sich verstärkte Attraktivität erhoffte, kam es bis heute
nicht.
Verläßliche Angaben hinsichtlich der Zahl der umbanda-Anhänger sowie
der Kultgruppen existieren nicht. Die Struktur der Zentren, Leitung, Mitarbeiter und der passiven Klientel ähnelt sehr dem der kardezistischen Zentren.
Aktives Mitglied wird man dann, wenn man mediale Fähigkeiten ausbildet.. Es
existieren weitaus mehr passive als aktive Mitglieder.
Die brasilianische Mittelklasse soll sich mit umbanda eine neue religiöse
Identität geschaffen haben, die unabhängig von der Elite ist. Umbanda steht
im Kontrast zum traditionellen Katholizismus254 der Elite der Gesellschaft, zu
deren Identifikation mit der europäischen Tradition. Ihr beständig anwachsender Zustrom an neuen Mitgliedern zeigt, daß hierfür Bedürfnisse bestehen.
Mit der Theorie der Modernisierung und Dichotomie wird die brasilianische Gesellschaft auf dem Weg der Industrialisierung und deren Problematik
dargestellt. Sie teilt die der Gesellschaft zugrundeliegenden Modelle in zwei
Sektoren: Der eine kennzeichnet sich durch eine städtische, gebildete, indust-
251
Es wird behauptet, daß umbanda die besondere Fähigkeit besitzt, die Schwarzen sozial aufzuwerten. Afro-Brasilianer und Indianer sollen sich hier in ihrem animistischen Glauben, bedingt durch dessen Ähnlichkeit zum Spiritismus in Theorie und Kultpraxis, diesem ebenbürtig
fühlen. Vgl.: Bastide (1971:438 u. 515) und Gerbert (1970:103).
252
Vgl. Bastide (1971:442). Hier werden verschiedene Etymologien des Wortes umbanda
aufgeführt, eine davon ist von umbanda-Führern in Beziehung zum Sanskrit gesetzt worden.
253
Siehe Bastide 1959 und Brown (1986:35).
254
Brown (1986:200) beschreibt in diesem Zusammenhang den Kardezismus ebenfalls als elitäre Religionsform, die auf europäisches Erbe zurückgreift. Hier muß man zwischen zwei Formen von umbanda unterscheiden; die eine will auf europäische Traditionen zurückgreifen,
und die andere distanziert sich, indem sie afrikanische Elemente forciert. Die meisten Autoren
beschreiben umbanda als eine aus der Unterschicht stammende Religion (Camargo 1961 und
1973 u.a.).
110
rialisierte Gesellschaft, die mit funktionierenden Kleingesellschaften verschiedene Lebensbereiche strukturiert und rational, bürokratisch, weltoffen
und Veränderungen gegenüber aufgeschlossen ist.
Der zweite Sektor kennzeichnet eine weitgehend ungebildete Gesellschaft, die ländlich, bäuerlich, patronal strukturiert ist und im Zusammenhang
mit “irrationalen Volkspraktiken” steht. Er verhält sich Veränderungen gegenüber unaufgeschlossen und bildet den Kontrast zum städtischen Sektor. Umbanda wird assoziiert mit dem “primitiven”, vorliterarischen Afrika und gehört
damit zum ländlichen Sektor mit allen erwähnten Attributen. Umbanda soll
eine Brücke ins städtische Brasilien geschlagen haben, hat angefangen sich zu
organisieren, zu bürokratisieren und zu rationalisieren und erreicht, vielleicht
aufgrund der Verbindung der beiden Welten, die Massen.255
Ziel der Zentren ist es, Mitglieder aus sozial höheren Schichten anzuwerben und dadurch eine Aufwertung des Sozialprestiges zu erlangen. Gleichzeitig bedeutet dies wiederum eine größere Verbreitung in sozial höhere
Schichten und verspricht die Anwerbung weiterer sozial Privilegierter.256
Umbanda will weiße Magie sein. Die Kulte dienen der Heilung, Auflösung von Hexereien und Aussöhnung mit den geistigen Wesenheiten. Schwarze
Magie zum Schaden Dritter soll nicht ausgeübt werden. Vergleichbare Praktiken werden jedoch beobachtet und beschrieben.257
Die Ursachen von Unglück und Krankheit sind im theoretischen Konzept
von umbanda als quimbandische Handlungen, d. h. Hexerei etc. definiert.
Exú, der orixá, der mit dem Teufel der Katholiken gleichgesetzt wird, und
Exú-Geister sollen die Verursacher sein.258 Des weiteren wird zwischen weißem (umbanda branca259) und reinem umbanda (umbanda pura260) unterschieden.
255
Brown (1986:203) zu umbanda pura und der Mittelschicht. Es stellt sich dazu die Frage,
welche Funktion die andere umbanda, die sich davon distanziert, hat. Will sie die Identität der
Unterschicht von denen der anderen abgrenzen, und in welchem Zusammenhang stehen die
anderen afro-brasilianischen Religionen dazu?
256
Siehe dazu: Koch-Weser (1976:304-310).
257
Siehe Kloppenburg (a umbanda no Brasil), Koch-Weser 1976:309) u.a.
258
Wie im candomblé existieren auch bei umbanda eine Vielzahl von Exús. Exú-Kulte, in umbanda-terreiros oder tendas abgehalten, sollen denen des candomblés ähneln. Sie sind immer
als rot-schwarze Teufel mit Hörnern und Klumpfuß und einer Drei-Zack-Gabel in einer Hand
abgebildet und stehen als Figuren in allen umbanda-terreiros. Sie sind zudem die Wächter der
Eingänge der terreiros und aller Straßenkreuzungen. Es werden ihnen viele Opfer und Rituale
dargebracht, beim candomblé ebenso wie bei umbanda. Das Mindeste, was man Exú anbietet,
ist ein Glas Wasser und eine Kerze. Oftmals erhält er Zigarren, schwarze Hühner und Maniokmehl. Er ist mit Opfern relativ leicht zufriedenzustellen, anders als dem katholischen Teufel
werden ihm außer Dämonismus scherzhafte Charakterzüge zugeordnet (Vgl. Bastide 1971,
u.v.a.).
259
Diese "desafrikanisierte umbanda-Bewegung" entstand in den 30er Jahren aus der Distanzierung zur afrikanischen Form, die dem verpönten macumba ähnelte. Hier wurde angestrebt, die
kardezistische Doktrin und deren Geistwesen vermehrt zu integrieren (Brown 1986:40-44).
260
Gleichbedeutend mit dem Begriff "afrikanisiertes umbanda". Dessen Gründer, Zélio de Moraes, hat umbanda pura 1920 ins Leben gerufen. Viele der Kardezisten wanderten danach zu
111
Der Erfolg von umbanda basiert, ähnlich wie der des Kardezismus, auf
Erfolgen im kurativen Bereich. Die komplizierte Lehre, mit Elementen aus allen Formen des Okkultismus, ist gegenüber der Kultpraxis sekundär.
Zentrale religiöse Bedeutung haben auch hier die “Trance-Tänze”, die
anders als beim candomblé nicht der Gemeinschaft als Ganzes betrachtet dienen, sondern einem isolierten Individuum. Geistwesen inkorporieren sich in
den Medien und saugen oder ziehen negative Kräfte aus dem Körper des Individuums heraus, geben Ratschläge und verschreiben den Vollzug bestimmter
Riten. Festgelegte Verhaltensmuster gibt es in den Kulten nicht, aber die umbanda-Medien verhalten sich wohl so, daß man erkennen kann, aus welcher
Linie der inkarnierte Geist, der von ihnen Besitz ergriffen hat, stammt.261
Das Medium kann seine “Rolle” mit individueller Prägung ausführen.
Nach der Trance berichtet kein Medium, was es währenddessen erlebt hat. Die
Geister sollen ganz Besitz von den Personen ergriffen haben, andererseits existieren Berichte von Personen, die nur “teilweise inkorporiert” waren und
sich deshalb verschwommen erinnern können.
Die Trance oder das spontane Auftreten von unkontrollierten Inkorporationen kann unerwartet erfolgen. Danach muß die kontrollierte Trance erlernt
werden. Besondere problematische Situationen im Leben wie schwere Krankheit, Depressionen etc. zählen zu den Auslösern der medialen Fähigkeiten. In
wöchentlichen “Entwicklungssitzungen” in den Zentren werden mediale Inkorporationen geübt.262
Beim candomblé dagegen wird innerhalb einer langen Initiationszeit der
filhas und filhos-de-santo erlernt, cavalho (Pferd) für die orixás zu werden.
Die Initiationszeit bei umbanda wird lokal unterschiedlich, von drei Tagen bis
zu einem Jahr, vorgeschrieben. Auch je nach “Nation”263 existieren verschiedene Prägungen.264
Bei der Kultpraxis sind öffentliche Sitzungen und Feste zu unterscheiden. Darüber hinaus muß jedes Kultmitglied individuelle Riten ausführen, die
sich an den Bedürfnissen der Geister orientieren, die während der Trance in
Erfahrung gebracht wurden. Beim candomblé müssen im Unterschied dazu von
den Initiierten übers Jahr verteilte “Verpflichtungen” gegenüber ihren orixás
ausgeübt bzw. erfüllt werden.
umbanda-Kulten ab, wenn sie caboclo-Geister und pretos velhos bevorzugten und auf die
langwierigen kardezistischen Belehrungen verzichten wollten (Brown, 1986:40).
261
z.B. kann ein Medium humpeln, als ob er oder sie einen Klumpfuß hätte, dämonisch grinsen
und schreien und wird klar als ein Exú erkannt. Ein preto velho wird gebückt am Stock gehen
und Zeichen des Alters haben; etc. Vgl. Koch-Weser (1976:336-340); Brown 1986 u.a.
262
Ausführlich dazu: Figge (1973:85-87).
263
Unter den Nationen versteht man die verschiedenen Ausprägungen der Kulte, die nach den
afrikanischen Ursprüngen benannt sind, z.B. Nagô, Angola etc.
264
Ausführliche Initiationsbeschreibungen siehe: Koch-Weser (1976:341-44) u.a.
112
Das Ritual, die umbanda-Sitzung, beginnt mit der Huldigung von Exú,
mit Kerze und einer geöffneten Flasche Schnaps am Eingang des terreiros. Die
ankommenden Kultmitglieder erweisen ihm ihre Reverenz und schützen sich
gleichzeitig vor ihm, indem sie ihm die Handinnenflächen entgegenstrecken.
Wie beim candomblé ist die Kultkleidung weiß. Der Kontakt mit der Erde wird ebenfalls gepflegt, indem (meistens) keine Schuhe getragen werden.
Die Räumlichkeiten werden dann mit Weihrauch und ähnlichen Räucherutensilien und durch Gesänge, von bösen Einflüssen gereinigt.265
Begleitet von Trommelmusik und Gesängen, werfen sich die Medien
zum Gruß vor dem Altar auf die Knie nieder und berühren erst mit der rechten, dann mit der linken Schulter die Erde. Manchmal wird dann ein katholisches Gebet gesprochen, aber mit Anrufung von Olorum und den orixás.
Die Medien beginnen bei Trommelmusik singend im Kreis zu tanzen.
Vorsänger und Vorsängerin stimmen die Lieder auf die einzelnen orixás ab,
und alle Kultteilnehmer singen und klatschen in die Hände. Es werden dann
Lieder gesungen, welche die einzelnen erwünschten Geister anlocken sollen.
Wie beim candomblé fällt meist der Kultleiter als erstes in Trance, der
dann, während des gesamten Rituals inkorporiert vom schützenden Führergeist, die Regie führen wird. Die Geister, die nach und nach Besitz von allen
anderen anwesenden Medien ergreifen, grüßen den Geist des Kultchefs respektvoll. Danach erhalten sie ihre Kultutensilien und zeichnen auf dem Fußboden mit Kreide bestimmte, den orixás oder caboclos zugeordnete Zeichen.266 Während der Trance treten die verschiedensten Verhaltensweisen der
Tänzer und Tänzerinnen im Körperausdruck auf, verbunden mit lauten Schreien, Zuckungen etc.
Im umbanda, im Gegensatz zum candomblé, soll die Trance nicht so tief
sein. Die Medien verlassen nach dem Ritual das terreiro, während candombléfilhas und -filhos im Dämmerzustand die Nacht dort verbringen sollen. Aber
auch hier sind lokale Unterschiede zu verzeichnen. Beim candomblé erhält ein
Priester oder ein filho nur einen orixá, während umbanda-Medien oft nacheinander mehrere erhalten und sich in den Pausen dazwischen völlig normal verhalten.
Während der Trance beraten die Geistwesen, heilen Krankheiten und
betreiben Wahrsagerei. Die speziellen Kräfte der Geister werden durch Umarmungen und Berührungen übertragen.267
265
Diese defumação, die rituelle Reinigung mit Rauch, wird von Kardezisten z.B. verachtet.
Die Musikinstrumente sind meist denen des candomblé ähnlich, oder es sind die gleichen.
Gesungen und getrommelt wird ohne Unterlaß während des gesamten Rituals, da nur so das
Herabsteigen der Geistwesen ermöglicht wird. Die von da an gesungenen Lieder werden von
den Geistern selbst gewählt, meist in portugiesischer Sprache, teils mit afrikanischen Wörtern
versetzt (siehe Brown 1986:81-92 und Koch-Weser 1976:340-349).
267
Im Unterschied dazu werden beim candomblé die Orakel und Heilungsrituale außerhalb der
öffentlichen Feierlichkeiten, meist gegen irgendeine Art von Bezahlung, durchgeführt (Bastide 1971, Koch-Weser 1976:350).
266
113
Das Ende der Trance wird vom Führergeist des Kultchefs bestimmt, die
Geister werden mit Abschlußliedern verabschiedet, und ein Schlußgebet wird
gesprochen. An den festgelegten Festtagen der orixás des candomblé feiern
und würdigen die umbanda-Kultmitglieder diese ebenfalls. Dies geschieht
meistens außerhalb der terreiros an besonderen Orten, die den orixás geweiht
sind. Sie erhalten dort Opfergaben.268
Die auf dem Altar aufgebauten Gegenstände zeigen das Nebeneinander
und an der Oberfläche scheinbar Vereinigte der verschiedenen religiösen Traditionen. Katholische Heiligenfiguren, afro-brasilianische orixás, das kardezistische Wasserglas und vieles andere mehr schmücken den Altar. Im Ritual
selbst werden kardezistische Weihungen (passes) gespendet und empfangen,
die afro-brasilianischen Gottheiten tanzen, die katholischen Gebete werden
rezitiert, um nur einige Beispiele zu nennen. Brown (1986:84) sieht das
Hauptcharakteristikum in der Ausübung des Rituals in der caridade (port.), der
Nächstenliebe und Güte, die öffentlich von den Medien an die Kultteilnehmer
gespendet wird.269
Der Variationen der Kultausstattungen sind zahlreich, und die Bandbreite der Rituale ist groß. Es ist unmöglich, hier einheitliche Richtlinien aufzudecken.270
2.9.15 Quimbanda
Das Wort quimbanda leitet sich ursprünglich aus dem Wort umbanda ab und
wird heutzutage in Brasilien mit drei verschiedenen Definitionen benutzt: Es
beschreibt besonders wirksame magische Techniken, die in erster Linie eigentlich wertfrei zu betrachten sind. Quimbanda wird aber im Sprachgebrauch
mit individuellem Schadenszauber in Verbindung gebracht und gleichgesetzt.
Zudem wird es für die terreiros benutzt, in denen Schadenszauber und
schwarze Magie angewandt werden sollen. Dem Gebrauch des Wortes haftet
eine gewisse Zweideutigkeit an, die im Zusammenhang mit der Angst und Abscheu vor der schwarzen Magie zu sehen ist. Das Verhältnis der quimbanda zu
umbanda ist sehr komplex, in manchen Fällen symbiotisch in der Praxis, in
anderen existieren radikale Ablehnungen zwischen den beiden, meist basierend auf ihren theoretischen Konzeptionen.271
Scheinbar wird das Wort quimbanda auch von umbanda-Gläubigen als
Schimpfwort benutzt, aber trotzdem werden innerhalb von bzw. nach umban268
Das Tieropfer afrikanischen Ursprungs, das oftmals von umbanda theoretisch abgelehnt
wird, soll allerdings weitverbreitet sein. Wie beim candomblé werden eine Vielzahl von Kräutern, denen heilende und magische Kräfte zugeordnet werden, benutzt (Koch-Weser
1976:353).
269
Sie ist der Ansicht, daß caridade die Unterscheidung zu all den anderen Kulten darstellt. Ich
teile dies Ansicht jedoch nicht, da ich selbst häufig Aspekte von caridade mit individuellen
Einfärbungen sowohl bei candomblé- als auch bei Kardezismus-Ritualen beobachtet habe.
270
Andere Ritualbeschreibungen finden sich bei Bastide (1971; Brown 1986:79-92; KochWeser 1976:333-359; Cantor Magnani 1986:41-48; Kloppenburg 1961) u.a..
271
Vgl. Gerbert (1970:101).
114
da-Ritualen in den Zentren oft quimbanda-Geister angerufen, die besonders
mächtig sein sollen.
2.9.16 Messianische Bewegungen
Seit dem 19.Jahrhundert sind viele verschiedene messianische Bewegungen in
Brasilien bekannt, sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gegenden. Ab
Mitte dieses Jahrhunderts sind sie Forschungsgegenstand verschiedener Ethnologen und Soziologen, deren Anliegen es unter anderem ist, ihre Funktionen
und Klassifikationen aufdecken zu wollen.272
Vorherrschend sind messianische Bewegungen von Indianern, deren Bewegungen autochthon und synkretistisch sein sollen, ländliche Bewegungen
der caboclos273 und gegenwärtige synkretistische Messianismen in den Städten.
Gerbert (1970:23) definiert den Messianismus als Glaube an einen Erlöser, der kommen wird, um die bestehende Ordnung entweder universell oder
für eine einzelne Gruppe zu beenden und eine neue Ordnung der Gerechtigkeit und des Glücks zu installieren, welche die Basis des Messianismus bildet.
Das Erscheinen eines prophetischen Führers soll alle Glaubenspotentiale
seiner Anhängerschaft für dieses Ziel entfesseln. Er stellt, eingebunden in die
jeweilige Mythologie, einen Mittler zwischen der heilbringenden Gottheit und
den Menschen dar. Ihm wird eine große Nähe zu dieser Gottheit zugesprochen,
was oft dazu führt, daß die Gläubigen der Ansicht sind, nur in seiner nächsten
Nähe und Gefolgschaft selbst das “Heil” erfahren zu können.274
Die messianische “Canudos-Bewegung” im nordöstlichen sertão, Ende
des letzten Jahrhunderts, soll als Beispiel für den oft den Bewegungen anhaftenden Fanatismus angeführt werden.275 Der Gründer der Bewegung, António
Conselheiro, Prophet und Wanderprediger im chiliastisch-apokalyptischen Stil,
sammelte eine riesige Anhängerschaft unter der armen, oft Hunger leidenden
Landbevölkerung im ständig dürren Hinterland. Fernab von der Zivilisation,
den Großstädten, konnte sich diese Bewegung ausdehnen. Conselheiro zog mit
seiner Glaubensgemeinschaft Jahre durch die Wüste, um einen Platz für eine
heilige Stadt zu finden und sie dort zu errichten. Die Gemeinschaft zog als
272
Vgl. Ferreira de Queiroz (1958:111-120); Gerbert (1970:23-35); Bastide (1971:495507);u.a..
273
Bauern, oft Mischlinge aus Indianern und Weißen, im Nordosten des Landes, dem sertão
(port.) Hinterland. Der Begriff caboclo ist sowohl für die ländliche Bevölkerung als auch für
die indianischen Ahnengeister gebräuchlich.
274
Ausgebildete Messianismen sollen sich sowohl in afrikanischen als auch indianischen Religionen befinden und zudem in den chiliastischen und apokalyptisch-adventistischen Sekundärformen der christlich-jüdischen Tradition. In der brasilianischen Realität sollen aber die
Sammlungen der afrikanischen Schwarzen in den messianischen Bewegungen immer rascher
verebben (Gerbert 1970:23-25). Weiteres hierzu, vgl.: Mühlmann 1961.
275
Auf die vielen anderen Bewegungen verschiedenster Art und Dauer, die in allen Regionen
Brasiliens auftreten, kann ich hier nicht eingehen.
115
Bußmönche missionierend durch den sertão, bis sie alle gewaltsam vom Militär
niedergemetzelt wurden.276
2.9.17 Die evangelischen Pfingstkirchen
Die protestantischen Bewegungen (Pentecostais) in Brasilien werden als die
am schnellsten anwachsenden Bewegungen der Welt eingestuft, die immer
neue Scharen von Mitgliedern der Unterschichten um sich sammeln.277
Dabei spielt der traditionelle Protestantismus der lutherischen Kirche
eine untergeordnete Rolle,278 ihre Mitgliederzahl steigt dem Bevölkerungswachstum entsprechend. Von den protestantischen Kirchen, die seit dem Ende
des 19. Jahrhunderts in Brasilien missionierten, sind Baptisten, Presbyterianer
und Methodisten die erfolgreichsten.
Das eindeutige Übergewicht liegt jedoch bei der enthusiastischen
Pfingstbewegung,279 daneben ist noch die Minderheit der “Sieben-TagAdventisten” zu erwähnen.
Charakteristisch für die Pfingstkirchen ist zum einen ihre brüderliche,
Autorität vermeidende Struktur mit einem spontanen und charismatischen
Prediger als Führer der einzelnen Gemeinschaften, der in den Predigten seiner
Zuhörerschaft sowohl durch Heilsversprechungen der göttlichen Liebe etc. als
auch durch ekstatische Gesänge anfeuert.280
Zum anderen sind die Heilsversprechungen an Askese jeglicher Art geknüpft, was im einzelnen bedeutet: kein Alkohol und Nikotin, keine Teilnahme
an profanen Festen wie z.B. Karneval, keine Freizeitfreuden wie Tanz und Musik. Der moralische Zusammenhalt der Gemeinschaft und der dazugehörigen
Familien wird betont, und die Arbeitsleistung der Mitglieder soll diejenige anderer Mitglieder der brasilianischen Gesellschaft übertreffen.281
Der typisch puritanische Lebensstil der innerweltlichen Askese ist fester
Bestandteil der Gesellschaftsordnung der Pfingstkirchen. Das Interesse ihrer
Mitglieder an der Welt soll durch ihren religiösen Enthusiasmus entzogen werden. In der Praxis in den Kirchen soll der einzelne seine religiösen Gefühle
offen und ohne Scheu zum Ausdruck bringen, da dies dem heiligen Geist, der
276
Vgl. Queiroz de Ferreira (1958:111-120) und Gerbert (1970:23-35).
Von 1957-1961 stieg der Bevölkerungsanteil derer, die sich zum Protestantismus bekannten,
von 2,86 auf 6,06%. Dies stellt wiederum 52,8 % aller Protestanten im gesamten Süd- und
Mittelamerikaraums dar (Damboriena 1962:16).
278
Einwandererkirchen seit dem 19. Jahrhundert mit deutschen Priestern (Gerbert 1970:61).
Näheres dazu: Camargo 1973:105-150).
279
Die Besonderheit der nordamerikanischen Pfingstkirche kennzeichnet sich dadurch, daß sie
die emotionalen Elemente des Revivalismus der proselytischen nordamerikanischen Kirchen
in einen "ekstatischen Protestantismus des Geistes" übersteigerte (Gerbert 1970:60-64).
280
Vgl. Camargo 1973:150-154.
281
Im brasilianischen Alltag soll dies so weit gehen, daß Arbeitgeber lieber Mitglieder der
Pfingstkirchen als andere Personen einstellen, da sie bekannt sind für Fleiß, Arbeitswilligkeit,
Sparsamkeit und Pflichtbewußtsein und nicht den Müßiggang oder Kneipenbesuche pflegen.
Vgl. Gerbert (1970:65).
277
116
sich kundtut, entspreche. Alle persönlichen Zeugnisse des Glaubens sollen der
Erbauung der Gemeinschaft dienen, indem sie bezeugen, wie der heilige Geist
die Menschen erhört und ihnen seine Gnade gewährt. Die Predigten sind immer der Eingebung des Augenblicks überlassen.282
Die Pfingstkirchen sprechen vorwiegend die brasilianische Unterschicht,
Schwarze wie Weiße, an. Ursprünglich waren die Mitglieder fast nur Weiße,
aber in den letzten Jahrzehnten konvertierten viele Schwarze vom candomblé
oder der katholischen Kirche zu ihnen. Das mag verschiedene Gründe haben.
Gerbert (1970:70) ist der Ansicht, daß die Mitgliedschaft bei den Pentecostais
eine soziale Aufwertung für die Schwarzen bedeutet, da sie innerhalb dieser
religiösen Gemeinschaft mit Weißen verkehren. Zudem sollen bei ihnen, bedingt durch ihre puritanische Sparsamkeit, eine Schulbildung und demzufolge
spätere Berufsaussichten, ermöglicht werden.283 Außerdem weist die Wassertaufe der Pentecostais, die “Geisttaufe”, bei welcher der Heilige Geist herabsteigt, Ähnlichkeiten zum candomblé und dem Erscheinen der orixás auf.284
Das exorzistische Handauflegen während des Gottesdienstes, das Linderung der Leiden bringen soll, soll als therapeutische Funktion zur weiten Ausbreitung der Pfingstbewegung beitragen. Ansonsten wird die Bekehrung zum
rechten Leben, das alle Leiden vermindert, einer Behandlung von Kranken
vorgezogen. Die gleichen, auch der Anhängerschaft des Spiritismus zugrundeliegenden Bedürfnisse nach emotionaler Erfahrung des Übernatürlichen sollen
gleichermaßen von Pfingstkirchen und Spiritismus erfüllt werden.
Gerbert (1970:79) ist der Meinung, daß der Zustand der “ekstatischen
Euphorie” während der Geistbesessenheit die Mitglieder aus dem Elend des
Alltags erhebt. Außerdem soll der Pfingstkirchler ein ausgeprägtes Machtgefühl entwickeln, da er sich als “Instrument des Geistes” ansieht. Er könne seine politische und wirtschaftliche Machtlosigkeit kompensieren, sogar überkompensieren, indem er die konventionellen Kriterien sozialer Differenzierung
- wie Reichtum, Bildung, Beruf - nicht selten als Erscheinungsformen des
sündhaften Erdenlebens der anderen interpretiert.285
Die Gläubigen fliehen in ihre Gemeinschaft der emotionalen Heilsgewißheit und erwarten die Erlösung durch die bevorstehende Ankunft Christi
möglichst bald und damit den Anbruch einer jenseitigen goldenen Zukunft.
Durch die “transzendentierenden Ewigkeitskirchen” scheint ihnen ein erfolg-
282
Die Pfingstbewegung in Brasilien besteht vorwiegend aus den beiden Gemeinschaften der
"Assembléias de Deus" und der "Congregação Cristá". Illuminismus, Geistbesessenheit und
spiritistische Trance und "Wunder" sind Bestandteile, von beiden anders bewertet und gewichtet, auf die ich jedoch nicht näher eingehen werde. Vgl. Gerbert (1970:67-82).
283
Vgl. ebenfalls Bastide 1971:476-518).
284
Dies läßt die beiden gängigen, im Widerspruch zueinander stehenden Interpretationen zu, die
Schwarzen versuchten, in den Pentecostais Afrika zu finden, als auch, es abzuschütteln und
bestimmte Glaubensformen durch andere, gesellschaftlich höher bewertete, zu ersetzten.
285
Vgl. Gerbert (1970:79).
117
versprechender Fluchtpunkt aus ihrem Leben in sozialer und wirtschaftlicher
Not und dessen Ausweglosigkeit geboten zu werden.286
2.9.18 Der brasilianischen Kardezismus
Als Begründer des Spiritismus gilt Allan Kardek. Dieser Name ist das Pseudonym von Hippolyte Léon Denizard Rivail (1804-1869). Er war ein französischer
Arzt, stammte aus bürgerlichem Milieu und war bei Johann Heinrich Pestalozzi
wissenschaftlich ausgebildet worden.
Kardek schloß sich der damals modischen spiritistischen Bewegung an,
die sich mit Methoden der Geisterbefragungen und des Tischrückens beschäftigte. Der spiritistische Zirkel, dem er beitrat, wurde von Mme. S’Abunnour
geleitet, die zuvor in Amerika gewirkt hatte. Die Grundlagen des Spiritismus
basieren auf Anton Mesmers (1733-1815) Magnetismus- und Fluidologiethesen.
Der nach Mesmer benannte “Mesmerianismus” definierte Strömungen und
“tierischen Magnetismus” sowie “provozierten Somnambulismus”. Diese Kräfte
seien für spiritistische Sitzungen nutzbar zu machen.
1853 wurden, beeinflußt aus Nordamerika, die ersten “wackelnden und
tanzenden Tische” in Paris berühmt, die durch Geisterhände oder Kräfte in
Bewegung gebracht worden sein sollten. Rivail alias Kardek und andere experimentierten mit vielen verschiedenen Arten der Kommunikation mit Geistern.
“Mediale” Fähigkeiten waren dazu unabkömmlich und wurden trainiert.287
Kardeks Werk ist stark geprägt von christlicher Religion, er definierte seine
Lehre als eine Mischung aus Religion, Philosophie und Wissenschaft. 1858
gründete Kardek in Paris das erste spiritistische Zentrum.288
Nicht lange danach gelangte der Spiritismus nach Brasilien, und Interessierte bildeten informelle kleine Gruppen. Mit Luiz Olimpio Teles de Menezes
begann die erste Institutionalisierung. 1865 realisierte er die erste spiritistische Sitzung in Salvador und gründete kurz darauf die Gruppe “Grupo Famíliar
do Espiritismo”. 1869 veröffentlichte er die erste spiritistische Schrift in Salvador.289
Kardek definiert Spiritismus als Glauben an die Manifestation von Geistern, verbunden mit aktiver Kontaktaufnahme der Menschen mit ihnen unter
Zuhilfenahme von medialen Fähigkeiten. Beschwörungen und mediale Provo-
286
Vgl. Gerbert (1970:80-82).
Vgl. Kloppenburg (1991:16-18 und 121-139).
288
Gerbert 1970:50 ist der Ansicht, daß die Entstehung des Spiritismus in Europa sich geistesgeschichtlich als Gegenschlag gegen eine rationalistisch-naturwissenschaftlich verengte Weltsicht wendet, die am "Jenseits des Todes" zwar dogmatisch festhielt, für deren Leben aber allein die Erfahrung des "immanenten" Experiments Bedeutung hatte. Der Kardezismus versuche, durch das Experiment der medialen Erfahrung die verlorengegangene Dimension zurückzugewinnen. Der Kardezismus wollte sich in Europa nicht als Religion verstanden wissen, im
Gegensatz zu seiner späteren Form in Brasilien. Das synkretische philosophische System des
europäischen Kardezismus hat Anleihen beim Christentum und den asiatischen Religionen
gemacht.
289
aus Leal Braga 1975.
287
118
kationen sind bei Spiritisten zur Geistermanifestation unabkömmlich. Im Gegensatz zu den Spiritisten praktizieren die Spiritualisten nicht diese Arten von
Kontaktaufnahme zu den Geistern, glauben jedoch gleichermaßen an sie.290
2.9.18.1
Kardezistische Kosmologie
Gott hat die Welt erschaffen und sie mit den ewigen Gesetzen der Materie
ausgestattet.291 Eine zweite Ordnung, die das geistige Prinzip beinhaltet, ist
nicht-materiell und auf einem unsichtbaren Astralplaneten lokalisiert. Deren
Gesetzmäßigkeiten zu erkennen ist die Aufgabe des Kardezismus.
Welt und Kosmos werden von Geistern bewohnt, die eine von Gott bestimmte Entwicklung durchlaufen müssen. Dieser göttliche Plan ist das Karma.
Die Evolution der Geister erfolgt durch Reinkarnation. Auf der Erde leben die
“unperfekten Geister”, die oft primitiv, ignorant, egoistisch und böse sind.
Aber auch gute Geister, die wohlwollend Nächstenliebe praktizieren, sind hier
in materielle menschliche Körper inkarniert.
Der Geist verbindet sich durch einen Astralleib mit dem Körper, der
diesen mit einer Aura umgibt. Die Aura definiert die Persönlichkeit, in ihm ist
sein Karma, seine Mission enthalten, der göttliche Plan, den der Mensch zu
verwirklichen hat, um sich weiter zu entwickeln.
Als nächstes existieren auf höheren Ebenen verschiedene Stufen von
Engeln, Erzengeln, Cherubinen, Seraphinen und Führer-Geistern, die Gott immer näher kommen. Aller Ziel ist es, Gott gleich zu werden. Diejenigen, die
den Plan soweit erfüllt haben, daß sie sich nicht neu inkarnieren müssen, leben zusammen auf einem Astralplaneten, wo sie sich weiter vervollkommnen.
2.9.18.2
Kardeks Doktrinen und deren Werdegang
in Brasilien.
Die wichtigsten Werke Kardeks: “Das Buch der Geister”, “Das Buch der Medien” u.a., die ihm von dem “wahrhaftigen Geist” eingegeben worden sind,
enthalten die kardezistische Doktrin und stellen die Basis zum Verständnis des
Spiritismus dar.292 Diese Schriften wurden in Brasilien ins Portugiesische übersetzt.
290
Kloppenburg (1991:26) vertritt die These, daß Katholiken Spiritualisten sind, die an spontane Manifestationen von Geistern glauben. Spiritisten beschwören im Gegensatz dazu die Geister von Verstorbenen, was Katholiken nicht tun.
291
Diese Gesetze werden von den Naturwissenschaften erforscht.
292
Allan Kardek: O livro dos Espíritos 1857; O livro dos Médiuns 1861; O Evangelho segundo
o Espiritismo 1864; O céu e o inferno 1865; A génese 1858;
Pires 1964 und Wantuil 1969, Camargo 1991 und Kloppenburg 1960, beschäftigen sich mit
der Interpretation von Kardeks Lehren . Dabei ist bei Pires die Analyse der damaligen geistigen Strömungen, unter deren Einfluß Kardeks Werk entstand, von Bedeutung.
Auf die diversen Streitigkeiten über Doktrin und Inhalte des Spiritismus von Seiten der Anhängerschaft werde ich hier nicht eingehen.
Extrakte aus Kardeks Lehren Leal Braga (1975:23-39).
119
Kardek gab ab 1858 in Paris die Zeitschrift “Revue Spirite” heraus, in
der er selbst bis zu seinem Tod 1869 seine Gedanken und Interpretationen zu
den geistigen Eingebungen veröffentlicht hat. Diese Zeitschrift wird bis heute
von seiner Anhängern herausgegeben.
Diverse Streitereien mit der katholischen Kirche verhinderten nicht die
Ausbreitung des Spiritismus. Die Verbreitung wurde dadurch vereinfacht, daß
die Spiritisten ihren Anhängern erlaubten, mehrere Religionen gleichzeitig
auszuüben. Viele der Katholiken, die Anhänger des Spiritismus wurden, gaben
dies nicht öffentlich an und bezeichneten sich offiziell als Katholiken.293 Die
Spiritisten vertraten die religiöse Position, daß sie den Prinzipien und Gesetzen des Katholizismus als der offiziellen Volksreligion folgten.
Es formierten sich in der Folgezeit zwischen 1890-1900 elf andere spiritistische Zentren in den großen Städten Brasiliens. Zwischen ihnen herrschte
ein reger Austausch. Viele neue Mitglieder wurden angeworben, und größere
Meinungsunterschiede entstanden zwischen ihnen. 1884 wurde die “Federação
Espírita Brasileira”, ein übergeordneter spiritistischer Verband mit Basisregeln
für alle Zentren, gegründet, der bis heute besteht.294
Von 1900 bis 1951 entstanden, unter anderem selbst im Amazonasgebiet, einundzwanzig neue größere Zentren, die sich unabhängig von der “Federação Brasileira” orientierten. Anfänglich ging sämtliche Orientierung von
Kardeks Dogmen aus, dem orthodoxen Kardezismus. Modifikationen entstanden, bedingt durch die Verbreiter der Lehren, anwachsende Mitgliederschaft
und örtlich unterschiedliche Entwicklungen.
1940-50 verdoppelte sich die Mitgliederzahl, danach ging sie proportional zur ansteigenden Bevölkerungszahl in die Höhe, blieb aber konstant bei 2%
der Gesamtbevölkerung. Von den Städten, in Bahia von Salvador ausgehend,
verbreitete sich der Spiritismus ins Landesinnere. Viele “Nichtanhänger” besuchen spiritistische Rituale, so daß über genaue Zahlen keine Auskunft zu beziehen ist, ebenso fehlen Statistiken, in denen die Häufigkeit von Besuchen
der Zentren von Nichtmitgliedern dokumentiert ist.
Der größte Einfluß, der auf die brasilianischen Spiritisten einwirkte,
kam aus dem Land selber. “So, wie die Praktiken der Kultfetischisten, eingeführt nach Brasilien von den afrikanischen Sklaven, den Katholizismus
293
Dadurch ergeben sich statistische Probleme, um die exakte Zahl der Anhänger festzustellen.
Diese Probleme bestehen heute noch, da viele Bahianer und Brasilianer Anhänger mehrerer
Religionen oder Sekten sind. Zum Teil liegt dies in der brasilianischen Geschichte begründet,
da die Ausübung der afrikanischen Religion (candomblé) während der Sklaverei verboten
war. Die Schwarzen bezeichneten sich als katholisch, übten aber ihre Religion aus, später waren viele gleichzeitig Anhänger des candomblé und des Katholizismus. Weitere Mischungen
entstanden mit den nordamerikanischen Pfingstkirchen.
294
Leal Braga 1975:40-44.
120
beeinflußten, so übte auch der fetischistische Kult großen Einfluß auf den Spiritismus aus.” Das war der Ursprung für den “spiritismo de umbanda”.295
Die Kardezisten wollten nicht, daß die umbanda-Anhänger sich ihnen
anschlossen. Darum formulierten sie, daß sie die “wahrhaftige Spiritisten”
seien. Sie waren der Ansicht, daß die candomblé- und umbanda-Medien andere Geister empfangen würden als die von Kardek akzeptierten achtundvierzig.
Im Laufe der Jahre sind unterschiedlichste Zentren entstanden, die zum Teil
von sich sagen, daß sie sowohl kardezistische als auch umbanda-Praktiken
ausüben.
Die heute existierenden kardezistischen Zentren unterscheiden sich außerdem durch andere Charakteristika. Bei manchen steht die Philosophie im
Vordergrund, bei anderen die Moral, und wieder andere beschäftigen sich
mehr mit den „wissenschaftlichen“ Werken Kardeks. Die Praktiken werden
individuell abgestimmt, in unterschiedlicher, aber ähnlicher Art und Weise
praktiziert.
Vor allem die Botschaften eines neueren brasilianischen Mediums und
Spiritisten Chico Xavier (Francisco Candido Xavier) bewirkten große Verbreitung der Lehren bei Mitgliedern aller sozialen Schichten, da sie für alle verständlich waren.296
Ferreira de Camargo (1961:7) stellte eine Liste mit zehn Erkennungspunkten für den “Idealtypus” des orthodoxen kardezistischen Spiritismus zusammen. Damit beabsichtigte er, ihn von allen vorhandenen spiritistischen
Mischformen abzugrenzen.297
1. Möglichkeit der Kommunikation mit nichtfleischlichen höheren Wesenheiten (desinkarnierten Geistern). Die Kommunikation dient der wechselseitigen Förderung
sowohl der fleischlichen Menschen als auch der Geister.
2. Glaube an Reinkarnation. Alle Geister wollen sich vollenden. Die Reinkarnationen
dienen diesem Läuterungsprozeß. Eine neue Inkarnation stellt eine Bewährungsprobe
dar. Sie ist durch das Gesetz des Karma bestimmt, und Versäumnisse aus früheren
Existenzen können nachgeholt werden.
3. Alles Handeln steht in einem weltimmanenten Kausalitätszusammenhang. Dieses
Gesetz der Ursache und Wirkung besagt, daß man nicht vor den Konsequenzen der
menschlichen Taten fliehen kann. Es ist die spiritistische Variante des traditionellen
hinduistischen Karmagesetzes, dessen unentrinnbarer Vergeltungskausalität gute wie
böse Taten unterworfen sind.
295
In der gegenwärtigen Literatur in Brasilien ist es leider oft immer noch üblich, vom "Fetischismus“ und Aberglauben, etc. der Schwarzen zu sprechen, nach der Tradition von Rodrigues 1900 und Bastide 1945 und die Formen der Religion der Schwarzen zu diskriminieren.
Siehe Leal Braga (1975:48), die den Begriff ohne Reflexion verwendet. Leal Braga beläßt es
dabei, von "kultischem Fetischismus" zu sprechen, wenn sie die Religionen afrikanischen Ursprungs erwähnt. Meines Erachtens eine grobe Fahrlässigkeit, die einem nicht unterlaufen
sollte, wenn man den Anspruch erhebt, Religion und Gesellschaft zu analysieren.
296
Leal Braga (1975:49).
297
Gerbert (1970) fügte dazu Punkt 10 hinzu.
121
4. Glaube an eine Pluralität bewohnter Welten. Jede untersteht einem eigenen Plan für
die „spirituelle“ Weiterentwicklung. Nach der spiritistischen Deutung wird die Erde
als Planet der Sühne und Buße angesehen. Alle Welten stellen Stufen im Prozeß der
Vervollkommnung der Geister dar, und die Erde nimmt einen der untersten Plätze
ein.
5. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen und
keinen zwischen Wissenschaft und Religion. Auf die Versöhnung dieser Bereiche
wird großer Wert gelegt.
6. Der Begriff der Gnade wird eliminiert. Der relative Prozeß jedes Individuums hängt
ausschließlich vom persönlichen Verdienst ab, der in vergangenen Inkarnationen erworben wurde. Der Aufstieg in der Rangordnung der Geister ist keineswegs eine
Wirkung der Gnade, sondern resultiert allein aus den Verdiensten, die in der
Aufeinanderfolge der Inkarnationen erworben werden.
7. Die Liebe (Nächstenliebe, Mildtätigkeit) ist eine prinzipielle Kunst, vielleicht einzigartig, und sie wird gleichermaßen von Lebenden und Toten oder Fleischlosen, wie
die Kardezisten zu sagen pflegen, geübt. Unter Berufung auf Jesus wird das ganze
Sittengesetz im Gebot der Nächstenliebe zusammengefaßt. Liebe bestimmt die Beziehungen zu Freunden, Feinden, Lebenden und Toten (desinkarnierten Geistern).
Der desinkarnierten Geister wird gedacht, und sie werden angerufen, dadurch erfahren sie Linderung ihrer Not bzw. Steigerung ihrer Seligkeit.
8. Gott, die höchste Existenz, ist (von der Erde aus gesehen) das entfernteste Wesen. Er
lenkt die Welten, aber zwischen ihm und den Menschen liegt eine unermeßliche Distanz. Er ist ein verhüllter Gott, dessen Wesen kaum zu erahnen ist.
9. Die den Menschen am nächsten stehenden Geister sind die sogenannten Führer, die
sich im spiritistischen Kult offenbaren und den Menschen mit Liebe helfen. Neben
den guten gibt es allerdings auch “böse” Führer.
10.Jesus gilt als der höchste inkarnierte Geist. Dies bestimmt das Verhältnis zum Christentum und der Offenbarung der Schrift. Das Evangelium wurde von Kardek, seiner
spiritistischen Tradition folgend, neu interpretiert. Jesus hat die erste Offenbarung
des Alten Testaments, die durch Moses repräsentiert wird, in einer zweiten Offenbarung vollendet und dem Verständnis seiner Zeit angeglichen. Er deutete manchmal
an, daß Worte erst einem späteren Verständnis zugänglich seien. Von den Kardezisten wird dies so interpretiert, daß der Spiritismus diese dritte Offenbarung leistet
und dies nicht in der Inkarnation einer einzelnen Person geschieht, sondern in den
fortlaufenden Kundgebungen der Geister durch die Medien.298
Um die Jahrhundertwende entstanden in Salvador allein zwölf neue
kardezistische Zentren, welche die ersten vier Zeitschriften der Bewegung
veröffentlichten. Da es an Einheit in der Bewegung mangelte, verloren sie
zeitweilig Anhänger. 1915 trat José Petitinga für eine neue Einheit ein und
gründete in Salvador das bis heute bestehende Zentrum Federação Espírita da
Bahia. Hier existiert eine Bibliothek, ein spiritistischer Buchhandel, die Verwaltung mit Register, und wie in allen Zentren werden Mitgliederversammlun298
Gerbert (1970:50) deutet den großen Anklang, den der Kardezismus in den Großstädten Brasiliens findet, wie folgt: Die spiritistischen Lehren genügen in leicht zugänglicher Weise, aber
zugleich mit dem Pathos der Wissenschaftlichkeit, den Ansprüchen, die der Aufbau einer modernen Weltanschauung und Weltordnung an ein philosophisch-religiöses System stellt. Vgl.
auch Camargo 1961
122
gen, Konsultationen und passes (eine bestimmte Form von Weihungen) abgehalten.
Institutionen in der Art der kardezistischen Vereinigungen sollen sich in
drei Niveaus unterteilen lassen: das intellektuelle Niveau, das der Kulte und
das ihrer Organisation. Das intellektuelle Niveau richtet sich nach den religiösen Glaubenssätzen und wird innerhalb der Organisation kultisch praktiziert.299
2.9.18.3
Kardezistische Praktiken in den Zentren
Die Atmosphäre in den Zentren wird als nicht-alltäglich beschrieben. In den
Sälen, in denen die Belehrungen abgehalten werden, ist das Licht meist abgetönt, die Wände der Räume sind in warmen Farben gestrichen, das Pult der
Doktrinierenden mit Tüchern abgedeckt, und es wird sanfte Hintergrundmusik
gespielt.
Vorne am Rednerpult, wo auch die Wassergläser stehen, welche die
Schwingungen der Sitzungen erhalten sollen, sitzt die oder der Vorsitzende,
umgeben von verschiedenen Assistenten. Es wird leise und freundlich gesprochen, vor Beginn der Belehrung werden die Ankömmlinge mit Händeschütteln,
Küßchen300 und anteilnehmenden Worten begrüßt und zu ihren Plätzen geleitet.301
Meist beginnt die Session mit dem “Ave Maria” von Gounod, dem andächtig gelauscht wird. Die Bedeutung der Harmonie wird von den Leitern
immer wieder betont, und der Vortrag ist darauf abgestimmt, inhaltlich wie
auch in Stimmlage und Wortlauten. Nach den letzten Klängen der Musik werden Passagen aus dem Evangelium von Kardek oder den Botschaften von André
Luís, dem Geistwesen, das seine Botschaften dem Medium Chico Xavier
vermittelt, vorgelesen. Manchmal wird auch mit der Rezitation des Gebets des
katholischen “Vater Unser” begonnen.302
Während der Sitzungen, bei denen erleuchtete oder lichtbringende
Geistwesen und geistige Führer erscheinen, geben die Assistenten und Leiter
deren gute Vibrationen in Form von passes (eine Form der Heilung oder Reinigung mittels Handauflegen bzw. Berühren der den Menschen umgebenden Aura) an die Gemeinschaft weiter. Dabei ist es nicht unbedingt nötig, daß die
bedürftige Person, welche die guten Vibrationen erhalten soll, anwesend ist.
Die passes basieren auf magnetischen Kräften, die von den Medien oder den
299
Vgl. Leal Braga (1975:59).
Brasilianische Begrüßungsnorm zwischen Sich-Wohlgesonnenen: auf beide Wangen einen
Kuß geben.
301
Vgl. Viveiros (1983:53).
302
Siehe Viveiros (1983:53-55).
300
123
Geistern beeinflußt werden können, im positiven wie im negativen Sinne. Sie
wirken auf die inneren Strömungen des menschlichen Körpers ein.303
Bei den passes wird der Körper der Empfangenden berührt, sanft über
die Punkte der Chakren gestrichen und die Hände auf Kopf, Stirn oder beides
aufgelegt, damit das Licht von oben hier eindringen kann. Manchmal geschieht
die Behandlung ohne direkte Berührung, sie wird dann in dem den Menschen
umgebenden Astralleib ausgeführt. Manchmal flattern die Hände der “Lichtgebenden” vor den Körpern der Empfangenden unruhig auf und ab, um die
bösen Geister zu vertreiben oder Blockaden in den Chakren zu lösen, damit
die guten Energien eindringen können. Mit den passes und anderen Praktiken
soll das Heilige, das Licht, in die Welt integriert werden.
Die Lehren werden meist in einfacher Sprache abgehalten und mit Beispielen aus dem Alltag ausgeschmückt, welche die meisten der Anwesenden
ansprechen.
Alle Autoren sind sich einig, daß Praktiken der Materialisierung von Gegenständen, direkte Rede der Geister aus dem Mund eines Mediums, schriftliche Mitteilungen eines Geistes durch die Hand eines Mediums und Bewegung
von Objekten nicht öffentlich sind und nur selten abgehalten werden.304
Nach Kardeks Lehren gibt es verschiedene mediale Fähigkeiten, die
teils angeboren sind, teils der Entwicklung bedürfen, alle aber können und
sollen geschult werden. Zudem sagen sie, es sei der Wunsch der Geister nach
Kommunikation mit den Menschen, dem die Medien mildtätig nachgegeben.
Verschiedene Medien können unterschiedliche Funktionen für die Gruppe und
die Geister erfüllen.305
Die Geistwesen werden zu allen spiritistischen Praktiken benötigt, zu
Heilungsritualen, Konsultationen zu Fragen und Problemen, für alltägliche
Weihungen und Reinigungsrituale, zur Diskussion über philosophische und
doktrinäre Probleme. Neben den guten existieren böse Geister, die verhindern, daß Heilungen eintreten, die falsche Botschaften vermitteln können und
Zentrumsaktivitäten stören können. Indem man gute Dinge für leidende Geister tut, kann man sie erlösen oder dazu beitragen.306
Je nach medialen Fähigkeiten äußert sich die Kontaktaufnahme zu den
Geistern unterschiedlich. Sie können gehört oder gesehen werden, können
sich in Klopfzeichen äußern, durch Rumpeln, Gläser- und Gegenständerücken
sowie durch andere Formen. Aus den 20er Jahren existieren Photos von einigen Geistern, die von einem medial veranlagten Photographen aufgenommen
303
Mit den passes werden geistig oder/und körperlich therapeutische Funktionen beabsichtigt.
Deshalb müssen die Medien so ausgebildet sein, daß sie nur "Vibrationen" von guten Wesenheiten weitergeben. Die Gefahr, daß sie Opfer "perverser" Geister werden, ist bekannt (Ferreira de Camargo 1961:24).
304
Vgl. Ferreira de Camargo (1961:23); Leal Braga (1975); Viveiros (1983:52-55).
305
Vgl. Leal Braga (1975:76).
306
Vgl. Leal Braga (1975:67-87) und Kardek (1903): Das Buch der Geister.
124
wurden, dem Wunsch der Geister folgend. Die Geister wiederum haben verschiedene Fähigkeiten wie z.B. manche die Materialisierung von Dingen. In
bestimmten zeitlichen Perioden werden unterschiedliche spiritistische Praktiken ausgeübt, z.B. war um die Jahrhundertwende das Gläserrücken en
vogue.307
Nach der Bestimmung der FEB (Federação Espíritistica Brasileira) werden die Gruppen der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen unterschiedlich
unterrichtet. Die Dauer der Unterweisung von Erwachsenen, um Schülern die
kardezistischen Lehren weitergeben zu können, beträgt vier Jahre. Kindern
soll das kardezistische Evangelium beigebracht werden, damit sie nicht dem
Materialismus unterliegen und sie moralisch im Sinne von Kardeks Lehre gefestigt werden. Die Familie als Einheit und informelle Institution der kardezistischen Religion wird in den Mittelpunkt gestellt. Die Unterweisungen, teils zum
Erkennen von “positiven kardezistischen Werten”, und die Ethik der medialen
Fähigkeiten sollen das “profane” Leben der Anhängerschaft beeinflussen.308
2.9.18.4
Salvadors kardezistische Zentren
Es existieren in Salvador organisierte Zentren, wo sich Mitglieder anscheinend
regelmäßig treffen, und kleine häusliche (informelle) Gruppierungen, bei denen die Teilnehmer mit einem größeren Zentrum309 verbunden sind. Dementsprechend variieren die Mitgliederzahlen von den insgesamt in Salvador erfaßten kleinen und großen Zentren von vier bis zwanzig bzw. 1500 bis 3000. Die
Gesamtzahl der erfaßten Spiritisten betrug im Jahre 1975 11.348.310
So wie dem Kardezismus hierarchische Strukturen der Geistwesen
zugrunde liegen, sind gleichfalls hierarchische Züge innerhalb der Zentren zu
erkennen. Alle Zentren sind durch hierarchische Strukturen gekennzeichnet.
An der Spitze befinden sich die Leiter und Gründer, es folgen die Assistenten
und Lehrer, und die breite Basis bilden die Mitglieder. Je nachdem wie weit
die medialen Fähigkeiten der einzelnen ausgebildet sind, nehmen sie unterschiedliche Ränge und Funktionen ein.311
Die Beziehungen zwischen Klienten und Medien sind meiner Ansicht
nach ebenfalls hierarchisch strukturiert. Die Klienten suchen Hilfe, und die
Medien können dementsprechend Macht über sie ausüben, sie manipulieren
sie, und meistens sind die Klienten, wenn auch nur moralisch, zu Dank ver-
307
Vgl. Leal Braga (1975:77) und Kardek (1907).
Ferreira de Camargo (1961:29-31 und 63).
309
Ich besuchte in Salvador häufiger eines dieser Zentren und erlebte immer zwischen zwanzig
und fünfzig Teilnehmer, vorwiegend ältere Frauen. Überhaupt bei allen religiösen Ritualen,
die ich besuchte, war die Anzahl der Frauen größer als die der Männer. Eine theoretische
Auseinandersetzung hiermit würde jedoch den Rahmen meiner Arbeit sprengen.
310
Vgl. Braga (1975:61). Hier stellt sich m.E. die Frage, ob die Mitglieder von häuslichen kleinen Gruppen, die gleichzeitig Mitglieder von großen Zentren sind, nicht einfach doppelt erfaßt wurden. Nach meinen Umfragen sind die Mitgliedschaften bis heute angestiegen, jedoch
ist die genaue Zahl schwer zu erfassen.
311
Vgl. Leal Braga (1975), Viveiros (1983:55-59) und Ferreira de Camargo (1961:62).
308
125
pflichtet. Die Interaktion zwischen Medien und Klienten ist die zentrale Funktion der Zentren.
Die “Patronagen Beziehungen”, die Brown (1986:167-195) in umbandaBewegungen darstellt, sind meiner Ansicht nach vergleichbar mit den Beziehungsformen innerhalb der kardezistischen Zirkel.312 Die Klienten sprechen
davon, daß sie in die Zentren kommen, um einen Patron zu suchen (buscando
patrão), der ihnen hilft, ihre Probleme zu lösen. In Interviews erzählen die
Besucher der Zentren, daß die Führer wie Väter sind.
Im umbanda existiert ebenfalls eine “transzendente Patronage”. Spiritistische Kräfte sollen zum Heilen und Helfen aus ihren Sphären herabsteigen
und werden dafür mit Loyalität und Würdigungen belohnt. Dies ist den Praktiken der Kardezisten vergleichbar. Viele der Medien und Klienten haben ihren
“Patron Spirit”, ihr Schutz- und Führergeistwesen, mit dem sie die beschriebene Beziehung von gegenseitigen Gaben und Verpflichtungen sowohl bei umbanda als auch beim Kardezismus, gestalten. Die kardezistischen Gaben an die
Geister sind jedoch nicht materieller Art, sondern Formen von Verehrungen,
Gebeten und Huldigungen.313
Hauptbeschäftigung in den Zentren soll Unterweisung, soziale Fürsorge,
Heilung und Entwicklung der medialen Fähigkeiten sein. Motive der Besucher,
welche die Zentren frequentieren, seien: zu 49% gesundheitliche Probleme, zu
12% „spirituelle“ Stärkung und unter 10% Familienprobleme, Suche nach „spiritueller“ Entwicklung, Neugierde, finanzielle Probleme, Arbeitsprobleme
etc.314
Es kann zwischen Aktivitäten zum Studium, zur spiritistischen Praxis
und assistentiellen (sozialen Hilfeleistungen) Aktivitäten unterschieden werden. Die erste Gruppe umfaßt öffentliche Versammlungen, Einführung in die
kardezistische Doktrin, “brüderliche Anhörungen”, Versammlungen der Jugend
und private Versammlungen.
Diese kann man wiederum unterteilen in: passes (verschiedene Formen
von Weihungen der Klientel) - Behandlungen durch Medien, Sitzungen zum
Entwickeln
der
medialen
Fähigkeiten,
Sitzungen
zur
“irradiação”(Ausstrahlung, Ausbreitung) und Sitzungen zur Geisteraustreibung.
Die Sitzungen der assistentiellen Aktivitäten lassen sich wiederum unterteilen in: Hilfe für leidende Familien, verschiedenartige Hilfen, den “bazar
312
Brown ebd. erwähnt die charakteristische Struktur Brasiliens als "Clientelist State", früher
auf den Hazienden, später zwischen Arbeitgebern und -nehmern in den Städten. Später fanden
sich "patronage relations" in der Politik auch in der Zeit der Militärdiktatur wieder. Die Möglichkeiten von beruflichen Karrieren in allen gesellschaftlichen Schichten sind meist an "Patronage" geknüpft.
313
Brown (1986:189) vergleicht diese Strukturen mit den bekannten des ruralen Populärkatholizismus und den Beziehungen zu den Heiligen, die von der Landbevölkerung in ähnlicher Weise gepflegt werden.
314
Leider ist die Tabelle sehr unsystematisch. Fast alle Besucher haben unter anderem Gesundheitsprobleme. Vgl. Leal Braga (1975:65-67).
126
de caridade” (Mildtätigkeit und Herzlichkeit walten lassen), Nähkurse, im Fall
von einigen Zentren sowohl in Rio de Janeiro als auch in Salvador und zentrumsinterne Organisationsarbeiten.315
Zwischen der Realität, der Frage, welche Praktiken im einzelnen in den
verschiedenen Zentren ausgeübt werden, und dem spiritistischen Ideal nach
Kardeks Lehren existieren Unterschiede. Manche Zentren spezialisieren sich
auf einige Praktiken, entsprechend den Möglichkeiten und Bedürfnissen der
Gruppen und entsprechend der Medialität ihrer Mitglieder und Leiter.
Die sessões de passes (Weihungssitzungen) sind eine Transmission und
Polarisation von Energien eines Geistes mittels der Medien an kranken Personen. Nach meinen eigenen Beobachtungen werden sie aber nicht nur Kranken,
sondern allen Teilnehmern gespendet. Ein guter Geist kann sich auch in der
kranken Person inkorporieren und die nötigen Energien in dieser Art spenden.
Die Zentren sprechen von unzählbar vielen Erfolgen durch die passes. Voraussetzung ist die moralische Eignung des Mediums sowie Kenntnisse über Energieflüsse im Körper des Menschen. Wenn die Geister, mit denen behandelt
wird, schlecht sind, nützt die Anwendung nichts, und der Krankheitszustand
bleibt bestehen.316
Wenn z.B. über Arbeit und das Verhältnis zur Arbeit gesprochen wurde,
wählte die Leiterin Beispiele aus dem Bereich der Haushaltstätigkeiten, weil
fast nur Hausfrauen zu diesem Termin erschienen waren. Sie fragte die Frauen, wie sie sich beim Geschirrspülen fühlen, riet ihnen, jede Bewegung mit
Hingabe und Liebe zu verrichten, Arbeit als eine Form von Dienst am Nächsten
und Dienst an Gott zu betrachten. Sie hatte weitere Beispiele wie Kochen,
Einkaufen etc. und diskutierte an jedem einzelnen Beispiel das gleiche Thema. Die Sitzung allein dazu erstreckte sich über zwei Stunden.
Die Unterweisung wird mit dem Trinken von geweihtem Wasser beendet, das die Vibrationen, die während der Session entstanden sind, enthält.
Diesem Wasser werden heilende Fähigkeiten zugesprochen. Zum Abschluß
wird die Musik lauter, zum Teil wird noch ein Gebet gesprochen, und jeder
Anwesende erhält von den Leitern und deren Assistenten passes.317
2.9.18.5
Beschreibung der Motive der teilnehmenden Mitglieder bei den Kardezisten
Die Mitgliederschaft der kardezistischen Zentren besteht aus aktiven Mitgliedern wie Führern, Personen mit assistentiellen Funktionen wie Lehrern u.a.,
Medien und passiven Mitgliedern, nach deren Motiven zu fragen ist. Drei Gruppen der Unterrichtseinheiten in den Zentren bilden die Basis: Schulungen zu
medialen Fähigkeiten, zur “Evangelisierung” und zum Erlernen der Fähigkeit,
315
Viveiros (1983:63-80) beschreibt hier die verschiedenen Aktivitäten, die aber von mir nur
kurz zusammengefaßt werden können.
316
Vgl. Leal Braga (1975:90-91) und Viveiros (1983:64-79)
317
Vgl. Leal Braga (1975:94-95) und Viveiros (1983:70-80).
127
passes weiterzugeben. Daraus kann man schließen, daß verschiedene Motive
vorhanden sind.
Die passiven Mitglieder bilden im Unterschied dazu all diese Fähigkeiten
nicht aus, sondern sind Konsultierende und Besucher der kardezistischen Sitzungen. Sie besuchen die Unterweisungen zur „spirituellen“ Weiterentwicklung oder Lösung ihrer alltäglichen Probleme, auch um Erleichterung zum
Problem der Sterblichkeit zu finden.318
Nach den Umfragen von Leal Braga 1975:145-160 seien die Hauptmotive
zur Konsultation eines kardezistischen Zirkels gesundheitliche Probleme, teils
eigene (30%), teils in der Familie auftretende (6,6%). Wegen Familienproblemen, eigenen Geldproblemen oder Geldproblemen der Familie kommen anscheinend 3,5% der Mitglieder. Leiden, Angst und andere Probleme, wobei
man nicht weiß, was das heißen soll, sollen 17,% der teilnehmenden Personen
in die Zentren führen. Somit gab die Mehrzahl, nämlich 58,1%, persönliche und
vor allem gesundheitliche Probleme als Motiv an.319
Aus anderen Gründen, Einfluß des Freundeskreises, Neugierde und nur,
um eventuell teilzunehmen, sollen 20,7% der Frequentierenden erscheinen.
Zur religiösen Weiterbildung, wegen medialer Fähigkeiten, um die wissenschaftlichen Probleme, die in der Welt bestehen, zu verstehen, oder zum philosophischen Verständnis der Weltprobleme geben 20,4% der Befragten als
Grund für ihre Teilnahme an den Sitzungen an. 0,8% der Angesprochenen äußerten sich nicht zu ihren Motiven.320
Die Suche nach Lösung oder zumindest Erleichterung von persönlichen
Problemen führt die meisten der Besucher in die Zentren. Leal Braga
(1975:147) selbst ist der Ansicht, daß alle Befragten, auch wenn sie angaben,
sie wären aus Neugierde oder wegen Freunden erschienen, irgendeine Antwort
auf ein Problem erwarten.
Als Beispiel beschreibt Leal Braga den Besuch eines ihrer Informanten
bei einem kardezistischen Zentrum, der angab, unter verschiedenen Störungen zu leiden. Ihm wurde versprochen, diese mittels Magie zu beseitigen.321
Einem anderen Besucher, der unter gesundheitlichen Störungen gelitten hatte
und bei vielen Ärzten gewesen war, wurde erzählt, sein Problem sei, daß er
selbst mediale Fähigkeiten auszubilden habe und die somatischen Störungen
318
Vergleichbar zu Salvador: Ferreira de Camargo (1961:73-75) zu den Besuchern und Praktizierenden der kardezistischen Zentren in São Paulo.
319
Ich erachte dieses Forschungsergebnis als falsch, da, wie ich in meiner Arbeit noch öfters
erwähnen werde, viele Personen die wahren Gründe nicht äußern, bzw. sie ihnen nicht bewußt
sind. Es existieren hierbei kaum Möglichkeiten zu objektivieren.
320
Vgl. Leal Braga (1975:145-146). Diese Umfrage zeigt ähnliche Ergebnisse, wie die von Camargo 1961 in São Paulo durchgeführte. Er hält die therapeutische Funktion für dominierend.
Des weiteren erachtet er die Aufgabe der Integration in die städtische Gesellschaft in den Zentren als wesentlich.
321
Leal Braga (1975:148) sieht hier Vermischungen mit umbanda-Praktiken, da die "reinen"
Kardezisten von sich sagen, daß sie sich nicht mit Magie beschäftigen.
128
ihn darauf hinweisen sollten. Seine Leiden sollten nicht behandelt werden,
bevor nicht die störenden Wesen auf irgendeine Art befriedigt würden.
Probleme ganz anderer Art hatte ein anderer Informant, der auf seiner
Arbeitsstelle verfolgt wurde, weil er irgendwelche Vorteile genossen hatte.
Um dieses Problem zu lösen, habe er das kardezistische Zentrum aufgesucht.322 Ein anderer erzählte, er sei mit einem Freund hergekommen, der ihn
zu den beruhigenden passes mitgenommen habe, weil er immer so aggressiv
sei. Er wurde im Zentrum auf seine Aufgaben hingewiesen, die er zu erfüllen
habe, um die Ursachen seiner Probleme zu finden. Wieder ein anderer litt unter sozialen Problemen, er hatte in jeglicher gesellschaftlicher Zusammenkunft Angstzustände. Er selbst fand sein Verhalten anormal und suchte unter
diesem Leidensdruck ein Zentrum auf. Eine Frau kam in Kontakt mit einem
kardezistischen Zentrum, als sie ihr Bein gebrochen hatte und in einer Krise
war. Dort entdeckte sie ihre medialen Fähigkeiten, und seit ihr Vater tot ist,
kommuniziert sie mit ihm, wann immer sie Probleme hat.323
Ein anderes Fallbeispiel erzählt von einem 25-jährigen Studenten. Erzogen als traditioneller Katholik, hatte er nie Freude an den Religionsausübungen, bis er Kontakt zu kardezistischen Zentren bekam. Sein Motiv war es, seiner armen Familie helfen zu wollen. Er berichtete, daß er durch die Lektüre
von Kardeks Schriften eine innere Wiedergeburt erlebt habe. Er fühle sich
gänzlich als neuer Mensch, Friede habe sich in sein Herz gesenkt und er empfände Religion nicht mehr als Entfremdung. Im kardezistischen Zentrum würde
viel mehr kommuniziert werden als in der katholischen Kirche, es sei ein wunderbares Gefühl, nicht mehr allein zu sein und zu merken, daß er die gleichen
Schwierigkeiten und Probleme habe wie alle anderen auch. Alle verstehen sich
hier, und alle schätzen sich. Er entdeckte seine Qualitäten in diesem Zentrum
und stellte sie in den Dienst der Gemeinschaft. Es gäbe keine wirkliche Religion ohne soziale Kompromisse, man müsse seine Überzeugungen, wenn man
denn welche habe, in die Tat umsetzen. Heutzutage wäre der Mensch nie zufrieden, er suche immer persönliche Verwirklichung, Prestige- und Machtanhäufung in ökonomischen oder politischen Bereichen. Er vergäße die tiefen
Werte von Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Brüderlichkeit. Im Kardezismus seien
diese Werte lebendig, und die Lehren seien dazu da, um mehr zu leben und
weniger zu leiden, im Gegensatz zur katholischen Kirche, die dies nicht bieten
könne.324
322
Hier sieht Leal Braga (1975:146) wiederum umbanda-Praktiken in einem orthodoxen kardezistischen Zentrum.
323
Sie erzählte Leal Braga (1975:159), daß sie gläubige Katholikin sei, aber, wenn sie Probleme
habe, die Kardezisten aufsuche, um sie zu lösen. Die Kirche sei nur gut, um zu beten.
324
In anderen Beispiele wird über die wohltuenden Fähigkeiten der kardezistischen Philosophie
berichtet, um das Wandeln des Menschen auf der Erde zu erklären. Der Kardezismus befriedige zudem wissenschaftlich, durch praktische Versuche lassen sich Dinge erklären, die sonst
unvorstellbar und phantastisch seien (Leal Braga 1975:162). Ferreira de Camargo (1961) listet
Kurzinterviews mit umbanda-Klientel auf, die ganz ähnlich wie die der Kardezisten von der
Suche nach Erlösung und Heilung bestimmt sind.
129
Leal Braga vertritt, basierend auf ihren statistischen Ergebnissen, die
These, daß Personen mit unterschiedlicher Schulbildung verschiedene Aspekte
des Kardezismus betonen, die sie schätzen. Nach sozio-ökonomischen Gesichtspunkten sollen die Besucher der erfaßten Zentren vorwiegend Mitglieder
der gesellschaftlichen Unterschicht sein.325 Aus der Mittelschicht sei ein kleines Kontingent vorhanden, die wenigen Mitglieder aus der oberen gesellschaftlichen Schicht seien nicht repräsentativ.326 Nach Brown (1986:24-25) ist
die kardezistische Klientel hauptsächlich in der Mittelschicht und in der Klasse
der Unterschicht zu finden.327
Im Gegensatz zum Kardezismus ist beim umbanda heutzutage ganz klar
die weiterhin zunehmende Tendenz zur Mittelschicht sogar festzustellen,
Brown (1986:25) beschreibt umbanda als “multiclass religion”.328
Viele Autoren,329 die über umbanda-Kulte arbeiten, sehen zwischen ihnen und kardezistischen Ritualen sowie den Motiven der Klientel enge Verknüpfungen. Ein anderer Faktor, daß marginalisierte Gruppen wie z.B. AfroBrasilianer und Homosexuelle durch ihre sozial nicht akzeptierte Situation eine Affinität zu umbanda-Zentren haben, könnte ebenfalls im Falle des Kardezismus in Betracht gezogen werden. Personen dieser Gruppen schließen sich
den Kulten an, weil umbanda sozial breiter akzeptiert ist, und versuchen, dadurch eine soziale Aufwertung zu erfahren. Da viele Mittelklasse-Partizipanten
ebenfalls Anhänger der umbanda sind, finden marginalisierte Mitglieder hier
325
Dies steht im Widerspruch zu ihren eigenen Tabellen, bzw. beweist ihre m.E. mangelhafte
Analyse (Leal Braga 1975:104-112). Viveiros Aussagen über Rio de Janeiro betonen eindeutig den Mittelstand als Klientel, das gleiche gilt für Camargo (1973:159-184).
326
Leal Braga (1975) ist der Ansicht, daß eine Verbindung zwischen den ökonomischen Faktoren eines Individuums und den Tendenzen zur Akzeptanz bestimmter religiöser Interpretationen der Welt existieren kann. In höheren gesellschaftlichen Schichten mit besseren ökonomischen Grundlagen seien mehr Lösungsmöglichkeiten von Problemen gegeben, die ohne religiöse Ethik und Idee funktionieren würden. Die Mitglieder der Mittelschicht, die mehr individuelle Berufs- und Verwirklichungsmöglichkeiten haben als die Armen, würden mehr Wert
auf philosophische und wissenschaftliche Erklärungen legen, und die Unterschicht könnte diverse religiöse Tendenzen haben. Leal Braga (1975:163) vertritt die These, daß im urbanen
Bereich mehr Kardezismus als auf dem Land praktiziert wird, da die Menschen in der Stadt
mehr Probleme als auf dem Land haben, wo sie "mehr in der Natur leben". Die Probleme in
der Stadt seien ökonomischer, rationeller Art.
327
Sie vertritt die These, daß durch die caridade (Mildtätigkeit), die einen wichtigen Bestandteil
der kardezistischen Lehre darstellt, Klassengrenzen zwischen Nehmenden und Gebenden,
Mittelklasse und den städtischen Armen verstärkt werden. Caridade soll für den Kardezismus
eine "Leitung" in die unteren Klassen darstellen. Im Gegenteil dazu soll umbanda mit seinen
synkretistischen Tendenzen, Mildtätigkeiten und seiner Nächstenliebe die verschiedenen
Klassen verbinden. umbanda soll eine gegensätzliche (kontrastive) Klassenstrategie vermeiden und deshalb über eine ständig anwachsende Klientel verfügen.
328
Vgl. Brown (1986:219). Auf ihre Diskussion verschiedener Interpretationen der umbandaKlientel von diversen Forschern werde ich nicht eingehen. Als treffend erachte ich ihre These,
daß umbanda primär authentischer Ausdruck von populärer Kultur niedriger Klassen darstellte und im Wandel begriffen ist. Viveiros (1983) beschreibt aus Rio de Janeiro eine ganz andere Situation. Sie beobachtet wesentlich mehr Teilnehmer aus Mittel- und Oberschicht bei kardezistischen Praktiken. Dies sei bedingt durch die eher intellektuell ausgerichteten Doktrinen,
im Gegensatz zu umbanda
329
Siehe Literaturliste oder im Text schon erwähnte Autoren.
130
die Möglichkeit zu Kontakten mit sozial höheren Schichten. Für die Zentren
bedeutet dies wiederum eine Erhöhung der Mitgliederzahl.330 Inwieweit das
gleiche Phänomen oder ähnliche Erscheinungen beim der umbanda verwandten Kardezismus auftreten, ist bis jetzt nicht untersucht worden, ist aber vorstellbar.
Das Phänomen, daß auch ökonomische Hilfeleistungen gesucht werden,
sollte nicht unterschätzt werden. Viele der Einrichtungen bieten verschiedene
Formen sozialer Fürsorge wie z.B. medizinische Versorgung an, die natürlich in
Anspruch genommen werden. Man sollte sich vor Augen halten, daß die Armut
die größte Plage für einen Großteil der Bevölkerung ist und der Überlebenskampf all ihre Energien verschlingt. Es ist vorstellbar, daß sich die wahren Motive zumindest eines Teils der Klientel auf ökonomische Faktoren beschränken.
2.9.18.6
Motive der Kardezisten
Die Motive der Klientel, der Anhänger wie der Besucher der kardezistischen
Zentren, wie im letzten Kapitel ausführlich beschrieben, lassen sich zusammenfassen wie folgt:
♦ Suche nach Hilfeleistung bei Problemen in verschiedenen persönlichen Bereichen
wie Liebe, Beziehungen, Alltag mit all seinen verschiedenen Inhalten, Beruf, Familie, Freizeitgestaltung u.a.
♦ Ökonomische Problemlösungen, d.h. Hilfeleistung wie oben beschrieben (Beruf der
Näherin erlernen, Kindertagesstätten, damit die Mutter arbeiten kann, Essen, Medikamente etc. ).
♦ Hilfeleistungen bei gesundheitlichen Problemen, körperlichen und psychischen Erkrankungen. Der Komplex der psychischen Probleme ist groß, Ängste können als einer der Hauptfaktoren für den Besuch der kardezistischen Zentren beschrieben werden. Die Probleme der Sterblichkeit und Vergänglichkeit können zu dem Bereich der
Ängste und psychischen Probleme geordnet werden. Hierzu werden die Problemlösungen mit Hilfe der religiösen Praxis und “spirituellen Weiterbildung”, wie aus
Kardeks Doktrin ersichtlich, angeboten.
♦ Die Auseinandersetzung mit „wissenschaftlichen“ Problemen mit dem Ziel, die Welt
zu verstehen, ist ein Motiv der Intellektuellen, an den kardezistischen Praktiken teilzunehmen. Ich vermute, daß bei diesem Personenkreis sich dahinter die anderen Motive verbergen, die Befragten dies aber nicht äußern wollen. Somit deute ich diesen
Punkt nicht als isoliertes Einzelmotiv, sondern als intellektuelle Umschreibung von
persönlichen, körperlichen und psychischen Problemen, Selbstverständigungs- und
Orientierungsbedürfnis.
♦ Die Suche nach Erlösung ist m.E. das Motiv, welches Bestandteil aller genannten
Themenkomplexe ist und das die Sehnsucht nach einem besseren Leben im Diesseits
wie im Jenseits sowie den Wunsch nach Unsterblichkeit umfaßt.
330
Vgl. Brown (1986: 225-226).
131
♦ Personen mit dem sozialen Problem der Marginalität suchen bei kardezistischen
Verbänden und bei allen modernen religiösen Kulten in Brasilien Hilfe.331
♦ Neugierde und Sensationslust sind unbedeutendere Motive, obwohl die Befragten
dies als ihr Hauptmotiv angaben. Ihre wahren Gründe, die ich in den bereits erwähnten Kategorien vermute, möchten sie jedoch nicht nennen. Es stellt sich hier die generelle Frage, was die Neugierde und das Interesse an religiösen Bewegungen
weckt.332
Die kardezistischen Zentren, ihre Medien, Heiler und Lehrer haben
hauptsächlich therapeutische Funktionen. Durch ein breites Angebot an Behandlungen und Heilungsritualen, wie sie von den kardezistischen Zirkeln angeboten werden, können viele der unterschiedlichen therapeutischen Ansprüche der Klientel befriedigt werden.333
Die Funktion, Gemeinschaft und Ersatzfamilie zu bilden, der Integration
eines einsamen, problembeladenen Individuums bei den Kardezisten in ein
hierarchisches Gefüge zu dienen, halte ich ebenfalls für wesentlich. Die Identifikation mit anderen Menschen, die gleiche oder ähnliche Probleme haben,
kann den psychischen Druck mildern.
Die Integrationsfunktionen, die der Kardezismus bezüglich ländlicher
Einwanderer in den Ballungszentren und städtischen Gemeinschaften Rio de
Janeiro, São Paulo, Salvador, etc. erfüllt, werden als wesentlich erachtet.334
Dies stellt m.E. kein spezifisches Kardezismus/Spiritismus-Charakteristikum
dar, weil es gleichermaßen für andere Religionen, z.B. candomblé und
Pfingstkirchen, zu gelten hat.
Durch Entwicklung seiner medialen Fähigkeiten kann ein Individuum in
den kardezistischen Zirkeln in der Hierarchie vom Hilfesuchenden zum Helfer
aufsteigen, vom Opfer der Gesellschaft zum mächtigen “Täter” der caridade
(mildtätigen uneigennützigen Liebe) werden. Dabei kommt es nicht darauf an,
ob die Hilfe in real wirksamen Aktionen besteht, es genügt, wenn er/sie in der
Gemeinde Anerkennung finden. An den äußeren Wirklichkeiten mag sich zunächst für alle Beteiligten nichts geändert haben. Der kardezistische Kult er-
331
Wie in meiner Arbeit ausführlich beschrieben, ist es eine spezifisch brasilianische Besonderheit, verschiedenen religiösen Gruppen gleichzeitig anzugehören; manch einer bezeichnet sich
als Katholik, besucht die katholische Kirche, das candomblé und geht ebenfalls zu kardezistischen Zentren. Verschiedene Heilsversprechungen scheinen sich gegenseitig nicht auszuschließen.
332
Zinser (1988:274-284) vertritt die These, daß das Heraustreten aus dem Alltag von Westlern
in Europa gesucht und in New-Age Religionen scheinbar gefunden wird. M.E. ist dies übertragbar auf brasilianische Verhältnisse und wird von den betreffenden Personen oftmals hinter
Sensationslust oder Neugierde verborgen.
333
Vgl. hierzu z.B. Leví-Strauss (1967:204-225), der anhand des Beispiels eines schamanistischen Heilungsrituals bei den Cuña-Indianern in Panama die therapeutische Funktion des Rituals darstellt. Nicht nur das Individuum, das Hilfe benötigt, sondern ebenfalls die ganze Gemeinschaft erlebt durch den Prozeß des Rituals eine psychologisch heilsame Wirkung. Im
Rahmen meiner Arbeit ist es nicht möglich, dies näher auszuführen.
334
Vgl. Camargo (1961) und Leal Braga (1975).
132
möglicht es ihm/ihr, aus der Opferrolle herauszutreten und Aktionen, die von
der Gemeinschaft als sinnvoll angenommen werden, auszuagieren.
Die Motive der kardezistischen Helfer, Lehrer und Heiler können im
Rahmen dieser Arbeit nicht näher behandelt werden. Wie ich in meiner Studie
beschrieben habe, ist ein Charakteristikum des Kardezismus innerhalb der
Zentren das hierarchische Gefüge.335
Die leitenden Persönlichkeiten üben eine große Macht auf die Klientel
aus, vergleichbar der Position von Heilern, Psychotherapeuten in der westlichen Welt, religiösen Spezialisten (Seelsorgern, Schamanen etc.). Auch bei
den Kardezisten wie bei den anderen brasilianischen religiösen Kulten erachte
ich das persönliche “Charisma” einer Heilerperson als einen der Anziehungspunkte für ihre Klientel, die ein Stück Verantwortung an den Heiler abgibt.
An den charismatischen Führer, an diese anerkannte Autoritätsperson
sowie an die verschiedenen Medien und Lehrer kann jegliche Verantwortung
delegiert werden. Dieses Phänomen ist nicht nur bei den Kardezisten und anderen religiösen brasilianischen Gemeinschaften festzustellen und sollte von
Religionswissenschaftlern und Ethnologen in den Vordergrund gerückt und hinterfragt werden.336
Da Mattas These “the poor and destitute...can act powerfully and advise or cure the rich”, die er zu umbanda-Ritualen aufstellte, sehe ich vergleichbar zum Kardezismus.337 Heiler müssen nicht aus reichen, intellektuellen
Schichten kommen, sondern können nur ausgehend von der Basis einer außergewöhnlichen Medialität agieren. Das Beispiel von Chico Xavier, einem Mann
mit einem einfachen Handwerksberuf, der plötzlich eine der berühmten,
einflußreichen Persönlichkeiten Brasiliens wird, ist eines von vielen.338
Welche Funktion der Verzicht auf materiellen und gesellschaftlichen Erfolg hat, wie er von einigen der helfenden Kardezisten angepriesen und von
einem Teil der Klientel praktiziert wird, wie auch im Text von mir an Hand
335
Im Unterschied dazu betonen z. B. die Pfingstkirchen die Brüderlichkeit, und die Aufgabenverteilung innerhalb ihrer Gemeinden soll nicht hierarchisch gegliedert sein. Sprechen sie damit eine besondere Schicht und Bedürftigkeit an? Inwieweit ihr nicht hierarchisches Gefüge
Realität hat oder nur ein Scheinbild ist, sollte m.E. noch untersucht werden.
336
Vgl. Zinser (1989:185), der anhand des Beispiels einer Person, die eine Wahrsagerin aufsucht, den Prozeß der Abgabe von Verantwortung und die damit verbundene psychische Entlastung beschreibt.
337
Andere Autoren analysieren Umbanda als einen Agenten der Herrschaft (Birman 1980; Seiblitz 1979), was m.E. für den Kardezismus durchaus zutreffend sein kann, aber als einer von
vielen Faktoren angesehen werden sollte.
338
Dieses Phänomen findet sich bei vielen der berühmten und weniger berühmten Heiler, die
von Personen aus allen sozialen Schichten konsultiert werden, wieder. Dr. Fritz, der Geist eines verstorbenen deutschen Arztes, mit dem ein berühmter kardezistischer Heiler viele Patienten behandelte, ist das berühmteste Beispiel dieser Art. Es klingt überzeugender, sich als ein
deutscher Arzt zu präsentieren, dem Bildung, technisches Verständnis etc. zugeschrieben werden, denn als Schuster, wie es der Realität entsprechen würde. Die Autorität, Macht und
Glaubwürdigkeit, was den Bereich des Heilens betrifft, ist als Dr. Fritz wesentlich größer. Leider kann ich im Rahmen meiner Arbeit diesen Themenkomplex nicht weiter beschreiben. Vgl.
Geuter (1987:44-51), Ende:(1988:81-86) und Stein (1987).
133
von Beispielen angedeutet wurde, bedarf genauerer Analyse. Durch Verleugnung von allgemeinen gesellschaftlich erstrebten Werten kann auf die Auseinandersetzung mit diesen Problemen und Konflikten verzichtet werden.
Die Kardezisten leisten eine Verdrängung, mittels derer sie eigene Aktivitäten zur Veränderung ihrer gesellschaftlichen Situation umgehen können.
Manche Religionsformen und explizit Formen der Ausübung der kardezistischen
Doktrin können demgemäß als Flucht vor Auseinandersetzung in die von einer
religiösen Gemeinschaft anerkannten Passivität gedeutet werden. „Spirituelle"
Weiterentwicklung wird angeboten und einer persönlichen Entwicklung, die
Handlungsbereitschaft erfordern würde, vorgezogen. Dies mag auch mit enttäuschenden Erfahrungen bei Versuchen gesellschaftlicher Umgestaltung zusammenhängen.
Die damit vonstatten gehende Flucht aus dem Alltag in eine Traumwelt
von den Kosmos bevölkernden Geistern geht immer mit ekstatischen Momenten einher: Die kardezistischen Medien befinden sich in trancehaften Zuständen verschiedenster Art, wenn sie mit den Geistern kommunizieren oder diese
durch sie sprechen. Es scheint, als ob die im Alltag nicht befriedigten Bedürfnisse die Suchenden zu den Religionen und zum Kardezismus führen und daß
dort ihr Defizit befriedigt oder kompensiert wird.339
Leal Braga (1975:163) greift die These von Camargo 1961 auf, daß Kardezisten ihre vielschichtigen Probleme der Migration in die Stadt durch Religiosität zu lösen versuchen. Sie vertritt die These, daß die Mittelklasse eine
“realitätsbezogenere Religiosität” als die untere soziale Gesellschaftsschicht
lebt.340 Wie ich in meiner Arbeit ausführlich behandelt habe, ist der Kardezismus vorwiegend eine Religionsform des Mittelstandes, der aber auch von Mitgliedern der Unter- und Oberschicht frequentiert wird.
In den kardezistischen Ritualen erhalten leidende Personen auch aus
marginalen Schichten Aufmerksamkeit von der Gemeinschaft; sie sind für diesen einen Augenblick ihrer Marginalität enthoben und stehen im Mittelpunkt
der Geschehnisse.341
339
Vgl. Zinser (1988:274-284), der die These vertritt, daß das Austreten aus dem Alltag mit
seinen profanen Zuständen gekoppelt ist mit der Suche nach ekstatischen Zuständen, in denen
das Göttliche und das Heil erlebt werden. Ekstase wie profaner Alltag sind gleichermaßen
fremdbestimmt. Der Begriff Ekstase - "außer sich sein" (griechisch) subsumiert alle Arten von
außergewöhnlichen Zuständen, die nicht nur bei religiösen Ritualen anzutreffen sind. Vgl.
Zinser 1990.
340
Hierzu ist eine Analyse zum "magischen Denken" etc. erforderlich, die aber den Rahmen
meiner Arbeit sprengen würde. Nicht westlich-rationale Denkweisen werden von vielen Wissenschaftlern, auch von Leal Braga (1975), in ethnozentrischer Weise betrachtet, d.h. als minderwertig und irrational angesehen, anstatt das Wechselspiel zwischen den anderen Denkweisen und der gesellschaftlichen Ordnung und dem Gefüge deutlich zu machen. Siehe: Kippenberg/Luchesi 1987, Leví-Strauss 1986 u.a. Ich halte Leal Bragas These in diesem Punkt für
nicht durchdacht.
341
Die heilsame Wirkung dessen beschreibt Lewis 1989 am Beispiel afrikanischer marginaler
Kulte, sie ist vergleichbar mit brasilianischen Kulten. Selbst wenn die Kardezisten wenige
Mitglieder aus marginalen Schichten haben, erachte ich dieses Phänomen als übertragbar auch
134
Die Tatsache, daß der Kardezismus aus Europa übernommen wurde, und
zwar Ende des 19. Jahrhunderts, sollte m.E. nicht ignoriert werden. Er bietet
den Anhängern das Gefühl, Anschluß an die westliche “Metropole” gewonnen
zu haben. Mit den Inhalten der christlichen Moral und der Nächstenliebe eroberte er Anhänger im ganzen katholischen Lateinamerika. Er kann somit ebenfalls lateinamerikaspezifisch betrachtet werden, muß aber regional unterschiedlich untersucht und gedeutet werden.
Der Kardezismus kombinierte in seiner „kritischen Geisterlehre“ die
herausragenden Merkmale des europäischen Evolutionismus des 19. Jahrhunderts. Die kardezistische Evolutionslehre enthält zudem einen optimistischen
Fortschrittsglauben, da die Geister sich immer weiter entwickeln, wobei die
Geschwindigkeit der Entwicklung von den Anstrengungen des jeweiligen Individuums abhängen.342
Moral und Entwicklung sind die wesentlichen Werte, die erstrebt werden. Triebe werden als schädlich dargestellt und sind zu bekämpfen. Den
Trieben wird die Verantwortung für gesellschaftlichen und sozialen Abstieg
gegeben. Triebhafte Geistwesen, wie die orixás sind nicht erwünscht, und es
wird versucht, wenn sie erscheinen, sie zu erziehen. Dies entspricht den Ängsten vor den eigenen Trieben und der dahinterstehenden Angst der Mitglieder
aus der Mittelschicht und der oberen Unterschicht vor dem eigenen sozialen
Abstieg.
Religiöse Praktiken und Vorstellungen, institutionelle Befehle, Macht
und geschaffene Illusionen innerhalb der Doktrinen sind Faktoren, die miteinander im Verbindung stehen und gesellschaftliche Verhältnisse, deren Umgang
damit und deren Verdrängung widerspiegeln.
Kultur ist eine kollektive Schöpfung mit kollektivem Wiedererkennen. In
diesem Konzept stellt die Religion ein Produkt menschlicher Aktivität dar, die
Praktizierenden sind gebunden an unterschiedlichste religiöse Institutionen,
die dafür geschaffen wurden. Die Ausübenden stabilisieren die darin enthaltene oder gewachsene Hierarchie mit deren Werten. Diese historischen Konstruktionen werden von den Mitgliedern letztlich als Reflex der göttlichen
Struktur angesehen. Die primär objektiven Strukturen der Welt sollen innerhalb der religiösen Institutionen zu subjektiven Glaubensstrukturen werden.
für problembeladene Individuen aus allen Schichten, die sich meist auf irgendeine Art in einer
Opferrolle befinden.
342
Zier (1987:29-30) vertritt die These, daß die kardezistische Kombination "europäischer Tugenden" die Mittel- und Oberschicht Lateinamerikas anzusprechen vermöge. Indem nationale,
regionale Figuren zu den Geistern des spiritistischen Kosmos assimiliert werden, findet eine
„Mestizisierung“ statt. In Brasilien möchte ich von Synchronisierung sprechen, die den Angehörigen der "classe popular" den Zugang zu den Zentren erleichtern könnte.
135
2.9.19 Die Motive der Teilnehmer bei den verschiedenen Religionsgruppierungen
In diesem Kapitel werden die Motive der Personen herauskristallisiert, die bei
unterschiedlichen Religionen partizipieren. Ich erhebe jedoch keinen Anspruch
auf Vollständigkeit, da der Komplex zu vielfältig ist, um alle Punkte ausreichend beleuchten zu können. Die hauptsächlichen Probleme bestehen darin,
daß viele der Motive nicht bewußt sind und ebenfalls Motive verleugnet oder
verschwiegen werden. Dabei stellt sich die Gefahr einer subjektiven Bewertung. Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, daß viele Partizipanten mehrere religiöse Gemeinschaften aufsuchen. Dies erschwert z.B. eine schichtspezifische Analyse.
Zum Teil existieren Gemeinsamkeiten unter ihnen, beispielsweise therapeutische Funktionen, die Heilung bei Krankheiten und Leid versprechen.
Die ideologischen Konzepte sind unterschiedlich, die Heilmethoden ebenfalls.
Dennoch bestehen Ähnlichkeiten zwischen Heilungsritualen verschiedener Religionen, wie aus den Beispielen candomblé , Umbanda und Kardezismus ersichtlich wurde. Die Motive derer, die Hilfe suchen, sind die gleichen, auch
wenn die Ursachen der Erkrankungen bzw. des erfahrenen Leids verschieden
interpretiert werden. Für das Individuum steht jedoch immer der erwartete
Heilungserfolg im Vordergrund.
Warum jedoch werden verschiedene Religionsgemeinschaften, die alle
Heilserwartungen versprechen und Heilungskonzepte formulieren, von den
einzelnen Mitglieder und Gruppen der Gesellschaft bevorzugt? Die im folgenden aufgestellten Schemata beleuchten die einzelnen Gesellschaftsschichten,
können jedoch dem vielschichtigen Individuum nicht gerecht werden.
2.9.19.1.1.1
Motive der Katholiken
Heute ist Brasiliens katholische Kirche in zwei Gruppen gespalten, die konservative, zu der Kardinal-Erzbischof von Bahia, Lukas Moreira Neves, gehört, und
die Befreiungstheologen, welche die Interessen der Armen vertreten. Die konservative Seite orientiert sich an den Weisungen des Papstes in Rom, die Befreiungstheologen dagegen orientieren sich an der aktuellen Situation und den
gesellschaftlichen Gegebenheiten in Brasilien.343 Beide stehen im Widerstreit
miteinander. Die Befreiungstheologen sind willens, die afro-brasilianischen
Religionen zu akzeptieren, die konservativen Vertreter dagegen wollen sie
nach wie vor bekämpfen.
Die katholische Kirche in Brasilien steckt in einer Krise, ihre Mitgliedschaft wandert beständig zu anderen Religionen ab wie z.B. zu den evangelischen Pfingstkirchen, die momentan in ganz Südamerika den größten Zuwachs
haben. Die innere Zersplitterung der katholischen Kirche unterstützt diesen
Prozeß. Nicht nur die Jugend von Bahia distanziert sich zunehmend von den
Geboten, die Kardinal Lukas verbreitet.
343
Vgl.: Berkenbrock (1995:1-8).
136
Katholik zu sein in Brasilien ist in der baianischen Oberschicht üblich.
Vielleicht suchen der weiße Mittel- und Oberstand, die ehemaligen Sklavenhalter und Herrscher die Rituale der katholischen Kirche als Relikt vergangener glorreicher Zeiten. Vorwiegend werden „rites-de-passage-Feste“, wie Taufe, Hochzeit und Beerdigung abgehalten sowie die beiden wichtigsten zyklischen katholischen Feste, Ostern und Weihnachten, die ebenfalls mit Familienfeiern verknüpft sind.
Die Befreiungstheologen engagieren sich für die Armen, soweit das im
Rahmen ihrer ökonomischen Mittel steht. Wer von der Unterschicht die katholische Kirche aufsucht, erhält unter der Woche und bei sonntäglichen Frühmessen nach der Messe Brötchen, die für die Armen verteilt werden. Die einzige schwarze Kirche, Santa Rosaria dos Pretos, mit einem schwarzen Pfarrer
in Salvador lockt heute ebenfalls nicht mehr die Massen.
Es ist heute nicht mehr zum Überleben nötig, seine anderen Glaubenspraktiken zu vertuschen und unter dem Schutzmantel der katholischen Kirche
sich vor polizeilicher Gewalt zu verstecken.344
Die konservative Linie der katholischen Kirche tut wenig für die
Schwarzen, sie demonstriert die Macht der herrschenden Klasse und scheint
heute fast wie ein Überbleibsel. Vielleicht leiten Sympathien zu Heiligen,
Schutzheiligen der Schwarzen, Müttern, Alten und anderen Geplagten des Lebens manche einsamen alten Menschen, vorwiegend Frauen zum Kirchgang an.
Die meisten katholischen Priester sind jedoch nicht fähig, Gemeinschaft und
Verbundenheit mit den Afro-Brasilianern herzustellen.345
Nach heutigen Statistiken geben noch viele Brasilianer an, Katholiken
zu sein. Auch bei meinen Umfragen bestätigten dies viele der Schwarzen der
Unterschicht. Es schien sich jedoch um eine der üblichen Floskeln zu handeln,
sich konform zum gängigen Bild der Gesellschaft präsentieren zu wollen und
öffentlich die afrikanischen Wurzeln zu verheimlichen. Bei näherem Kennenlernen und Vertrauen wurde ich dann eingeweiht in andere religiöse Praktiken
afrikanischen Ursprungs, die sie betätigten. Dazu ein Zitat einer erklärten Katholikin:
344
Die theologischen Diskussionen bewegen sich auf dem Gebiet der Heilsversprechungen der
einzelnen religiösen Gemeinschaften und der Vorteile, die der katholische Glauben für das Individuum haben könne sowie der Frage, wie man damit heute noch die Masse erreichen kann.
Vgl. Berkenbrock 1995. Die Lösungsvorschläge der katholischen Linken und deren Verbundenheit mit den Unterdrückten werden von den konservativen Machthabern innerhalb der katholischen Kirche abgeschmettert.
345
Das Thema weiterzuverfolgen, würde den Rahmen meiner Arbeit sprengen. Aus meinen
Interviews mit Priestern und Patern ergaben sich keine nennenswerten Ergebnisse zu den Motiven, die katholische Kirche zu besuchen oder ihr fern zu bleiben. Eine gewisse Resignation
war bei den padres (Patern) herauszuhören. Jüngeren Leute, die ich zum Thema Katholizismus befragte, wollten nicht regelmäßig zur Kirche gehen, hatten jedoch vor, sich dort zu verheiraten und ihre Kinder taufen zu lassen.
137
„Ich will’s nun vor dir nicht mehr verheimlichen, ja, ich gehe zum candomblé.
Denke, was du willst darüber. Aber weil du darüber arbeitest, sollst du’s auch
wissen. Und würdest du es nicht mögen, würdest du da ja nicht hingehen. ...“
(V., Mitglied von einem candomblé, Salvador)
2.9.19.1.1.2
Motive, die zum Protestantismus führen
Wie in Kapitel 2.10.17 ausführlich dargestellt, ist der Protestantismus heute
eine Religion der gemischten, schwarzen und weißen Unterschicht, die Heilserwartungen an asketische Lebensbedingungen knüpfen. Sie sind im Gegensatz
zu den candomblé-Mitgliedern, die in ihrer Gemeinschaft bleiben und sich dort
identifizieren wollen, von einem „aufsteigenden Geist“ besessen. Sie wollen
weiß werden, ihre Schichtzugehörigkeit verändern und suchen das Heil u.a. in
der Hoffnung auf sozialen Aufstieg.
Puritanisch gekleidet in langärmligen Blusen, Kleidern und langen Röcken erinnert kaum mehr etwas an ihren afrikanischen Ursprung und soll damit auch nicht an die Vergangenheit und Gegenwart als Sklaven oder Ohnmächtige und an das gesellschaftlich geprägte Bild der Schwarzen Brasiliens
erinnern.
Lebensfreude ist hier verbunden mit dem Gedanken an den heiligen
Geist und an die Erfüllung der Pflichten, und nur mit ihm wird innerhalb der
protestantischen Kirchen gefeiert und gesungen, als einzige erlaubte, ritualisiert ekstatische Momente im Leben. Wünsche und Ängste werden in den Heiligen Geist projiziert.
Moralisch korrekte Ethik und Lebensweise spiegeln sich in gesellschaftlichem, d.h. wirtschaftlichem Erfolg wider. Reichtum und Wohlstand werden
somit zum Gradmesser für die jenseitige Heilserwartung. Alle Triebbedürfnisse
werden nun verdrängt, bzw. in Vereinigung mit dem Heiligen Geist sublimiert.
Sie betrachten sich als abstrakt geistige Wesen, es scheint keinen Körper und
dadurch bedingt, keine körperlichen Bedürfnisse mehr zu geben. Sollten sinnliche und materielle Bedürfnisse bestehen, müssen sie bekämpft und verleugnet werden. Sie werden als Versuchungen des Teufels interpretiert.
Es werden geordnete Familienverhältnisse mit strengen Regeln angestrebt. Wenn sie in der Lage sind, geordnete, autoritäre Kleinfamilien zu bilden und zusammen zu halten, kann die Verdrängung der realen gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse perfekt funktionieren und zur gänzlichen Anerkennung in der Gemeinschaft führen. Wenn die Welt völlig entsinnlicht wäre,
könnte nichts mehr locken und vom wahren Geist ablenken.
Die Protestanten tragen für alles, was in ihrem Umfeld geschieht, die
persönliche Verantwortung. Es gibt keine sozialen Ungerechtigkeiten, wo sie
eventuell Opfer sein könnten und aktiv handeln und etwas verändern müßten.
Keinerlei Gesellschaftskritik wird geübt, Unbewußtheit ist erwünscht. Die Aufrechterhaltung der traditionellen Rolle der Frau, dem schwächsten Glied in
der Gesellschaft, wird selbstverständlich verlangt. Sie ist weiterhin die Unter-
138
geordnete, von ihr wird Unterwerfung gefordert, und dies ist ideologisch in
den Glaubenssätzen gerechtfertigt.
Der Autoritätsglaube kann fatale Folgen annehmen. Der religiöser
Machthaber Macedo, der Igreja Universal do Reino de Deus besitzt derzeit einen Fernsehsender, der rund um die Uhr für ihn Propaganda betreibt, sowie
diverse Radiostationen. Allein mit seiner Darstellungen in den Medien erreicht
er die Massen. Durch seine politische Macht besitzt er eine immer mehr anwachsende Gemeinde von gutgläubigen Anhängern,346 die von dem wenigen,
was sie besitzen, soviel sie können, an ihn abgeben. Sein Reichtum wächst
beständig und beharrlich, wie man anhand mancher brasilianischen Medien
verfolgen kann.347
Ständige öffentliche Propaganda gegen andere, vor allem Religionen afrikanischen Ursprungs, dienen der Spaltung und Diskriminierung innerhalb der
Unterschicht und der Marginalen. Die afrikanischen Götter werden als Ausgeburten des Teufels dargestellt. Den missionierenden religiösen Führern scheint
bewußt zu sein, daß Macht im Laufe der Zeit Wandlungen unterliegt und die
Macht der Armen u.a. in ihrer Vielzahl liegen könnte, wenn sie sich mobilisieren würden.
Meine Beobachtungen bei ihren Gottesdiensten sowie Gespräche und Interviews mit ihnen bestätigten meine These, daß sie ihr Seelenheil im späteren Leben im Jenseits suchen und hier autoritätsgläubig handelnd ihren eigenen Willen aufgeben zu Gunsten einer Gemeinschaft mit einem charismatischen Führer.348
2.9.19.1.1.3
Motive, die zum Umbanda führen
Auch für das Umbanda gelten viele der Motive der Besucher und Mitglieder wie
für die anderen Religionen, auch hier hauptsächlich der Unterschicht.349 Der
Markt mit der Angst wird auch hier von vielen Zentren erfolgreich betrieben.
„Ja, sie ist gestorben, weil sie ihren orixás nichts zu essen gegeben hat. Kein
Wunder! ... Wenn du ihnen nicht ständig zu essen gibst, wirst du immer wieder die gleichen Probleme haben, und dann bist du verloren, wie sie. ... Du
kannst froh sein, daß ich so wenig Geld dafür will. Andere zahlen 4000 reais
dafür! ...Du mußt für Yemanjá 120 weiße Rosen kaufen, aber eine gute Qualität. Laß lieber mich das machen, ich kauf sie ganz billig für dich. ...“
(D., Leiterin eines umbanda-terreiros)
346
Schätzungen sprechen von 12 bis 20 Millionen Brasilianern, die einer Protestantischen Kirche angehören. Vgl.: Schäber/Busch 1993:60.
347
Der Protestantismus greift in ganz Süd- und Mittelamerika um sich. Die Protestanten gewinnen seit langem beständig an Mitgliederschaft. Das daraus entstehende Problem der kulturellen Entwurzelung dient der Ausbeutung der missionierten Mitglieder, die aus der Unterschicht
und Marginale der jeweiligen Gesellschaft kommen, Schwarze, Indios u.a. Die protestantischen Kirchen gewinnen beständig an Macht, und die Armen verarmen noch mehr.
348
Vgl. hierzu R. Flasche (1996: 280-298).
349
Vgl. R. Flasche (1996: 280-298). Das brasilianische Umbanda soll insgesamt ca. 10 Millionen Anhänger haben.
139
Die Unterschiede zum Kardezismus wurden an anderer Stelle beschrieben, woraus die Unterscheidung zwischen dem Umgang mit der Angst und
Angstbewältigung der beiden Gruppierungen ersichtlich wird. Umbanda wie
auch der candomblé ist demokratischer organisiert als die kardezistischen
Zentren, und Moral erhält nicht die Wertigkeit und Verantwortung für ein erfolgreiches Leben wie beim Kardezismus und Protestantismus. An diese Stelle
tritt hier die Erfüllung der religiösen Rituale und Opferungen. In Geistwesen
werden Wünsche und Ängste projiziert.
Die Stellung des umbandas innerhalb der Gesellschaft ist ähnlich wie
beim candomblé; „Negergeister“ werden verehrt. Umbanda betont öffentlich
seine spiritistische Seite europäischen Ursprungs sowie katholische Heilige.
Dies bringt ihn scheinbar der weißen Mittelschicht näher, von dem sie ebenfalls frequentiert werden. Umbanda-Zentren sind nicht einheitlich konstruiert,
die Nähe zu anderen Religionen wird unterschiedlich betont.
3
Gäste
3.1.1 Veränderungen der Altstadt für den Tourismus
„Salvador in der Bucht „de todos os santos“, manche nennen es das schwarze
Rom, wegen seiner vielen Kirchen und des Katholizismus, ist ausgegliedertes
Afrika in Brasilien. Todos os santos sind auch alle orixás, all die afrobrasilianischen Gottheiten, deren Verehrung Salvador die schönen Feste zu
verdanken hat. Salvador ist ein Schmelztiegel aus traditioneller und moderner
Großstadt und Dorf; „erste und dritte Welt“ und brasilianisch multi-kulturell.
Salvador hat supermoderne Hochhäuser, morbiden portugiesischen Barock
und favelas. Salvador ist von Traumstränden und tropischen Inseln umgeben.
In Salvador geht die Uhr nach einem eigenen Rhythmus. Die Busse kommen
zu spät an, manchmal jedoch auf die Sekunde pünktlich. Salvador ist eine Millionenstadt und gleichzeitig viele verschiedene Dörfer. Seine Grenzen, die im
Alltag verschwinden, sind im Karneval deutlich.
Eine frische Meeresbrise läßt Salvador immer angenehm erscheinen. Orte, um
Sonnenauf- und untergang über dem Meer zu betrachten, gibt es viele. Hier
kann man Pizza oder acarajé essen.
In der Altstadt stellt jeder Pflasterstein den Kopf eines gestorbenen Sklaven
dar, dort wo heute Afro-Brasilianer einen Raum verteidigen, der eigentlich ihnen gehören sollte.
Die Bewohner von Salvador sagen, ihre Stadt gehört Oxum, der Göttin der
Schönheit, deshalb lieben sie, es sich zu schmücken; sie gehört Yemanjá, denn
von ihr, vom Meer sind ihre Einwohner geboren, und sie gehört Yansã, denn
von ihr kommt der Wind, von ihr kommt die Bewegung, von ihr kommt o pimenta na vida (der Pfeffer des Lebens)...“
(aus meinem Reisetagebuch: 1995).
Mit den Worten „Bahia, terra magica“ (Bahia, magisches Land), wird
für Salvador in Bahia geworben. Die Worte evuzieren z.B. Trommelmusik,
schöne schwarze Menschen in weißen Gewändern, candomblé, katholische
Barockkirchen, Palmenstrand und im Sommer ewigen Sonnenschein. Dies lockt
erfolgreich Touristen an, die das zu finden hoffen, was die Werbung versprochen hat. Unter den Begriff „magisch“ läßt sich alles Mögliche einordnen, und
dies kann für jeden etwas anderes beinhalten.
140
Die vielen Touristenführer, Reiseagenturen und Hotels, die sich in Salvador an den touristisch relevanten Plätzen befinden, sind geschäftstüchtig
genug, die persönlichen Wünsche und Ansprüche der Fremden zu erkennen,
darauf einzugehen, ständig neue Bedürfnisse zu wecken und zu befriedigen.
Die Bevölkerung aller Gesellschaftsschichten stellt sich flexibel und kreativ
auf die ständigen rapiden Veränderungen zu Gunsten des Kommerzes mit dem
Tourismus ein und versucht davon zu profitieren. Daraus entsteht große Konkurrenz unter ihnen.
Vor fünf Jahren war das Pelourinho, die Altstadt Salvadors mit portugiesischem Charakter,350 ein Stadtviertel der vorwiegend schwarzen, armen Bevölkerung. Die Häuser waren halbe Ruinen, bewohnt von vielen Menschen. Es
war hier keine Seltenheit, daß sich z.B. zehn Personen einen Raum teilten.
Die sanitären und hygienischen Verhältnisse waren miserabel, es wimmelte
von Ratten und anderem Getier. Müll wurde meist einfach aus den Fenstern in
die Hinterhöfe hinausgeworfen. Die Wohnungen standen unter Einsturzgefahr.
Die Bevölkerung setzte sich aus der untersten gesellschaftlichen Schicht
zusammen. Personen, die verschiedenen wenig ertragreichen Tätigkeiten
nachgingen wie Bier- und Zuckerrohrschnapsverkäufer, Wäscherinnen, Hausangestellte, Näherinnen u.v.a., lebten hier mit großen kinderreichen Familien. Große Armut war unübersehbar, Bettler und Straßenkinder füllten die
Straßen. Arbeitslose, Kokain- und Marihuanahändler, Prostituierte und Zuhälter, Räuber und Diebe gaben dem Viertel in den Augen des weißen Mittelstandes zudem einen schlechten Ruf:
„Wer sich dorthin getraute, mußte schlechte Absichten haben, denn man paart
sich nicht mit Gesindel“.
„Man kann des Nachts in eine Schießerei geraten, überfallen, ausgeraubt, vergewaltigt und ermordet werden, und wo Schwarze sind, ist es nur übel“.
„Die Schwarzen, die da wohnen, waschen sich nicht, und fressen ihre eigenen
Kinder, wenn sie hungrig sind“.
(Aussagen von Mitgliedern des weißen Mittelstandes).
Die Presse betrieb eine dementsprechende Propaganda. Für Touristen
war dieses Viertel aus kunsthistorischen Gründen, den vielen portugiesischbarocken Kirchen und Bauten und wegen der tagsüber angebotenen Kunsthandwerksartikel attraktiv. Nachts hatte es den Ruf, gefährlich zu sein, Schießereien waren an der Tagesordnung, Überfälle und Drogendelikte ebenfalls.
Reizvoll waren jedoch die musikalischen Ereignisse, verschiedene Trommelund Tanzgruppen übten für den Karneval auf den verschiedenen kleinen Plätzen.
Ein Vor- oder Nachmittag im barocken Pelourinho ist seit Jahren fester
Bestandteil aller Brasilien- und Südamerika-Pauschalreisen. In den letzten
Jahren nun wurde den Medien klar, daß durch die Vermischung des salvadori-
350
In der Literatur immer als von den Portugiesen erbaut beschrieben, was nicht der Realität
entspricht, da kein Portugiese jemals einen Stein in die Hand genommen hat; sondern die afrikanischen Sklaven die Stadt erbaut haben.
141
anischen Barocks mit dem Flair Afrikas für Bahia Propaganda zu betreiben ist.
Die als „arbeitsunwillig und faul“ angesehenen Schwarzen werden jetzt in der
Art beschrieben: Sie vertreiben sich die Zeit im morbiden Barock des Pelourinhos, im gleißenden Sonnenschein mit Trommeln, Singen, Tanzen, Lieder
komponieren und Feste feiern, beten fremde, afrikanische Gottheiten an und
fallen dabei in Trance, das hat mit voudou zu tun und stellt eine Attraktion
dar.
In den letzten vier Jahren hat sich vieles im Pelourinho verändert. Dem
ehemaligen Gouverneur von Bahia (Antonio Carlos Magahlães) ist es gelungen,
mit Hilfe eines UNICEF Finanzierungsprojektes wesentliche Teile der Altstadt
zu restaurieren. Die letzten Bauetappen werden nun ausgeführt. Die schon
restaurierten Häuser strahlen in fröhlichen Farben, enthalten schicke teure
Restaurants und Bars. Ein Einkaufs-Zentrum ist eine der Attraktivitäten geworden.
Die Häuser und Läden wurden größtenteils an reiche Salvadorianer verkauft, vermietet oder verpachtet. Manchen Bewohnern, die einst ihre Läden
und andere Einrichtungen hier hatten, ist es aber gelungen, ansässig zu bleiben, sofern sie in irgendeiner Art zum historischen Stadtteil weiter beitragen
konnten, d.h. mit der spezifischen Art der Folklore, die hier kommerzialisiert
wird, zu tun haben. Der Großteil der ehemaligen Bewohner wurde jedoch in
die Peripherie abgedrängt. Die Entschädigung betrug nach offizieller Meinung
für Alteingesessene ca. 2.000,- US-Dollar, die damalige monatliche Inflation
rund 40%, so daß dieses Geld fast nichts wert war. Viele der dort wohnenden
Personen berichteten jedoch, daß sie keine Entschädigung bekommen haben,
und sie sahen sich auch nicht in der Lage dazu, dies einzufordern. Ihr soziales
Umfeld wurde zerstört, und in der Peripherie erwartete sie noch mehr Arbeitslosigkeit und noch größere Armut.
Nun ist der Pelourinho weitgehendst gesäubert, an den Straßenecken
stehen Tag und Nacht Polizeitrupps, welche die Sicherheit der jetzt weißen
Besucherschaft des Pelourinhos gewähren. Der weiße Mann und die weiße
Frau, einheimisch oder touristisch, dürfen sich hier jetzt ungeniert vergnügen.
Die Bier- und Essenspreise sind so gehalten, daß sie nur „Reiche“ bezahlen
können, die Busverbindungen sind derart gestaltet, daß Leute, die in der Peripherie (Synonym für favela - sprich: die arm sind) wohnen, nachts sich hier
nicht mehr vergnügen können.
Salvador versuchte im Pelourinho ein reiches und sauberes Image aufzubauen und dies aufrecht zu erhalten. Die Polizei, der sogenannte „Freund
und Helfer“, wandert nachts wie eh und mit Frauen durch den Pelourinho.
Touristen vermuten dabei, daß sie belästigten Frauen helfen. Doch dieser
Schein trügt. Sie betätigen sich als Zuhälter, um ihre Einkünfte, die normal als
Polizist ein salário minimo betragen, zu verbessern. Die Prostituierten erscheinen jetzt angepasst zum restaurierten Viertel und zur reicheren Klientel
schicker als früher, für Touristen, vor Ansprache und Darbietung, erst mal
nicht erkennbar.
142
Auch die Kinder, welche zu jeder Tages- und Nachtzeit Erdnüsse verkaufen, sind besser gekleidet als früher; sie sind einige der wenigen glücklichen, welche die Erlaubnis und Förderung der Stadt erhalten haben. Sie gehören zum Vorzeigeprojekt für die Touristen: „Wir tun etwas für unsere Straßenkinder“. Die anderen unzähligen bettelnden Straßenkinder werden, wenn sie
gesehen werden, von den Polizisten in andere Stadtteile vertrieben.351
Die Straßenkinder stellen ebenfalls einen Spiegel der baianischen Gesellschaft dar. Die vielschichtige, hierarchisch geordnete Gesellschaft mit all
ihren sozialen Belangen zeigt sich für all ihre verschiedenen Mitglieder unterschiedlich. Die verschiedenen sozialen Schichten leben in absolut verschiedenen Milieus, arm und reich mit allen dazugehörigen Facetten.
Für Fremde und Touristen wird versucht, die Sonnenseite darzustellen
und die Schatten zu vertuschen. Sie sollen sich nur in den touristischen Stadtvierteln und Stränden aufhalten und ein positives, beschönigtes Bild nach Europa und anderswo mitnehmen. Dieses Vorhaben gelingt der Tourismusorganisation von Salvador meist vollständig.
Ein Teil der Bevölkerung, der Kontakt zu den Touristen hat, untermauert das Bild. Die meisten wollen das vermitteln, was im Sommer auf großen
Plakaten in der Stadt ausgehängt wird: „Behandelt die Touristen gut, damit
sie wiederkommen.“ Ihr Interesse an den Touristen erfolgt aus verschiedenen
Motiven, welche materieller und imageaufwertender Art sind, wie später im
Text beschrieben wird.
Wie die Anwesenheit der Plakate zeigt, sind nicht alle der gleichen Ansicht. Die Absicht, die Touristen zu berauben und zu bestehlen, wird vielfach
gehegt und ist meist erfolgversprechend und ertragreich. Trotzdem lassen sich
die Touristen nicht abschrecken, und viele kommen wieder. Anscheinend stehen den unangenehmen Erlebnissen unzählige angenehme gegenüber, welche
die Unannehmlichkeiten ausgleichen, und auch die Auseinandersetzung mit
der Gefahr und den Gefahrenmomenten wird von vielen als reizvoll abenteuerlich erlebt, wie aus meinen Gesprächen mit ihnen hervorgeht.
3.1.2 Auf Tour sein
Vielleicht ist die einzige Gemeinsamkeit, die Einheimische, Touristen, Ethnologen, Forscher und jedwede Reisende, die sich bei den Festen und Riten in
Salvador zusammenfinden, verbindet, der Ausnahmezustand, in dem sich alle
befinden. Sie alle verlassen ihren Alltag mit seinen Pflichten und Gewohnheiten und verbringen einen „Holiday“352 zusammen.
Alle anderen Motive der verschiedenen Festbesucher scheinen unterschiedlich zu sein. Die Einheimischen zelebrieren kollektiv traditionelle „Rites
351
Den interessanten Komplex der Straßenkinderproblematik werde ich in meiner Arbeit nicht
weiter ausführen.
352
von „holy day“, „to celebrate a holy day“ (Graburn 1977:19).
143
de Passage“353 und Jahreszyklusfeste, die Hinzugereisten werden als Touristen354 definiert. Zur Klärung der Motive der Reisenden, ist es notwendig die
verschiedenen Formen des Reisens zu beleuchten. Unter den seit einigen
Jahrzehnten verwendeten Begriff Tourismus können gegebenenfalls sämtliche
reisenden Personengruppen subsumiert werden. Lexikalisch355 steht er im Zusammenhang mit Fremdenverkehr. Tourismus wird definiert als Reisen von
Touristen, das Reisen in größerem Ausmaß, in größerem Stil als eine der Erscheinungsformen der modernen Gesellschaft. Der Tourist ist erstens ein Reisender und Urlauber und zweitens, veraltet, ein Ausflügler, Wanderer und
Bergsteiger.356
„Auf tour sein“ bedeutet, sich drehen, sich in Bewegung befinden, absichtslos oder mit vielen gänzlich verschiedenen Absichten. In Salvador stellen
die Touristen keinesfalls eine homogene Gruppe dar, welche die gleichen Bewegungen ausführen, Individualtouristen und Reisegruppen mit verschiedenen
Zielen begegnen der Bevölkerung gleichermaßen.
Man könnte die Reisenden als Pilger bezeichnen, denn dies entspricht
der Tatsache, daß sie zu heiligen Orten reisen und an sakralen Feierlichkeiten
teilnehmen. Mit Pilgerreisen werden meist andere Vorstellungen verknüpft,
wie z.B. zu traditionellen Pilgerorten zu reisen. Dabei wird oft übersehen, daß
diese oftmals gleichermaßen Ähnlichkeiten mit reinen Vergnügungsreisen haben.
Die Zeit des Reisens, was eigentlich die arbeitsfreie Zeit darstellt, und
des Nichtreisens, was meist gleichbedeutend mit Arbeit ist, kann eingeteilt
werden in Reisen als sakrale Zeit und Arbeiten als profane Zeit.357 Dies entspricht der Durkheim’schen Tradition, der die sakrale Zeit als nicht-alltägliche
Erfahrung von der profanen, sich ständig wiederholenden, unterscheidet.358 In
diesem Zusammenhang ist es naheliegend, Reisende als Pilger zu definieren.
Begibt man sich zu traditionellen Pilgerorten wie z.B. Lourdes in Frankreich, wo die heilige Maria Wunder vollbracht haben soll, wird man der glei359
353
Ich gebrauche diesen Ausdruck im Sinne von van Gennep (1909).
Duden (1982:768): Reisende, Urlauber. (veraltet) Ausflügler, Wanderer, Bergsteiger. Tourismus: Das Reisen von Touristen, das Reisen in größerem Ausmaß, im größeren Stil als eine
Erscheinungsform der modernen Gesellschaft; Fremdenverkehr.
355
Duden (1982:768)
356
Die Tour (tur; gr.-lat.-fr.- Dreheisen, Drehung, Wendung) wird für Ausflug, Fahrt und Exkursion benutzt. abwertend für Art und Weise, mit Tricks und Täuschungsmanövern etwas zu
erreichen, Vorhaben und Unternehmen (das nicht ganz korrekt ist). Umdrehung, Umlauf eines
routiteirenden Körpers, bes. einer Welle. ..(Duden, 1982:768)
Vgl.:Graburn 1977.
357
(Graburn 1977:20) bezieht sich dabei auf das Modell von Leach (1961:132-36), der hier Zeit
in sakrale und profane einteilt, was er als wichtige Perioden des sozialen Lebens ansieht. Jede
Festivität stellt einen Unterschied, eine zeitliche Veränderung zur normalen profanen Regelung dar. Von der sakralen Zeit wird wieder zurückgekehrt in die alltägliche profane Zeit. Das
Jahr ist kalendarisch geprägt von kollektiven und individuellen Festtagen.
358
Durkheim 1912.
359
Ausführliche Beschreibung findet sich bei Giuriati und Lanzi (1994:57-80).
354
144
chen Infrastruktur gewahr wie an einem Strandbad an der Côte d’Azur. Das
Erscheinungsbild der Örtlichkeiten unterscheidet sich durch geographische,
lokale und architektonische Besonderheiten, die kommerziellen Absichten sind
jedoch die gleichen. Parallelen im Verhalten der Besucher, Pilger und Touristen können treffend vorgefunden werden. Die Ähnlichkeiten zwischen touristischen Pilgern und pilgernden Touristen sind groß.360
Urformen des Reisens kennen wir von Jägern und Sammlern, Nomaden,
die in Folge von klimatischen und ökonomischen Bedingungen und Besonderheiten ihre Standorte wechselten. Hier stellt Reisen und Mobilität das Prinzip
des Überlebens dar. Wandern war ihre Form, ihre Lebensmittel zu beschaffen,
sich zu ernähren, was mit Arbeit gleichzusetzen ist.361 Auch von ihnen sind
heilige Plätze bekannt, die sie besuchen.
Dabei kann es sich ebenfalls um eine Verbindung aus alltäglichen Reisen
und Pilgerreisen handeln. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, wo und wann
die sakrale Zeit einsetzt und ob diese Einteilung überhaupt sinnvoll ist, da sie
für Teilnehmer anders als für Beobachter definiert wird.362
Die Wertung der Feste ist kulturell verschieden. Ebenfalls sakrale und
profane Zeit werden kulturell unterschiedlich erlebt und auch verschieden
analysiert. Die ekstatischen Momente, Situationen und Erlebnisse, die mit der
als sakral gedeuteten Zeit einhergehen und eindeutig von Reisenden sowie
Seßhaften gesucht werden, können sowohl individuelle als auch kollektive Bedürfnisse befriedigen und vom Wandel der Zeit beeinflußt werden.
Der heilige Ort, an dem Feste und Rituale stattfinden, muß bestimmt
werden. Dies geschieht infolge einer Sinnstiftung, oft verbunden mit konkreten Ereignissen, die dazu führt, daß Plätze und Orte als heilig betrachtet werden. Es handelt es sich dann folgend um einen Pilgerort, wenn er kollektiv
anerkannt ist; wie dies z.B. bei den Lakota in Nordamerika der Fall ist. Die
Aboriginals in Australien besuchen auf ihren Wanderrouten heilige Orte, welche ihren jeweiligen Urahnen geweiht sind. Die Buddhisten pilgern zum Geburtsort von Buddha Gautama und zum Ort und dem Baum, unter dem er erleuchtet wurde.
In Salvador wird bei öffentlichen Festen meist eine der vielen katholischen Kirchen in den verschiedenen Stadtteilen zum sakralen Ort, mit deren
Weihung ausgelassene Volksfeste auf den Straßen einhergehen. Parallel dazu
werden die orixás, welche zum selben Ort gehören, von den Anhängern des
candomblés verehrt. Beim candomblé sind die heiligen Orte, welche geweiht
werden, von gewissen Beschaffenheiten abhängig, welche im Zusammenhang
360
Es ist erforderlich, Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Typen zu treffen, dazu
werde ich an späterer Stelle ihre Motive beleuchten. Sievers (1994:14) empfiehlt die Unterscheidung in „genuine pilgrim“, „pilgrim tourist“ und „tourist“.
361
Vgl.: Zinser (1977:90).
362
Am Beispiel Salvador und seinen Festen zeigt sich, daß für Mittel- und Oberschicht ein Fest
sakrale Zeit sein kann, was für die Unterschicht gleichzeitig jedoch oft Zeit der Arbeit und des
Dienstes darstellt.
145
mit den jeweiligen Vorlieben und Zuordnungen zu den einzelnen orixás stehen.
3.1.3 Am heiligen Ort
Wenn man davon ausgeht, daß Pilger und Touristen sich in sakraler Zeit befinden, wird die Örtlichkeit, wie schon ihr Name sagt: Salvador da Bahia „de Todos os Santos“- in der Bucht aller Heiligen, zum heiligen Platz. Natürlich wird
Salvador von den meisten Besuchern nicht als Stadt wie jede andere empfunden. Kaum jemand, der ihrem Charme nicht erliegt. Sei es nun wegen der ominösen Magie, welche die heiligen Plätze ausstrahlen sollen und mit der
ständig Propaganda gemacht wird, wegen der Bucht der Allerheiligen mit
schönen Stränden oder wegen der guten Infrastruktur für die Touristen oder
wegen des immensen Stolzes der Bevölkerung über ihre Stadt, welchem sie
ständig Ausdruck verleihen.
Salvador da Bahia ist seit längerem beliebtes Ferienziel für Brasilianer
aus dem Süden des Landes. Im Sommer werden die Palmenstrände und die
malerische Altstadt von diversen inländischen Touristen der brasilianischen
Mittelschicht besucht. Salvador spielte aber bis vor einigen Jahren im Bereich
des Tourismus eine untergeordnete Rolle, da der Nordosten Brasiliens auch
den Ruf von Armut und Sklaven hatte. Für die Ferien wurden von Mittel- und
Oberschicht immer andere renommierte und teurere Strandorte und Städte
Brasiliens wie z.B. Buzius bei Rio de Janeiro bevorzugt.
Durch Werbung dehnte sich das touristische Einzugsgebiet im letzten
Jahrzehnt auf Salvador aus. Da vor der brasilianischen Währungsreform hier
Ferien für Argentinier viel preiswerter waren, reisten viele Argentinier an.
Dies ist nun durch die Angleichung der brasilianischen Währung an den Dollar
rückläufig geworden. Von anderen südamerikanischen Ländern reisen nur ganz
wenige Touristen an. Die Strände Rios und Rio de Janeiro selbst blieben immer
die Hauptattraktionen des brasilianischen Tourismus, nicht zuletzt weil der
Karneval in Rio de Janeiro großes Ansehen genoß.
In den letzten Jahren jedoch, durch die rasante Kommerzialisierung des
Karnevals in Rio, verlor er seinen traditionellen Charakter eines Straßenfestes
für jedermann. Geblieben ist für Touristen das Sambodrom, wo die “escolas
de samba” ihre Tänze, Kostüme und ihre Musik für einen ausgewählten Kreis
von Zuschauern, die den hohen Eintrittspreis bezahlen, präsentieren. Ursprünglichen Straßenkarneval gibt es nur noch in der zona norte, dem Stadtteil der armen, meist schwarzen Bevölkerung der Stadt. Weiße Brasilianer und
Touristen betreten diese Stadtteile nicht und schon gar nicht zu Festen, bei
denen Menschenmassen durch die Straßen samba tanzen, unter ihnen Betrunkene und Diebesbanden. Die Zeitungen im Land wie auch in Europa berichten
jedes Jahr über Mord und Totschlag während der Karnevalszeit in Rio.
Bekannt war der Karneval in Salvador, Olinda und Recife, Städten im
Nordosten des Landes. Brasiliens Nordosten hat im Land den schlechtesten
Ruf, da die Bevölkerung hier meist arm ist und das Gebiet aus vorwiegend e146
hemaligen Zuckerrohrplantagen besteht. Brasiliens Industrie ist überwiegend
in São Paulo, im Süden angesiedelt. Der Nordosten hat das Image von ehemaligen Sklaven, armen Bauern, Macumba, Armut und Dürre. Recife wurde zum
Zentrum des Sextourismus. Im Sommer landen täglich diverse Flugzeuge (sogenannte Bumsbomber), beladen mit männlichen Besuchern aus der ersten
Welt, die beabsichtigen, sich mit mehr oder weniger hübschen Prostituierten,
meist Mulattinnen, ein oder zwei schöne Wochen am Strand zu gestalten.
Abschluß des brasilianischen Sommers bildet der Karneval im Februar
oder Anfang März. Der Karneval von Salvador orientierte sich, nachdem Rio de
Janeiro die Hauptstadt wurde, immer an dem berühmten von Rio. Jedoch hatte Salvador seine Eigenheit des Festes als Straßenkarneval für jedermann nie
verloren und hat seinen eigenen, afrikanisch angehauchten Charme, und die
fast gänzlich entblößten samba tanzenden Gruppen sind nicht vorhanden. In
den letzten Jahren wurde er (siehe Kapitel Karneval 4) berühmt und berühmt
gemacht.
Der Pelourinho ist nun fast durchgängig fertig restauriert und das eigentliche Zentrum des Tourismus. Die Altstadt, errichtet von den Portugiesen,
bzw. ihren Sklaven, besteht aus Gebäuden des portugiesischen Barock und
vielen Kirchen, hauptsächlich aus dem 17. Jahrhundert. Enge Gassen und
Pflastersteinstraßen winden sich durch die Hügel und Täler dieses Stadtteils.
Oberstadt und Unterstadt sind durch den Lacerda-Aufzug, ebenfalls eine touristische Sehenswürdigkeit, verbunden. Im Tal unten befinden sich der Hafen,
das “commercio-Geschäftsviertel und der “mercado modelo”, der ehemalige
Sklavenhandelsplatz, heute ein touristisches Zentrum für Souvenirs und
touristische Shows.
In der Bucht “Bahia de todos os Santos” (Allerheiligenbucht) befinden
sich viele Inseln mit Palmenstränden, die von den Touristen frequentiert werden. Salvador selbst ist von Stränden umgeben, die sich vom Süden der Stadt,
dem reichen Stadtteil Barra, bis in den Norden ziehen. Nördlich der Stadt entstanden kleine Stranddörfer mit Essens- und Übernachtungsmöglichkeiten für
Touristen. Ein Gebiet von mittlerweile ca. 150 km, die “linha verde”, besteht
heute aus Strandvillen, Etagenappartements mit Swimmingpools für Touristen,
Restaurants, Snackbars, Strandbaracken, und ist so ausgestattet mit einer
kompletten Infrastruktur. Manche dieser Gebilde sind noch im Bau, andere
werden schon benutzt und verfügen über eine Kapazität für derzeit 30.000
Touristen. Ehemals handelte es sich um winzige Fischerdörfer am Meer.
Für Salvador und Bahia ist der Tourismus derzeit die einzige übriggebliebene Chance, Arbeitsplätze zu schaffen und Devisen ins Land zu bringen.
Als Ferienort hat man ihm nun im ganzen Land und darüber hinaus einen begehrten Ruf geschaffen.
3.1.3.1.1
Massentourismus
Angefangen hatte der überregionale Strandtourismus in den 60er Jahren, als
Janis Joplin, andere Musiker und Hippies aus den Vereinigten Staaten das Fischerdorf Arembepe, 40km nördlich von Salvador, für sich in Beschlag nah147
men. Das gleiche Phänomen findet sich weltweit wieder. Die Hippies der 60er
Jahren bildeten eine moderne Spezies von Entdeckern, Eroberern und Ausbeutern363 und waren wegbahnend für den sich später entwickelnden Massentourismus.
Mangels Infrastruktur entwickelte sich der regionale und überregionale
Massentourismus in Salvador und Umland sehr zögerlich. Er wird im Laufe der
nächsten Jahren seinen Höhepunkt erreichen oder sich noch mehr vergrößern.
Voraussetzung war die Schaffung des nötigen Ambiente.
Typisches Merkmal des Massentourismus ist, daß die Personen nur ein
bis zwei Tage in der Stadt bleiben, meist verbunden mit dem Aufenthalt in
“Praia do Forte”, dem derzeit berühmtesten und schicksten Stranddorf. Der
Aufenthalt in der Stadt und in Praia do Forte ist in den in Deutschland und Europa angebotenen Südamerikarundreisen, sowohl der kleinen als auch der großen, mit der Dauer von zwei bis drei Wochen, inbegriffen. In den Vereinigten
Staaten sind ähnliche Reisen im Angebot, verbunden mit dem Aufenthalt in
Salvador und am Strand.
In Europa sind Pauschalreisen im Angebot sowie billige “Last-MinuteFlüge”, bei denen die Touristen kaum wissen, wohin sie sich bewegen werden.
Die Informationen, die sie erhalten, sind derart gestaltet, daß sie sich an einem Palmenstrand aufhalten werden in der Nähe einer modernen und barocken Stadt. Manchmal wird ihnen noch mitgeteilt, daß Bahia nicht so gefährlich ist wie Rio de Janeiro.364
Last-Minute-Touristen können zur Gruppe der Individualtouristen geordnet werden, da sie nicht in geschlossenen größeren Gruppen reisen. Manchmal
erscheinen sie alleine oder zu zweit. Sie erwarten meistens einen geruhsamen
und erholsamen Strandurlaub in netten, sauberen Hotels am Strand mit für sie
einigermaßen genießbarem, das heißt an Europa orientiertem Essen, was ihnen die Reisebüros vor der Anreise versprochen haben. Mit diesen Ansprüchen
gleichen sie den Massentouristen.
Eine andere Gruppe von Individualtouristen reist aus verschiedenen Motiven an, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Sie sind meist länger
als drei Wochen unterwegs, machen zum Teil eine Brasilienrundreise, Südamerikarundreise oder Weltreise. Oftmals halten sie sich länger in Salvador auf.
Nicht nur das große Angebot an Zerstreuung und Amüsement fesselt sie, sondern sie betonen ebenfalls, daß die spezielle offenherzige baianische Mentali-
363
Ich will hier auf keinen Fall verallgemeinern, aber es gibt genug Beispiele, wie im Falle des
Ortes Goa in Indien, die dies bestätigen. Die dortige Bevölkerung mit vom Hinduismus geprägten Moralvorstellungen wurde konfrontiert mit rauschgiftnehmenden Hippies, die nackt
auf Motorrädern durchs Dorf rauschten. Beispiele der Ausnutzung von Gastfreundschaft und
Großzügigkeit der verschiedenen Bevölkerungen auf der Welt existieren in Mengen.
364
Die Medien verbreiten über Brasilien fast ausschließlich die Information, daß es in Rio de
Janeiro viele Überfälle, Bandenkriege, Diebstahl und ähnliches gibt. Manche Zeitschriften informieren noch über die Abholzung des Regenwaldes und die bedrohten Ethnien des Amazonas sowie über die Verbreitung von Aids in Brasilien.
148
tät für die meisten von ihnen sehr attraktiv sei. Viele kommen deshalb in den
darauffolgenden Jahren wieder.
3.1.3.2 Motive der Touristen für die Wahl dieses Reiseziels
“...Wenn irgendwo auf Erden das irdische Paradies existiert, so kann es nicht
weit von hier gelegen sein!...”
(Stefan Zweig 1994:23, Original 1941)
Pilger, Abenteurer und Jäger nach neuem Glück sind nicht ausgestorben, jedoch das Erscheinungsbild hat sich verändert. Der moderne Pilger ist
ein Individualist, seine geistigen und moralischen Ideale sind keinem starren
Glaubensdogma unterworfen; falls es sich um einen New-Age-Pilger handelt,
kann er heute auf den Philippinen bei den Geistheilern erscheinen, morgen
besucht er einen Atemkursus im Senegal, und übermorgen erscheint er in der
Allerheiligenbucht des magischen Salvadors. Dabei ist er inspiriert von der
Werbung, den modernen Reiseführern, dem Angebot dessen, was momentan
auf dem Reisemarkt erhältlich ist.
Bei informellen Gesprächen und Beobachtungen stellte sich heraus, daß
die Gruppe derer, welche esoterische Sensationen wünscht, ebenfalls ein modernes Phänomen in Salvador darstellen. Sie besuchen candomblé-terreiros,
umbanda-Priesterinnen und Wahrsagerinnen.
Die Kategorie des gewachsenen, natürlichen und ursprünglichen Pilgers
zu finden ist eher unwahrscheinlich und zufällig, unter den älteren Pauschalreisenden sind katholische Gläubige dabei, deren Hauptanliegen es ist, die
Wunderwerke des Katholizismus in seinen architektonischen Formen, übrigens
alle von Sklavenhänden erschaffen,365 zu bewundern.
Pilger, die ganz gezielt eine der afro-brasilianischen Kultstätten aufsuchen, schon Anhänger einer und nur dieser Glaubensform sind, stellen ebenfalls eine Rarität dar. Viele gelangen durch die eindrückliche Werbung der
Reiseführer auf den Straßen, Hotels oder des offiziellen Organs für Touristik
„Bahiatursa“ zu einem der öffentlichen religiösen Feste.
Die Motive der Touristen, welche den candomblé besuchen, sind unterschiedlich. Die Mehrzahl erscheint aus Neugierde, angelockt durch Beschreibungen der ekstatischen Tänze, Trommeln und Gesänge, Speisen und anderen
exotischen, magischen und einzigartigen Dingen. Sie suchen teils das außergewöhnliche Erlebnis einer nächtlichen Séance, verbunden mit dem Gefühl
des Gruselns, der Angst selbst, die Kontrolle über sich zu verlieren, purer Sensationslust, Langeweile oder um einen Abend zu füllen.
Wieder andere „tanken“ bzw. konsumieren Kultur, bilden sich über die
afro-brasilianischen Religionen, wobei sie, so meine Beobachtungen aus den
Gesprächen mit ihren Führern, einen Minimalzusammenhang vermittelt be365
Dies wird in allen Reiseführern nicht erwähnt, daß viele Menschen dafür ihr Leben als Sklaven opfern mußten.
149
kommen. Unter den Langzeittouristen befinden sich einige, die immer wieder
erscheinen und die Geborgenheit der Gemeinschaft sowie die afrobrasilianischen Götter lieben lernen und wenn sie nicht echte Anhänger des
Glaubens werden, zumindest damit liebäugeln.
Die Spezies der modernen Jäger und Sammler, heute isoliert ohne ihr
Kollektiv reisend, das sie zu Hause zurückgelassen haben und bei denen das
Reisemotiv nicht unbedingt als Überlebensnotwendigkeit erscheint, ist recht
unspezifisch. Jeder steht unter dem Verdacht, einer zu sein, der Ethnologe
und Berufsreisende nicht ausgeschlossen. Die einen jagen Frauen- oder Männerherzen und sexuellen Freuden nach, andere ekstatischen Erlebnissen
manchmal verbunden mit cachaça-Genuß, Musik, Karnevalstaumel oder
Strandfreuden, Sonne und idyllischer Urlaubsatmosphäre. Die Kultur-, Bildungs- und Kunstjäger und -sammler sind dagegen in der Minderheit.
Gewisse Strukturen sind durch das Reiseangebot vorgegeben: Die Pauschalreiseangebote beinhalten Last-Minute-Flüge, die kleine und die große
Südamerikareise oder Brasilienrundreise, die ein bis zwei Tage Salvador vorsieht und gegebenenfalls um eine Woche Strandleben ausgedehnt werden
kann, als Abschluß und zur Erholung von der gesamten Reisestrapaze.366
Alleinreisende reisen zum Teil für eine festgelegte Zeitspanne an, andere aber auch für eine unbestimmte Zeitdauer. Manche Langzeit- und Kurzzeitreisende befinden sich in Salvador auf der Durchreise, andere verweilen
gezielt an diesem Ort, oder sie sind hier zum Teil aus den verschiedensten
Gründen hängengeblieben.
Nach den Statistiken von Bahiatursa von 1994 und 1995 reisten im dortigen Sommer ca. 600 000 Touristen zum Karneval an. Sie werden in aus dem
Inland und dem Ausland stammend untergliedert.367 Ausländer werden zudem
366
Von diesen Angeboten kann man sich im nächsten Reisebüro überzeugen.
Die Gesamtmenge an Touristen betrug im Jahr 1994 2.538.000, darunter 328.500 Ausländer,
nach der Statistik von Bahiatursa 1995. Von 1993 zu 1994 haben die Touristen in Salvador
um ca. 180.000 Personen zugenommen und die Ausländer um 13.500. Laut dieser Statistik ist
der Tourismus von 1990 bis 1994 um 47,1% angestiegen. Touristen aus Argentinien (29,8%)
war 1994 anteilig an der Spitze, und Deutschland (11,9%) und Italien (10,7%) folgten.
Nach einer anderen Statistik von Bahiatursa von 1993 betragen die Ausländer 18% anteilig an
der Gesamtmenge der Touristen.
1995 soll Deutschland an der Spitze der anreisenden Touristen liegen (Salvador-Express März
1996, S.2.) Diese Statistik berichtet jedoch nur von 153262 ausländischen Touristen insgesamt. Demnach soll der Anteil an Ausländern gegenüber 1990 von 21% auf 12% gesunken
sein, bedingt durch die stattgefundene Verteuerung durch die Währungsreform.
Die Zeitungen A Tarde und Bahia Hoje berichten jedes Jahr zur Karnevalszeit über Steigerungen im Tourismusbereich, sowohl bezüglich In- als auch Ausländer. A Tarde 20.1.95
berichtete von absinkendem Tourismus innerhalb der ersten 11 Monate von 1995. Die
genannten Deviseneinnahmen durch Tourismus sollen zwischen 591 Mio. US-Dollar und
1150 Mio. US-Dollar liegen (Statistik von Bahiatursa 1995).
Durch den Tourismus sollen 445000 Arbeitsplätze geschaffen worden sein. Auch diese Statistik ist nicht wirklich aussagekräftig, da viele nicht erfaßte Personen in der Tourismusbranche
und zum Teile ebenfalls nur temporär tätig sind. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß
trotz den angestiegenen Preisen seit der Währungsreform der in- und ausländische Tourismus
im nun langsameren Steigen als die Jahre kurz vor der Währungsreform begriffen ist. Die
367
150
nach Ländern in Prozentzahlen, Deutschland und danach Italien an der Spitze,
spezifiziert. Berufsreisende werden von den Statistiken nicht berücksichtigt,
ebenso wenig wie Personen, welche sich sowohl aus beruflichen, als auch wegen touristischen Belangen am Ort aufhalten.
Wie alle „magischen Plätze und heiligen Orte“ der Welt, ist auch Salvador ein Anziehungspunkt für Forscher und Entdecker. Genußfördernde Infrastruktur, klimatische Wonnen, umgängliche, liebevolle Einheimische sowie
kulturelle Vielfalt bieten ein Paradies für Ethnologen, Soziologen, Kommunikations- und Kulturwissenschaftler sowie Angehörige der Tourismusbranche. Die
Möglichkeiten, bedingt durch dieses reichhaltige Angebot, sind für sie mannigfaltig.
Der Kulturaussteiger hat ebenso viele Möglichkeiten: Pensionen, Hotels,
Restaurants, Bars, Tourismus und Sprachunterricht sind die gängigsten Erwerbsbranchen von ihnen. Abenteuerlicher und zweifelhafter gestalten sich
Drogenhandel und Straßenverkauf von Kunsthandwerk. Die Zahl derer, die solche Tätigkeiten ausüben, ist ebenfalls wie die der obigen Kategorie schwer zu
erfassen, bedingt durch ihr nicht kontinuierliches Kommen und Gehen.
Die Grenzen zu ziehen zwischen Langzeittouristen, Langzeitpilgern,
Langzeitjägern und Sammlern, Berufsreisenden und Kulturaussteigern ist ein
hoffnungsloses Unterfangen, das höchstens ein gedankliches Konstrukt nach
sich zieht. Aus vielen Einzelgesprächen schließe ich, daß sie aus einer Mischung der verschiedenen Motiven handeln. Einerseits haben sich Langzeittouristen und Kulturaussteiger den Ausnahmezustand zum Alltag gemacht, wodurch der Alltag gewonnen zu haben scheint; andererseits spielen für die
betreffenden Personen bessere klimatische Verhältnisse, individuelle, oftmals
abenteuerliche Lebens- und Berufsbedingungen sowie eingegangene neue Familien- und Liebesbeziehungen, neue Gewohnheiten und Angst vor dem Zurückkehren eine Rolle für das Bleiben.
Alle die von mir genannten Personengruppen können als Touristen kategorisiert werden. Auch Geschäftsreisende und Forscher, die ebenfalls einen
Teil des touristischen Angebots der Gastgeber nutzen, tun nur nicht ausschließlich das Gleiche, wie die anderen Touristen.368
3.2 Das Spannungsfeld: Begegnungen
Gästen and Gastgebern
zwischen
Bei Begegnungen zwischen Touristen und Bevölkerung findet ein sogenannter
interkultureller Austausch statt, da Personen aus verschiedenen Kulturen miteinander in Kontakt treten. Dieser Bereich ist vielschichtig, ein Spiel der Interaktion zwischen Menschen verschiedener Interessen und Bedürfnislagen
Dauer des Aufenthalts der Touristen hat sich verkürzt, da sich viele nur noch kürzere Aufenthalte leisten können.
368
Vgl.: Smith (1977:2).
151
beginnt. Bei meinen Beispielen der Kontaktebenen werde ich gleichzeitig bewußte und unbewußte Motive herausarbeiten.
Der Komplex des interkulturellen Austausches weist viele Facetten auf.
Er wird von beiden Seiten mit Beispielen beschrieben, die durchaus positiv zu
bewerten sind und beide Seiten oberflächlich betrachtet zufriedenstellt. Jedoch präsentieren sich sowohl Touristen als auch Afro-Brasilianer in einem
anderem Bild als dem, welches der tatsächlichen Realität entspricht. Auskünfte darüber, warum dies so ist, waren von den betroffenen Personen nicht zu
erzielen, da darüber nicht gesprochen werden soll. Für die Schlußfolgerungen
sind meine Beobachtungen wesentlich.
Touristen genießen ein Image, das mit einer Macht gekoppelt ist, welche der Situation zu Hause widerspricht. In den Heimatländern sind sie oftmals ohnmächtig ihren gesellschaftlichen Bedingungen und dortigen materiellen Verhältnissen ausgeliefert und gehören meistens eher zu den Unterschichten. Da sie sich Ferien leisten können, werden sie als zu höheren Gesellschaftsschichten gehörend betrachtet.
Touristen spielen König und Königin, weil sie in Bahia bei der vorwiegend armen Bevölkerung als reich angesehen werden. Ihr Kontaktpartner, die
baianische Bevölkerung, sieht sie in diesem Licht und wünscht sich, mit ihnen
zusammen für kurze Zeit mehr Luxus zu genießen, als sie sich selbst leisten
können, bzw. profitiert bei Geschäften von dem scheinbar vorhandenen Reichtum. Touristen reflektieren nicht darüber, sondern genießen das Image, das
nicht ihrer Realität in ihren Heimatländern entspricht. Das Gleiche spielt auch
in den Geschlechterverhältnissen eine große Rolle, wie das nachfolgende Beispiel verdeutlichen wird.
Der dicke, rotgesichtige, tolpatschige, dumm erscheinende Bäcker aus
Schwaben genießt jeden Nachmittag die untergehende Sonne am Strand bei
Bier, Fisch und in Gesellschaft einer blutjungen, zarten Mulattin, die dem
gängigen Schönheitsideal entspricht. Er hat einen Last-Minute-Flug nach Salvador gebucht, weil dieser billig war. Er sagt, daß er noch nie so glücklich war
und es nicht begreifen kann, welch schöne Frau ihn begehrt.
Die Frau kommt aus dem Hinterland, macht Ferien bei den Verwandten
und kann ihr Glück nicht fassen, von einem weißen, reichen Mann begehrt zu
werden. Bald werden für beide die Ferien und der Sonnenschein zu Ende sein,
und zurück bleibt der Traum, König und Königin gespielt zu haben.
Diese Beziehung hat keine Zukunft, weil sich die beiden dagegen entscheiden; sie ist noch ein halbes Kind und untersteht der väterlichen Fürsorge
und entflieht ihr nicht; er traut sich nicht, mit einer blutjungen Mulattin, deren Sprache er nicht spricht, in Schwaben aufzutauchen. Beide haben eine
Aufwertung ihres Selbstbildes und eine romantische, auf Dauer unerfüllbare
Liebesgeschichte erlebt, für eine kurze Zeitspanne. Der Mann berichtet, daß
er in Deutschland wesentlich weniger Chancen bei Frauen hat. Hier kann er
für wenig Geld eine Frau ausführen und ihr Luxus bieten und fühlt sich in einer
mächtigeren Position als zu Hause.
152
Andere Beispiele beinhalten eine kulturelle Aufwertung der ärmeren
Bevölkerungsschicht, die sich zum Teil nachhaltiger auswirken. Die capoeiraund Tanzschulen werden von vielen Ausländern besucht, die zum Teil gegen
Bezahlung am Unterricht teilnehmen. Andere Touristen wünschen zu photographieren, dies geschieht manchmal gegen ein Entgelt. capoeira und Tanz
wird innerhalb der baianischen Gesellschaft nicht als Kunst bewertet, sondern
eher als die Beschäftigung der Asozialen, Armen, der Schwarzen, die sonst für
nichts zu gebrauchen sind.
Die sozialen Aufwertungen der Touristen, bedingt durch Interesse, Bewunderung und Geld, sind eng geknüpft an den baianischen Sommer, auch
dieser ist flüchtig. Die Touristen verbreiten jedoch das Bild, das sie erhalten
haben, in der westlichen Welt und machen auf diese Art die Künste bekannt.
In vielen europäischen und amerikanischen Großstädten wird mittlerweile
afro-brasilianischer Tanz und capoeira369 unterrichtet, und dadurch erscheinen
wiederum immer mehr Tanz- und capoeira-Touristen. Dies stärkt das Selbstbild der Künstler auf Dauer, wenigstens solange wie capoeira und Tanz in
Mode sind.
Doch für die meisten ist der tägliche Überlebenskampf hart, der
Sommerferien-Schein trügt, und das restliche Jahr bis zum nächsten Sommer
ist lang. Die einzige Chance auf Dauer ist, daß der Tourismus zunimmt, die
Medien weiterhin die Propaganda betreiben, Bahias Folklore und Magie sei
sehens- und erlebenswert. So hoffen viele, daß dies keine Mode ist, die
vorübergeht. Schon Weiße aus dem Mittelstand beginnen capoeira, Tanzen
und Trommeln zu lernen. Wenn sie es gut können, haben sie viel größere
Chancen als die Schwarzen, damit zu arbeiten und Geld zu verdienen. Wer
weiß ist, dem stehen viele Türen offen. Schwarz ist nach Sichtweise der
meisten Weißen der brasilianischen Gesellschaft nur gut für Sklaven- und
Dienstbotentätigkeiten und fürs Bett.
Mit der Gefahr, die mit der Folklorisierung der afro-brasilianischen Kultur einhergeht, daß dies einen weiteren Wertverlust, eine Wertverschiebung
und Kommerzialisierung mit allen Konsequenzen nach sich zieht, will sich
niemand auseinandersetzen. Als erstes gilt es für die baianische Bevölkerung,
die materiellen Bedürfnisse mittels des Kommerzes mit dem Tourismus zu befriedigen und für die Touristen einen gelungenen Urlaub zu arrangieren.
Wie beschrieben, beinhaltet das Zusammentreffen von den Gastgebern
und Gästen aus verschiedenen Kulturen eine vielschichtige Problematik, welche ebenfalls das Zusammentreffen von bewußten und unbewußten Motiven
der Kontakte und Verhaltensweisen betreffen. Es treffen nicht zwei einheitliche Gruppen mit klaren Interessen, die auf ein Ziel gerichtet sind, aufeinan-
369
Zum Wortursprung existieren verschiedene Theorien, die ich hier nicht weiter ausführen
will, die wahrscheinlichste sieht in dem Begriff eine Ableitung aus der Tupi-Sprache mit der
Bedeutung “gerodete Waldlichtung”, was auf den Ort, an dem die capoeira praktiziert wurde,
hindeuten würde. Als capoeira wird ein brasilianischer Kampftanz mit afrikanischen Wurzeln
bezeichnet.
153
der, sondern verschiedene Gesellschaftsschichten, die bewußte und unbewußte, offene und versteckte Kämpfe gegeneinander austragen und verschiedene
Wünsche sowie Ängste haben. Fremdsein hat für beide Seiten, außer Faszination, Komponenten von Bedrohlichkeit und Mißtrauen. Es begegnen sich zudem
keine durchschaubaren, klar einzuordnenden Individuen, sondern Personen aus
komplexen, für den anderen unbekannten Gesellschaften mit fremden Regeln
und Verhaltenskodices.
Die Klassen der Einheimischen haben als gesellschaftlichen Hintergrund
eine streng reglementierte rigide Hierarchie, deren hauptsächliche Problematik Rassismus, Ausbeutung, Gewalt, Macht, Angst und Feindbilder darstellt. Da
sich die Gesellschaft scheinbar als nicht rassistisch gibt, was ihre Mitglieder
meistens im Gegensatz zur USA positiv hervorheben, schwellen die Konflikte
unter der Oberfläche, für den Touristen nicht durchschaubar. Das Beispiel des
Umgangs mit den Touristen spiegelt alle Handlungsvarianten, wie mit Rassismus verknüpfte Emotionen ausgetragen werden und der Tourist als Ventil
mißbraucht wird. Die verschiedenen baianischen Gesellschaftsschichten stehen auch hier in harter Konkurrenz um materiellen und emotionalen Profit am
Tourismus untereinander.
Die Touristen untereinander bilden oft, bedingt durch gleiche Unterkünfte und Besuche der selben Lokalitäten und ähnlichen Freizeitbeschäftigungen, Notgemeinschaften, um sich den Umgang mit dem Fremdsein zu erleichtern. Ihre größten Probleme sind Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten sowie der Umgang mit der fremden Kultur und den eventuell auftauchenden Gefahren. Untereinander sind sie keineswegs als einheitlich zu betrachten, auch bei ihnen spiegelt sich die soziale Schichtzugehörigkeit im Heimatland im Verhalten sowie verschiedene Arten der materiellen und emotionalen
Gewinnerwartung und -erfüllung durch die Gastgeber.
Sie beobachten sich untereinander ebenfalls mit Mißtrauen und finden
sich eher in Gruppen gleicher Schichtzugehörigkeit zusammen und grenzen
sich gegenüber den Mitgliedern anderer Gesellschaftsschichten ab. Ihr Wissensstand über Land und Leute ist sehr gering, und sie schaffen sich kein oder
nur ein kärgliches Bild über die Kultur ihrer Gastgeber.
Kulturflüchtlinge sind ebenfalls unter ihnen, die jedoch oftmals unreflektiert ihre eigene Gesellschaft ablehnen und die unbekannte Kultur der
Gastgeber romantisieren, als die bessere ansehen. Sie unterliegen oftmals
dem Trug des Sonnenscheins und der ihnen präsentierten baianischen Fröhlichkeit.
Die ausländischen Pauschaltouristen, wohl behütet von Fremdenführern, die nur ein, zwei Tage am Ort weilen, möchte ich hier nicht weiter berücksichtigen, bei ihnen sind Erwartungen und Handlungsweisen meist klar
umrissen. Die von den Einheimischen erwarteten Verhaltensweisen werden
von beiden gesellschaftlichen Klassen erfüllt. Sowohl Weiß als auch Schwarz
tritt scheinbar freundlich in Kontakt, unfreundliche Worte und Redeweisen
werden nicht verstanden. Sie leisten erwartete Dienstleistungen und verkau154
fen ihnen einheimische Produkte, deren Erwerb als günstig und materielle Bereicherung angesehen wird.370 Die Einheimischen erhalten dafür die Bezahlung, die je nach Schichtzugehörigkeit ebenfalls mehr oder weniger festgelegt
ist. Die Fremden verhalten sich oberflächlich betrachtet freundlich, Unhöflichkeiten werden ebenfalls nicht verstanden.
Die eigentlichen Probleme beim Umgang miteinander werden von Gästen und Gastgebern nicht gesehen und verdrängt. Die Gäste wollen sich nicht
auseinandersetzen oder Verständnis für die Kultur des Gastgebers gewinnen,
da ihr Ziel und ihre Zeit ausschließlich der Erfüllung ihrer Ferien- und Freizeitwünsche gewidmet ist. Treten massive Konflikte auf wie Diebstahl, Raub
und Gewalt, werden sie gezwungen, einer anderen Realität ins Auge zu blicken. Dabei wird meist nur der/die Täter in der Situation beschrieben und
beschimpft und der Reichtum im Heimatland, wo dies nicht nötig ist, gelobt.
Sie bestätigen sich dann dabei selbst, daß zu Hause alles besser und geordneter ist, und grenzen sich vom Fremden ab.
Sie setzen sich daheim meist ebenfalls nicht mit ihren wahren Motiven
für Kontakte, Begegnungen sowie mit Bedürfnisdefiziten im Alltag auseinander. Im Urlaub möchte man sich ebenfalls nicht mit Problemen beschäftigen,
sondern Ablenkung von den vorhandenen bewußten erleben und verdrängte
Probleme verdrängt lassen.
Bahiatursa erwartet, daß der Tourist sich nicht weiter in der Stadt bewegt und Bilder aus dem wahren baianischen Alltag nicht an sein Auge dringen
mögen. Es wird zu Recht angenommen, daß Armut und gesellschaftlichen
Problemen ins Auge zu sehen, nicht zu den Ferienbedürfnissen zählen. Weiter
wird vorausgesetzt, daß sich der Tourist wie die weiße baianische Mittel- und
Oberschicht verhält, sich nicht von den ihnen zugeordneten Orten weg bewegt
und sich nicht mit Bildern der Armut und Gewalt auseinandersetzt. Deshalb
werden Ausnahmen touristischen Interesses wie z.B. das Besuchen von candomblé-terreiros in armen Stadtteilen mit Führern organisiert, und dabei
werden dort die reichsten terreiros ausgewählt.
Geschieht einem Touristen ein Unglück, wird er von den Gastgebern
meist zu ihrer eigenen Entlastung als selbst verantwortlich dafür oder als
dumm, sich falsch verhaltend angesehen. Das gleiche geschieht oftmals ebenfalls mit Einheimischen, wenn ihnen ein Unglück in der Gesellschaft, wie z.B.
beraubt zu werden, widerfährt. Nimmt der Tourist Armut zur Kenntnis, wird
am ehesten von allen Seiten erwartet, daß er seinen Geldbeutel, entweder am
Ort oder von zu Hause als Spende an Hilfsorganisationen, öffnet. Tourismus
370
Die Rollen sind festgelegt, die Pauschaltouristen sind sich ihrer Macht bewußt, die Verhaltenserwartungen impliziert, welche die Gastgeber erfüllen sollen. Die Angst, das Erwartete
nicht zum richtigen Preis zu bekommen und Dienstleistungen nicht gut genug erfüllt zu bekommen, kommt innerhalb der Gruppen u.a. in der Art zum Ausdruck, daß Vergleiche untereinander geführt werden. Die Gastgeber werden meist als „arme Schweine“ entschuldigt oder
als Touristenausbeuter beschimpft, wenn festgestellt wird, daß sie bei einem mehr Profit gemacht haben als bei einem anderen. Vor den Erfolgreicheren wird ungern weniger Geschicklichkeit zugegeben, der Geschicktere beweist sich durch seinen Erfolg gegenüber den anderen.
155
soll das materielle Leben erleichtern, aber ohne Probleme zu schaffen. Es
wird nur ein Minimalaufwand zur Problemlösung betrieben mit meist kurzfristigen Sichtweisen.
3.2.1.1 Gesellschaftlicher
mann zum König
Rollentausch:
vom
Bettel-
Der Tourist will sich nicht mit der Bedeutung davon auseinandersetzen, daß er
einen Luxus betreibt, den sich 90% der Bevölkerung nicht leisten kann. Er
sonnt sich in seinen Gefühlen der Imageaufwertung, welches ihm die Gastgeber ständig vermitteln. Die hinter den vielen Freundlichkeiten stehende Bedeutung, teilzuhaben an seinem Wohlstand, Image und mit anderen Klischees,
deutet er als Interesse an seiner einzigartigen Person. Nur so kann er sich als
König fühlen, im Gegensatz zu seiner Stellung im Alltag zu Hause, wo er meist
fremdbestimmt arbeitet und ein Jahr auf den Urlaub als das größte Freizeitvergnügungen spart.
Betrachtet man die Gruppe der Touristen, handelt es sich vorwiegend
um Mitglieder der Mittel- und Unterschicht in ihren jeweiligen Heimatländern.
Personen aus der Oberschicht scheinen sich touristisch besser organisierte Gegenden auszusuchen, wo Genuß teurer, aber einfacher zu erzielen ist. Auch
dies ist dem Wandel unterworfen: je mehr Luxushotels errichtet werden, desto mehr kann Bahia das von ihnen Erwartete bieten. Auch die baianische Oberschicht sondert sich ab und feiert an entlegenen Stränden und bei wohl
organisierten Privatfesten, unter Ausschluß der Öffentlichkeit.371
Kann man daraus schließen, daß besonders die Mittel- und Unterschicht
der Touristen an ekstatischen Ferienerlebnissen interessiert ist? Auch hier
scheint es sich ähnlich zu verhalten wie in der brasilianischen Gesellschaft.372
Die brasilianische Oberschicht besucht heimlich die auch für sie exotischen
schwarzen Wahrsagerinnen der candomblés, jedoch aus anderen Motiven als
die Unter- und Mittelschicht,373 und feiert ekstatische Momente zu Zeiten der
Volksfeste in den angrenzenden Villen, während das Volk auf der Straße tobt.
Die Ausrichtung der Ekstase-Erlebnisse scheint fest mit den finanziellen Mög-
371
Zur Veranschaulichung dient das Beispiel des schicken (und teuren) Mediterranée-Clubs auf
der Insel Itaparica in der baianischen Bucht vor Salvador. Hier wird bis ins Detail durchorganisierter Urlaub mit allerlei Sport- und Freizeitbetätigungen, immer unter Anleitung (und Aufsicht) angeboten. Die Touristen bleiben unter sich in wohl kontrolliertem Ambiente, wie auch
andernorts, weltweit, bei den verschiedenen Club Mediterranées üblich ist.
372
Eine umbanda-Wahrgerin und Heilerin in Berlin berichtet, daß sie viel von reichen, einflußreichen Personen der oberen Gesellschaftsschichten besucht wird, die persönliche Probleme
behandeln lassen. Sie scheinen dann, ihrer Aussage nach, allerdings das zehnfache zu bezahlen. Außer von ihr geschriebene Quittungen über horrende Summen für Behandlungen
(30000,- DM; 8000,-DM, etc.) beweist jedoch nichts die Richtigkeit ihrer Aussage. Sie versuchte mit ihrer Schilderung jedenfalls mein Vertrauen und meine Bewunderung zu erheischen. Auch Salvadors religiöse Spezialistinnen haben mir gegenüber aus gleichen Motiven
ähnliches erwähnt. Jedoch bestätigen Schilderungen der Oberschicht selbst diese Aussagen.
373
Die Oberschicht hat andere Ängste und gesellschaftliche Probleme wie die Mittel- und Unterschicht wie in Kap. 4 beschrieben.
156
lichkeiten verknüpft zu sein. Es gehört bei vielen Bahianern zudem zum
Image, auf Ober- und Mittelschichtfesten gesehen zu werden.
„Ich würde gerne mal mit dir auf das Straßenfest gehen, aber ich muß zu dem
Privatfest, alle Psychologen von Rang und Namen werden anwesend sein. Es
wird furchtbar langweilig werden, das Essen soll aber phantastisch sein. Auf
der Straße habe ich zudem Angst.“374
Die Langzeittouristen buhlen um Kontakte zu den für sie exotischen
Einheimischen, die ihrer Imageaufwertung dienlich sind, und die Einheimischen buhlen um die Touristen, von denen gleiches erwartet wird. Dabei stehen die Weißen und Schwarzen Salvadors in harter Konkurrenz zueinander,
und der Tourist merkt nicht, daß er es mit verschiedenen Klassen, die sich
untereinander mehr oder weniger subtil bekriegen, zu tun hat.
Keiner der sich begegnenden Gruppen ist sich darüber bewußt, daß der
Tourist bzw. der Fremde bestehende Bedürfnisdefizite im alltäglichen Kontakt
mit den sonst jeweils sozial und kulturell eingebundenen, vertrauten Beziehungen im Umgang mit dem jeweils Fremden kompensieren will und daß der
Fremde als Objekt zur Selbstaufwertung benutzt wird.
Verschiedene Rechtfertigungen für Kontaktaufnahmen werden vor mir
geäußert, welche die eigentlichen Motive dafür verdecken, bzw. beschönigen
sollen. Baianos betonen, wie hilflos die armen Touristen wären, wenn sie sich
nicht um sie kümmern würden und ihre Zeit opfern würden, um sich mit ihnen
zu beschäftigen, ihnen bei bürokratischen Wegen wie zur Bank, Büros, etc.,
Besorgungen und Freizeitgestaltung, Planungen und Durchführungen von Ausflügen u.v.a. helfen würden. Zudem würden sie ohne ihre Hilfe nichts von der
Stadt, Landschaft und Umgebung sehen können und wären außerdem den lauernden Gefahren des Unbekannten ausgesetzt wie Ausnutzung, Diebstahl u.a.
Die Touristen sehen sich ebenfalls als glückliche Helfer, die den armen
Einheimischen durch den Kontakt mit ihnen einen Hauch der fremden Welt
vermitteln und sie zudem finanziell unterstützen. Das hat unterschiedliche
Ausmaße, vom Begleichen der Rechnungen von gemeinsam konsumierten Ge-
374
Äußerungen wie diese bekam ich zu hören, die Wohlwollen mit mir und Anhänglichkeit zum
Ausdruck bringen sollten. Nach den jeweiligen Festen und den Schilderungen von beiden Seiten war immer klar, daß ich mehr Spaß hatte als die anderen Personen, die oft gelangweilt
nach Hause kamen und in ihrer privaten Zeit Kontakte zur Imagepflege geführt hatten. Meine
dortige Freiheit in diesem Bereich wurde beneidet, obwohl sie suspekt erschien.
Ich wohnte bei den letzten beiden Forschungen beim Mittelstand und Angehörigen des Oberstandes und pflegte dort Freundschaften, löste aber jedesmal, wenn ich ein Volksfest besuchte,
Irritationen der Zuordnung aus. Man versuchte wohlwollend, dies mit meiner Forschung zu
entschuldigen, hatte aber kein Verständnis dafür. Es schien als Anzeichen zu gelten, daß meine eigene Schichtzugehörigkeit geschwindelt sei. Da ich jedoch eindeutig in Kontakt zur Universität stand, über Geld verfügte, was sich z.B. im Besitz eines Autos in Salvador ausdrückte,
Photos und Berichte über meinen und meiner Familie Besitz der mich in Berlin besuchten
Freundinnen existierten, war dieser Konflikt nie aufzulösen. Vielen war klar, daß auf Grund
dieser Ungereimtheiten ein näherer Kontakt zu mir mit Gefahren behaftet war. Zudem brachte
ich unverständlicherweise zum Ausdruck, daß die Nähe zum Volk (Schwarzen) bei den Festen
mir Freude bereitet. Als Erklärung diente meist nur noch, daß Europäer Exotik lieben und sich
der beim Volk ständig lauernden Gefahr der Ausbeutung von ihnen sowie von der eigenen
brasilianischen Mittel- und Oberschicht nicht bewußt sind.
157
tränken und Speisen, über Eintrittspreise zu Shows, Taxi- und Busreisen, Übernahme von Hotelrechnungen, Einkäufe von Kleidung, Genußmittel, Bezahlungen von Zahnarztrechnungen, Ausleihen von Geldsummen verschiedensten
Umfangs und aus den verschiedensten Gründen, Kontakte ins Ausland vermitteln, u.v.a.
Mit den Erklärungsmustern des Helfenwollens fühlen sich beide Seiten
besonders edel und gut und rechtfertigen damit ihr Verhalten bei ihren sozialen Gruppen. Wenn die betreffende Person, der geholfen wurde, nicht den
Erwartungen entspricht, z.B. nicht genügend Dankbarkeit zum Ausdruck bringt
und sich die jeweilige Person enttäuscht fühlt, wird der/die Fremde auf beiden Seiten entpersonalisiert und als „blöder Brasilianer, bzw. Ausländer“ wieder in die andere, fremde, undefinierbare und bedrohliche Gruppe eingeordnet.
3.2.1.2 Jäger und Gejagte: Der Tourist als Wild im
Großstadtdschungel
In Salvador ist die Bezeichnung caça gringo (Gringofänger) und caça gringa
(Gringafängerin) für die Vielzahl der Touristenjäger und –Jägerinnen üblich,
denen der Tourist im Laufe seiner Ferienzeit begegnen wird. Jedoch existieren
ebenfalls Touristen die baianas, und Touristinnen, die baianos jagen, wie
nicht nur im Rahmen des Sextourismus üblich, sondern ebenfalls auf scheinbar
gehobenerem Niveau.
Äußerlich erscheinen die baianos dem Touristen im Sommer in Freizeitkleidung alle gleich oder ähnlich, da er teure Marken- von billigen Massenartikeln bei der Bekleidung nicht unterscheiden kann und ihm nicht klar ist, was
es bedeutet und was eine Person damit ausdrücken will, ob sie z.B. einen Bikini für 50 oder 5 reais trägt. Sowohl Mittel- als auch Unterschicht kämpfen
um die Anerkennung des Touristen, wie dieses Beispiel verdeutlicht, jedoch
können die Erwartungen an ihn verschieden aussehen.
Unter größten finanziellen Opfern wird bei der brasilianischen Unterund Mittelschicht teure Bekleidung gekauft, so daß oft nicht einmal mehr genügend Geld fürs Essen übrig bleibt. Manche vertrauen darauf, daß sich das
Finanzielle irgendwie von selbst regeln wird, sowie auf den Familienrückhalt.
Meist leben die Mütter spartanisch und haben immer noch einen Teller Bohnen
und Reis für Familienmitglieder übrig. Im Sommer sind die Chancen groß, jemanden zu finden, der einen zu Freizeitvergnügungen einlädt und wenn es ans
Bezahlen geht, muß der, welcher Geld in der Tasche hat, die Zeche übernehmen, eine Rolle, die auch dem Touristen, den man nebenher kennenlernt,
selbstverständlich zugeordnet wird.
Dabei spiegeln sich die patriarchalischen Familienstrukturen wider. Die
Frauen erwarten von den Männern, daß sie das Bezahlen übernehmen und überhaupt für die Klärung der Finanzen zuständig sind. Die Männer entsprechen, wenn die Umstände es ermöglichen, diesem Rollenverhalten. Diese
Funktion trifft in erster Linie den Vater der Familie und später die Söhne.
158
Meist schart sich so um einen Mann eine Gruppe von Frauen: seine Frau und
deren Familie, seine Mutter und Geschwister und andere Verwandte sowie
seine Kinder. Wer den Druck dieser Rollenerwartung aus finanziellen Notlagen
heraus nicht erfüllen kann, wird als Versager angesehen, und meist verläßt er
dann seine Familie, um sich alleine durchzuschlagen und vielleicht noch etwas
vom Leben zu haben.
Die Frauen verhalten sich ihm gegenüber dafür aufopfernd im typischen
weiblichen Verhaltensmuster. Er wird bekocht, seine Kleider gewaschen, sein
Haus rein gehalten und alle seine Bedürfnisse erfüllt. Er wird behandelt wie
der Hahn im Korb, genießt diese Rolle und läßt sich verwöhnen. Solange die
Finanzlage ausreicht, alle Münder zu ernähren, und Konsumbedürfnisse befriedigt werden, passen die verschiedenen Rollenmuster perfekt zueinander.
Der Mann als Ernährer kann sich zudem alle Freiheiten nehmen, während die Frauen dies nicht tun dürfen. Im Idealfall funktioniert diese Familienstruktur zur beidseitigen Zufriedenheit, doch in den meisten Familien reicht
das Geld dazu nicht, bedingt durch die gesellschaftliche ökonomische Lage.
Mittel- und Unterschicht verarmen immer mehr, nur die Oberschicht kann sich
ihren Standard weiterhin leisten. Die Konkurrenzen innerhalb der Frauen einer
Familie um die Gunst der Männer sind demzufolge stark.
Mit den gleichen Erwartungen treten nun die Frauen aller sozialen
Schichten an die Touristen, deren Finanzkraft vorausgesetzt wird, heran. Die
weißen mittelständischen Frauen, bekleidet mit teuren Markenartikeln, beklagten sich bei mir im Vertrauen, keine so großen Chancen bei Touristen zu
haben wie ihre schwarzen Unterschichtskonkurrentinnen, die für sie unter aller Würde stehen und von ihnen als „caça gringos“ bezeichnet werden. Sie
halten sich für etwas Besseres, verbergen ihre Absichten ein wenig besser und
bezeichnen ihre begehrten braunhäutigen Konkurrentinnen als geschmackund stillos.
In den letzten Jahren prägte sich zudem in allen Schichten der Bevölkerung zunehmend das Bild vom dummen ausländischen Touristen, der nicht
merkt, mit wem er es zu tun hat. Da die Deutschen in der Überzahl und am
auffälligsten zu sein scheinen, werden immer mehr „deutsche Touristenwitze“
erzählt, deren Inhalte um dessen Ausbeutung, sein ungepflegtes Äußeres und
Prostitution kreisen.
Die männliche und ebenfalls dunkelhäutige Gattung der „caça gringas“
ist hinter weiblichen Touristen her, alle mit dem Ziel, deren Herzen zu brechen, um ihren Geldbeutel zu erleichtern.
„Sie gehen mit den Häßlichsten und Ältesten ins Bett, nur für ein paar reais,
eben ein Bier oder ein Abendessen oder was sonst so rausspringt, am idealsten
einen Sommer lang ausgehalten werden oder besser noch die Frau schwängern
und nach Europa mitgenommen werden. Da ist kein Ehrlicher und Anständiger dabei, alle tun sie nur nett und freundlich. Hier sind sie der Abschaum der
Gesellschaft. ...“
Hatte ich nun z.B. persönlichen Kontakt oder Freundschaften zu
schwarzen Frauen, konnte es sich nach Meinung des Mittelstands nur um Les159
ben oder Bisexuelle handeln, denen daraufhin sexuelle und ausbeuterische
Absichten nachgesagt wurden. Alle meine anderen Kontakte wurden ähnlich
gedeutet. Absichtslos schienen Kontakte von Schwarzen zu mir von Angehörigen aller Bevölkerungsschichten nicht möglich zu sein. Wie in Kapitel „Das
Bild der Frau und Anziehung der schwarze Haut“ (3.3.1.1.1.) ausführlich dargestellt, wird Rassismus gegen Schwarze ebenfalls mit sexuellen ambivalenten
Vorstellungen und Mythen ideologisiert, die von Angst vor der eigenen Lust der
Weißen geprägt sind.
Die Verhaltensweisen aller caça-gringos/gringas sind sich ähnlich. Sie
gilt für alle Bevölkerungsschichten: Schwarze, die schwarz sein wollen,
Schwarze, die wie weiß sein wollen, Weiße, die Europäer sein wollen, Unterschicht, die Mittelschicht sein will, und Mittelschicht, die Oberschicht sein
will. Das gleiche gilt ebenfalls für viele der gestrandeten, bzw. in Bahia gebliebenen Europäer, den ehemaligen Touristen, die ihre legalen und illegalen
Geschäfte mit den Touristen machen wollen. Sie alle sind gegenwärtig und
bereit, dem Touristen das Leben zu versüßen und/oder es ihm „zur Hölle“ zu
machen.
3.2.1.3 Die Grenzen des Verstehens: Wechselseitiges
Mißverstehen zwischen Gästen und Gastgebern
Die Emotionen der unterschwellig brodelnden Rassenkonflikte werden
an den Touristen abreagiert. Was sich kein Marginalisierter beim weißen Mittelstand erlauben kann an Respektlosigkeiten und intimen Annäherungsversuchen, wird an die Touristen/Touristinnen herangetragen und sich darüber lustig gemacht, daß die Touristen die Grenzen nicht kennen und bemerken. Keine brasilianische Weiße/Weißer würde sich solche Annäherungen bieten lassen, und die dummen Touristen lächeln immer noch bei all den Grenzüberschreitungen, als schiene es ihnen zu gefallen.
Die Rache am Weißen für seine Ausbeutung und Entmündigung wird im
baianischen Sommer Stückchen für Stückchen vollzogen. Im Pelourinho, dem
für die Touristen und den Kommerz mit ihnen restaurierten Altbau werden
alle Facetten der sonst nicht vorhandenen Macht am scheinbar wehrlosen Touristen ausagiert. Der Tourist merkt nichts davon, fühlt sich wohl hier, möchte
wiederkommen, und viele kommen wieder. Die hinter der präsentierten Rassendemokratie verborgenen Machtkämpfe bemerkt er nicht, da es für ihn unbekannte Umgangsformen sind.
Touristinnen werden mit respektlosen sexuellen Anspielungen überschüttet und bemerken oftmals das niedrige Niveau, auf dem die Anmache
stattfindet, nicht. Meist haben sie ein freundliches Lächeln auf den Lippen,
weil sie denken, daß es sich um einen Austausch von Freundlichkeiten handelt.
„Heute nacht fick’ ich die Kleine durch. Sie sieht aus, als ob sie das gebrauchen könnte. Wollen wir wetten, daß ich das schaffe, oder willst du?“
160
Gesprächsfetzen zweier Rastafari auf der Straße neben einer Touristin,
die meint, es wird etwas Nettes gesagt, freundlich lächelt und von allen umgebenden baianos ausgelacht wird. Vielleicht läßt sie sich danach ins Gespräch
mit den Männern ein und wird dann als Freiwild betrachtet. Vielleicht hat sie
einen Freund aus der „ersten Welt“ neben sich, der ebenfalls freundlich lächelt, was kein baiano machen würde.
Von den Streitigkeiten um ihn herum bemerkt der Tourist ebenfalls
nichts. Erfolgreiche schwarze und dunkelhäutige „caça gringos/gringas“ werden im Extremfall von anderen Mitgliedern der Unterschicht, aus Neidgefühlen, sogar körperlich bedroht und eventuell genötigt, Geld abzugeben.
Wer sich als Tourist mit Schwarzen sehen läßt, ist für den Mittelstand
gestorben und wird ins Feindbild integriert und der Lächerlichkeit untereinander preisgegeben. Die jeweiligen Dunkelhäutigen wiederum bekommen einerseits durch verstärkt abschätziges Verhalten subtil die Rache vom Mittelstand
für ihren Sieg zu spüren. Andererseits können sie sich dadurch ebenfalls bei
den sozial höher Gestellten ins Blickfeld bringen. Wer es schafft, einen attraktiven Touristen zu binden, kann selbst kurzfristig interessanter und aufgewertet werden.
Mittel- und Oberschicht nähern sich auf andere Weise an die sexuell begehrten und verabscheuten Dunkelhäutigen an. Gesellschaftlich legal ist es im
Karneval, mit Schwarzen zu flirten und zu tanzen und sich sexuell anzüglich zu
verhalten. Der Einfluß des Tourismus und der daraus folgenden Vermarktung
afro-brasilianischer Kultur hat dazu beigetragen, bei Mittel- und Oberschicht
ebenfalls die moralischen Barrieren zu lockern. Manch schöner Schwarzer erntet heute auf der Straße oder am Strand einen schmachtenden Blick weißer,
gut situierter Frauen, die dort mit ihren weißen Männern aus den gleichen
Schichten flanieren. Karneval als Ausnahmezustand erlaubt kurzfristig sonst
verbotenes Verhalten zum Teil als Demonstration der Macht der Weißen.
Jedoch die Ausschweifungen erfolgen im Verborgenen, jenseits der Kontrolle der eigenen Klasse. Des Nachts werden sie heimlich am Strand, in Motels und in abgelegenen Parks vollzogen, und am nächsten Tages ist es, als
wäre nichts geschehen. Es entstehen keine dauerhaften, für die Öffentlichkeit
sichtbaren Beziehungen. Mit Gesindel hat man nichts zu tun und demonstriert
dies. Mit sexuellen Scherzen im Karneval zeigen die Mittel- und Oberschicht,
daß sie die Macht haben, den Unterlegenen als Spielzeug seiner verbotenen
Lust zu enttarnen.375
3.2.1.4 Freizeitverhalten als Respektlosigkeit vor der
anderen Kultur
Viele Touristen laufen, infolge falsch verstandener Tips der Reiseführer, in
abgetragener, gammliger Kleidung herum, um sich so vor Diebstahl zu schüt-
375
Die sexuelle Ausbeutung der dunkelhäutigen Angestellten und Abhängigen wird an anderer
Stelle ausgeführt.
161
zen, denn wer nichts hat, von dem kann man nichts nehmen. Dies ist in vielen
Beziehungen ein Trugschluß. Wer in der brasilianischen Gesellschaft sich äußerlich nicht pflegt, verliert für viele an Wert, wird abschätzend und schlecht
behandelt, und sein Äußeres rechtfertigt dies.
Viele Touristen wollen dies nicht bemerken. Mit ihrem ungepflegten
Äußeren demonstrieren sie jedoch bewußt oder unbewußt Respektlosigkeit
gegenüber der Bevölkerung. Gesellschaftliche Bekleidungsregeln des Gastgeberlandes werden allzu gern ignoriert. Die kurzen Hosen, die man am Strand
trägt, dienen gleichfalls für den Besuch eines Restaurants, des Theaters und
die Teilnahme an religiösen Ritualen.
So festigen sich jedoch Bilder, die mit dem weiter fortschreitenden
Tourismus ihre Folgen haben werden. Schon über die letzten vier Jahre sind
Unterschiede im Umgang mit den Touristen zu bemerken, Respektlosigkeiten
von Seiten der baianos nehmen zu, welche die Verhaltensfehler und mangelnden Respekt und Feingefühl der Touristen spiegeln.
Der Tourist geht aus von einer Gastfreundschaft, die er für selbstverständlich hält, wie in den Reiseführern beschrieben. Daß diese jedoch im Zusammenhang mit seiner Person und seinem Verhalten steht, scheint vielen
unklar zu sein. Die Zeit der Eroberung ist vorbei, während der die „Wilden“,
die noch nie einen Europäer gesehen hatten, ihre natürliche Gastfreundschaft
und Hilfsbereitschaft walten ließen.
Viele Touristen haben dies noch nicht bemerkt und spielen für ein Weilchen reiche Abenteurer, Entdecker und Ausbeuter. Für Geld können sie einiges kaufen, wesentlich mehr als die brasilianische Unter- und Mittelschicht,
auch Ferienfreundschaften und Freundlichkeit. Doch wenn dies durchschaubar
werden sollte, würde die Ferienidylle schal werden.
Die Touristen scheinen im Urlaub eine Regression in die Kindheit zu
betreiben, wo sie wie damals erwarten, alles geschenkt zu bekommen. Ein
Gast tauscht nicht, ein Gast bekommt geschenkt. Eventuell bringt er ein kleines Geschenk aus der „ersten Welt“ mit, das ihn rechtfertigt, oder er verspricht Geschenke für dann, wenn er wiederkommt.
In seinem Alltag zu Hause in der Leistungsgesellschaft mit aller Industrialisierung und Spezialisierungen existiert das Tauschgeschäft auf vielen Ebenen und wirkt oftmals erdrückend. Zum Feriengefühl, wo alles anders und frei
sein soll, fügt sich die regressive Phantasie hinzu, alles geschenkt bekommen
zu sollen. Der Tourist will frei von Leistung sein, frei von Verantwortung und
frei von dem Druck, sich mit Bezahlungen zu beschäftigen.
Respektlosigkeiten der Touristen gegenüber Einheimischen rächen sich
auf verschiedenste Weisen. Der nicht reflektierende Tourist achtet das Individuum in seinem kulturellen Kontext nicht, wundert sich aber, wenn er
schlecht behandelt oder ausgebeutet wird. Aus seiner Sichtweise erwartet er,
daß sich die Gastgeber in den jeweiligen Kontaktbereichen ähnlich oder gleich
162
wie Personen im Heimatland verhalten, im Dienstleistungsbereich z.B. zuvorkommend und schnell, aber eben hier fast unentgeldlich.
Ungereimtheiten mit seinem Vorstellungsvermögen dazu deutet er z.B.
als unverschämte Unfreundlichkeit seiner Person gegenüber, aber nicht im
sozialen Kontext der rassendiskriminierenden, hierarchischen Gesellschaft und
formt damit mit am verbreiteten Bild des „faulen Schwarzen“. Er ist sich ebenfalls nicht klar darüber, daß diese Stigmatisierung, die von der herrschenden Klasse aufgebaut und benutzt wird, zur Rechtfertigung von Macht dient.
Er ist sich seines unterschwelligen Rassismus376 und sozialem Hochmut
nicht bewußt, der jedoch von vielen der dunkelhäutigen Einheimischen gespürt wird. Sein Umgang mit dem Elend auf der Straße ist, z.B. Bettlern Geld
zu geben und schnell wieder weg zuschauen. Kontakte von Mensch zu Mensch
baut er nicht auf, höchstens von Subjekt zu Objekt, was beim Zusammentreffen der verschiedenen Geschlechter am deutlichsten wird.
3.3 Tropikale Erlebnisse
Die Touristen sind begeistert von Charm ihrer Gastgeber, deren Lebensfreude,
Leichtigkeit, scheinbarer Leichtlebigkeit, ihren sinnlichen Ausstrahlungen bei
Tanz, Musik, Gesang und bei Festen, Körperkontakten, Freundlichkeit und
Wärme im Umgang, ihrem „langsamen“ Zeitgefühl, ihrem strahlenden Lachen
und ihrer exotischen Schönheit.
Sie leben in einem Paradies von Sonne, Meer und Palmenstrand, in der
Unbekümmertheit der ehemaligen „Wilden“.377 Um die tropische Atmosphäre
und um ihre damit verknüpften Freuden werden sie beneidet, und dies wird
Anlaß zu romantischen Schwärmereien. Die Gastgeber stellen eben dies zur
Schau, sie verkaufen ihr geprägtes Image des sinnesfreudigen Tropikalismus
seit langem erfolgreich ins Ausland als ihre einzigartige Besonderheit. Die
Touristen nehmen teil an diesem Leben oder beobachten dies zumindest und
entdecken im Alltag nicht gelebte Seiten an sich selbst.
Wehmütig wird festgestellt, daß das „tropikalische Leben“ nicht in Einklang mit dem westlichen Lebensgefühl zu bringen ist, wo Pflichtbewußtsein
und Leistungsdruck sich damit nicht zu vereinbaren scheinen. Sie halten die
Verhaltensweisen für authentisch und durchgängig und erliegen der Illusion,
daß dies Bahia sei. Daß es sich um inszenierte Ferien- und Sommergebärden
handelt, die mit dem harten baianischen Alltag und individuellen Überlebenskampf wenig gemeinsam haben, aber ihn kurzfristig einigermaßen erträglich
machen und zudem die Touristen erfreuen und damit Geld aus ihren Taschen
zu locken ist, nehmen sie nicht wahr.
376
Vgl. zur Funktion der Psychologisierung von Rassismus: Osterkamp 1996. Das Thema ist für
meine Arbeit zu weitreichend, um es hier zu diskutieren.
377
Vergleiche hierzu Beschreibungen der Entdecker, Abenteurer und Missionare in Kap.2.
163
Die Ferien sind für den, der sich auf das Freizeitangebot, das Salvador
zu bieten hat, einläßt, und das sind die meisten, ein Erfolg. Braungebrannt
und gut erholt kann danach der Heimflug angetreten werden, und mit Sehnsucht wird an das Erlebte zurückgedacht. Unstimmigkeiten geraten in Vergessenheit, nur das Schöne, Exotische bleibt in der Erinnerung haften.
Je nach Charakter behält die betreffende Person auch gerade die negativen Erlebnisse in Erinnerung. Es ist oftmals wünschenswert, zu Hause die
beschriebene Andersartigkeit der Feriengastgeber zu kritisieren, um sich
selbst den Alltag wieder liebenswerter zu gestalten; das bekannte Wiener
Schnitzel, das richtige deutsche Bier, die gute harte Matratze, die gewohnten,
verständlichen Sitten und Bräuche, Umgangsweisen u.a.
Die positiven wie auch die negativen Erinnerungen an den Urlaub haben
ihre Funktion, sich mit dem wiederkehrenden Alltagsleben zu arrangieren.
Zuviel romantisches Schwärmen behindert das Einleben und sich Einbinden in
die Pflichten, und meist will man sich doch bestätigen, daß es zu Hause am
schönsten ist.
Wer das Alltagsleben nicht mehr aushält, flieht für „ewig“ ins Paradies
zurück, wie viele der ehemaligen Langzeittouristen und Kulturflüchtlinge, die
Salvador und Bahia nun bevölkern und auf verschiedene Arten ihr Leben dort
finanzieren. Viele dieser Kulturaussteiger stehen nun zwischen zwei Kulturen
und finden sich nicht unbedingt mit den Gastgebern zurecht; sie bleiben für
sie unverstandene, aber liebenswerte Geschöpfe, die einem oft aus unerklärlichen Gründen das Leben schwer machen. Oftmals wollen sie ebenfalls nicht
in die baianische Kultur einsteigen, sondern versuchen im Schwebezustand
zwischen den Kulturen, „im Nichts“ zu verweilen, fern aller Verantwortung,
Verpflichtung und Auseinandersetzung.
Auch bei ihnen ist keine Reflektion mit der Kultur und Gesellschaft des
Gastgebers erfolgt, geschweige denn mit der eigenen, bzw. der individuell
persönlichen Situation im sozialen Gesellschaftsgefüge im zurückgelassenen
Heimatland.
Viele der Touristen haben die unbewußten Wunschvorstellungen, all das
in Bahia zu bekommen und sich zu erfüllen, was ihnen im Heimatland nicht
möglich scheint. Dabei unterliegen sie den verschiedensten Projektionen.
Manche suchen das Geheimnis, weil unsere Welt so aufgeklärt und damit entzaubert ist. Die aufgeklärte Gesellschaft bei uns kennt kein Geheimnis mehr,
bzw. wenn ein neues auftaucht, wird sofort alles in Bewegung gesetzt, um es
wissenschaftlich zu erklären und begreifbar zu machen, zu entmystifizieren,
um eventuelle Bedrohlichkeiten und Fremdheiten aus der Welt zu schaffen.
Dabei wünschen sich viele Personen Geheimnisse, Märchen und Mythen,
eine zauberhafte Welt des Staunens, was sie als Kind erfahren haben, wo ihrer
Fantasie kaum Grenzen gesetzt wurden und sie sich auf diese Weise kreativ
entfalten konnten. Der Tourist will in Geheimnisse eintauchen, sich in einer
Märchenwelt bewegen und ein Gegengewicht zum aufgeklärten Alltag geschenkt bekommen. Sinnliche und religiöse Exstase, beide verwoben mit den
164
Geheimnissen einer völlig fremden Kultur, wobei sein eigenes Handeln keinerlei Verantwortung unterliegen kann, da er nichts versteht und nichts verstehen muß, eröffnen ihm eine neue Phantasiewelt, die ihn nun kurzzeitig absolut befriedigen kann.
3.3.1.1 Geschlechterverhaltenscodices
Konventionen
und
-
Viele der Touristen und „gestrandete Kulturflüchtlinge“ unterliegen der Illusion, das baianische Leben wäre einfacher. Sie sehen oftmals nicht oder wollen
nicht sehen, daß die Einheimischen ebenfalls in strenge soziale Kontrollen und
Regeln gebunden sind und nur die Umgangsformen freundlicher und die Temperamente fröhlicher sind. Für die Touristen scheinen baianos offener zu sein,
in Wahrheit unterliegen sie jedoch einem noch größeren Reglement.
Wer mit wem, wie lange und welche Worte wechselt, unterliegt sozialen Konventionen, ausgesprochene Einladungen, die unter gar keinen Umständen erfolgen sollen, ebenfalls. Alle Beteiligten sind sich darüber im klaren und
tauschen heiter ihre Freundlichkeiten, Komplimente und Einladungen aus,
welche der Tourist für bare Münze nimmt, wenn er überhaupt verbal etwas
versteht. Die Kontaktbereitschaft in der Öffentlichkeit ist größer als in nördlichen Klimazonen, aber jeder ist sich seiner Schichtzugehörigkeit und der damit konform gehenden Umgangsform bewußt, und auch der Tourist wird dementsprechend eingeordnet.
Die Verhaltensregeln zwischen den Geschlechtern unterliegen ebenfalls
klaren Normen und strengen Regeln, die dem Touristen sehr locker erscheinen. Die sinnlich wirkende Bahianerin unterliegt meist der Kontrolle der gesamten männlichen Verwandtschaft, deren Freundes- und Bekanntenkreis und
der dazu gehörigen Frauen, die hier als verlängerter Arm der Männer wirken.
Nur finanziell eigenständige und unabhängige Frauen können sich mehr Rechte
und Freizügigkeiten erlauben, sind aber ebenfalls damit beschäftigt, ihren
guten Ruf zu wahren. Der ist leicht zu verlieren, oder die Frau gerät in zweifelhaften Ruf, da Intrigen und Tratsch auf Grund der harten Konkurrenz das
Alltagsleben erschweren.
Die baianischen Männer haben wesentlich mehr Freiheiten im gesellschaftlichen Umgang mit dem anderen Geschlecht als die Frauen. Was Frauen
verboten ist, macht sie erst zum richtigen Mann; sie prahlen mit wahren oder
erfundenen Fraueneroberungsgeschichten untereinander und die Vielzahl derer ist erstrebenswert. Dies scheint ein schichtunabhängiges Phänomen zu
sein, nur die Ausdrucksweisen sind unterschiedlichen Niveaus. Die Männer und
die patriarchalisch organisierten Familien vermitteln ihren Frauen und Mädchen absolute Abhängigkeit.
Verbunden mit der patriarchalischen Rolle des Mannes ist das männlich
geprägte Gesellschaftsbild, das seit Jahrhunderten existiert, daß der Mann ein
„richtiger Mann“, ein macho, sein muß, um allgemein anerkannt zu werden.
Dazu gehören alle Formen von Gewalt, die legitim sind. „Lieber gewalttätig
165
als ein Schwächling und Feigling zu sein“, lautet die machistische Devise, die
auch Gewalt gegen Frauen legitimiert. Sexualität ist einer der Bereiche, mit
dem Macht, Dominanz sowie Unterwerfung gefestigt wird.
Seit der Kolonialisierung Brasiliens existiert die sexuelle Ausbeutung im
Geschlechterverhältnis. Die ausschließlich männlichen Eroberer und Missionare
nahmen sich die „wilden“, sinnlichen und nackten Frauen als Objekte zur Befriedigung ihrer Lust und legitimierten dies, wenn überhaupt, zum Teil mit
scheinbarer sexueller Freizügigkeit der Frauen, der großen Lust im tropischen
Klima, oder zur nötigen Nachwuchszeugung, um das Land zu kolonialisieren.
Berichte von damals, die nach Europa gelangten, beschreiben Erotik und sexuelle Ausstrahlung der rothäutigen einheimischen Frau, die selbst ihre Sexualorgane öffentlich und völlig schamlos zeigte.378
3.3.1.1.1
Das Bild der Frau und die Anziehung der
schwarzen Haut
Das Bild, das Brasiliens Frauen in Europa anhaftet, ist somit keine Erfindung
der heutigen Zeit, es hat sich, seit Brasilien existiert, langsam durch männliche Beschreibung und Sichtweise entwickelt. Mit der Einschiffung der schwarzen Sklavenfrauen kamen neue dunkelhäutige Sexualobjekte hinzu, die unter
dem absoluten Besitz ihrer Herren standen, wozu ebenfalls die Erfüllung ihrer
sexuellen Gelüste gehörte. Das produzierte Geschlechterverhältnis und die
seit damals dazugehörigen sexuellen Phantasien kennt der Tourist, der sich im
allgemeinen mit der Geschichte des Landes nicht auseinandergesetzt hat,
nicht. Ihm erscheinen die Frauen als sexuell freizügig und über ihre gesellschaftlichen Abhängigkeiten ist er nicht im Bilde.
Im Bereich des Hauses, der Frauendomäne, herrscht die Norm der katholischen Moral, bedingt durch den jahrhundertelangen Einfluß der katholischen Kirche. Draußen auf der Straße, der Männerdomäne, herrschen andere
Gesetze, hier zeigt ein Mann, daß er ein Mann ist,379 und genießt erotische und
sexuelle Freizügigkeiten mit Frauen, die sich in dieser Welt bewegen, den
Prostituierten und „gestrandeten Frauen“, die nicht mehr unter der Obhut
einer funktionierenden Familie stehen.
Im Haus, im Schoße der Familie, ist das Leben sicher, ruhig und geregelt, wo die Männer über die sexuelle Moral der Frauen wachen, auf der Straße dagegen wird es von den Männern gefährlich und lustvoll gestaltet. Diese
378
Vgl. Berichte von Pero Vaz de Caminha ab 1500 in Caminha 1943. „There walked among
them three or four maidens, with very black, shoulder length hair, and their shameful part so
high, so tight and so free of hair that, though we looked at them well, we felt no shame. And
one of those maidens was completely dyed, both below and above her waist, and surely was
so well made up and so round, and her shameful part (that had no shame) so gracious, that
many women from our land, seeing her countenance, will feel shame in not having theirs like
hers. (Ibid., 210-11).
379
Vgl. Freyre 1963 und Da Matta 1978 und 1985, welche die Dichotomien Haus/ Straße, öffentlich/privat als Schlüssel zur Organisation des täglichen brasilianischen Lebens interpretieren.
166
existierende zweigeteilte Sexualmoral wird von einer Generation auf die
nächste überliefert. Parker (1991:30-98) beschreibt an Hand von Beispielen
aus der Erziehung, wie das Gesellschaftsbild von „absolutem macho“ und der
„superweiblichen Frau“, die sich ergänzen sollen und als gesellschaftliches
Ideal gelten, geprägt wird.
Die Väter nehmen ihre Söhne heimlich vor den weiblichen Angehörigen
der Familien mit ins Bordell, damit sie lernen, was ein „richtiger Mann“ zu tun
hat, während die Mütter und weiblichen Verwandten zu Hause die Jungfräulichkeit ihrer Töchter bewahren sollen. Das Ideal, als Jungfrau in die Ehe zu
gehen, gilt oftmals noch heute in den Städten wie auch auf dem Land. Die
jungfräuliche Frau wird heute noch meist als rein und die Entjungferte als beschmutzt angesehen.380
Daß heute diese Männerphantasien nicht mehr alle Frauen in den modernen Großstädten dominieren können, sieht man in den modernen Großstädten. Je reicher die Familien, desto mehr legen sie sich heute westliche
und europäische Maßstäbe in ihren Verhaltensweisen und Normen zu, die als
schick gelten und von den Medien verbreitet werden.
Die unabhängigen Frauen, die mehr selbst bestimmt als nach den gängigen Normen leben und dies auch weiterhin wollen, beklagen sich jedoch, daß
sie keine Männer bekommen und von ihren Familien, vor allem von Vätern und
Brüder nicht richtig respektiert werden. Auch bei ihnen spielt sich das sexuell
freizügigere Leben außerhalb des Einzugsbereiches der Familie, auf der Straße, auf geheimen Plätzen ab. Nach Hause wird nur mitgebracht, wer von der
Absicht einer späteren Heirat nicht ausgeschlossen ist.
Je abhängiger eine Frau ist, desto mehr ist sie Sklavin der „machistischen“ Phantasien. Erotik wird aber auch als Instrument gegen die alltäglichen
Konventionen und Machthierarchien benutzt. Sexuelle Begegnungen zwischen
Personen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten heben in dem kurzen
Moment des Zusammentreffens scheinbar die Unterlegenheit des Schwächeren
auf, dadurch, daß sich der Mächtigere auf die gleiche Ebene mit dem Schwächeren begibt.
Erotische Ausstrahlung wird ebenfalls für die Wertsteigerung von Personen benutzt. Mädchen und Frauen, die sich sexy, sinnlich und betont feminin
geben, haben viel größere Chancen, sich gut zu verheiraten, bzw. einflußreichere Freunde oder Geliebte einzufangen. Zum feminin-sinnlichen Schönheitsideal kommt die Heroisierung der Jugend hinzu, Männer aus höheren Klassen
nehmen sich in der Regel viel jüngere Frauen, Freundinnen und Geliebte.
380
Die in Familien und Schule streng verbotene Sexualität, durch die Familien- und Gesellschaftsmoral geprägt, soll geradezu besonders reizvoll sein, weshalb das Ausleben allerlei verschiedener sexueller Praktiken locke. Männliche Jugendliche sollen heimlich gemeinsam onanieren und sich gegenseitig sexuelle Lüste oral und anal, freiwillig oder erzwungen, befriedigen, was ihre späteren Sexualpraktiken beeinflussen soll. Mit diesem Muster wird versucht zu
erklären, warum die Gesellschaft so viele Transvestiten und Schwule hervorgebracht hat. Vgl.
hierzu: Parker 1991.
167
Nicht Lebenserfahrung, Klugheit und Persönlichkeit, sondern Angepaßtheit,
Unselbstständigkeit, formbare Weichheit und Passivität erhöhen die Werte
einer Frau.
Das wirkt sich selbstverständlich auf das Eheglück aus, zwei nicht
gleichwertige Wesen verbinden sich zu einer Harmonie, die von äußeren Werten geprägt ist. Die Harmonie ist ein Scheinbild, an dem festgehalten wird, um
die Harmonie nach außen zu präsentieren. Mit dem jeweiligen individuellen
Unglück wird verschieden umgegangen, die Frauen der Mittel- und Oberschicht
kompensieren durch Demonstration von Konsumgütern und Schönheitsidealen,
während die Männer wo anders, „auf der Straße“, ihre Kompensationen suchen. Stabil sind die Ehen, wenn die Frauen sich fügen.
In Unterschichtsehen, wo weniger oder gar keine Kompensationsmittel
zur Verfügung stehen, ist das individuelle Unglück größer, und die Ehen halten
weniger lange. Trennungen sind legitim, die Frau verliert an gutem Ruf, während der Mann von dannen ziehen kann, ohne finanziell für irgend etwas geradestehen zu müssen. Oftmals ist gerade der Grund, viele Kinder gezeugt zu
haben, der Trennungsgrund, da der Mann den Druck, so viele Münder zu ernähren, nicht aushält.
Das Alltagsleben der Mittel- und Oberschichtsfrauen ist oftmals geprägt
von vielen Stunden der körperlichen Pflege zu Hause und außerhalb. Besuche
von Schönheitsstudios, Gymnastik- und Bodybuildingzentren sowie Abmagerungskuren sind im Sommer an der Tagesordnung der reicheren baianischen
Frau. Untereinander sind dies und alles was mit den Schönheitsidealen zusammenhängt, die wichtigsten Gesprächsthemen. Die Konversationen sind geprägt durch sich gegenseitig aufwertende Komplimente. Die Unterschichtsfrauen sind, bedingt durch Arbeits- und Ernährung, meist von selbst
schlanker, die Gesprächsthemen betreffen dementsprechend andere Probleme
der Schönheitsideale.
Das Hauptproblem der schwarzen Frau mit dem gängigen Schönheitsideal ist die Unbändigkeit ihrer Haare. Es sind vielfältige, Laden füllende Produkte zur Entkräuselung und Dehnung von gekräuseltem Haar auf dem Markt.
Es gibt viele Methoden, die helfen sollen, ebenfalls nächtliches Haarnetz
und/oder Lockenwickler tragen, aber immer sehen die Haare danach aus wie
einem mißglückten Streckungs- und Weichwerdungsversuch unterworfen.
„Dunkel sein, Neger oder Mischling sein, das heißt, nicht zu den Weißen gehören die Personen, die schlechte Haare haben. Das ist das Merkmal von
schwarzem Blut, auch wenn die Haut (durch Rassenmischung) schon heller
ist. Schlechte Haare sind gekräuselte, harte Haare, die schwer zu bändigen
sind und nicht in langen Locken wallen können. Boa aparençia, gutes Aussehen, dieser Ausdruck, der verwendet wird für weiß sein, sagt eben auch aus,
daß Haare glatt sein müssen. ... “
„Ich kann meine Haare nicht lassen, wie sie sind, wenn ich die Pomade nicht
rein mache, stehen sie wild sich kräuselnd zu Berg. So kann ich nicht zur Arbeit gehen, die würden mich nach Hause schicken. Und erst Rasta-Zöpfchen,
selbst die geflochtenen, ich würde sofort meine Arbeit verlieren. Die würden
denken, ich wäre auch noch stolz darauf, schwarz zu sein, und das wäre ja
noch schlimmer. Angepaßtes Aussehen, sonst keine Arbeit. Um ausgebeutet
168
werden zu dürfen, mußt du auch zeigen, daß du dich äußerlich eigentlich dafür
schämst, schwarz zu sein, und das siehst du am besten daran, wie du die Haare
trägst. ...“
(S., Hilfskrankenschwester, schwarze Arbeiterschicht)
Die sinnliche Frau betont alle weiblichen Geschlechtsmerkmale, wie
den Touristen als Extreme von Bildern aus dem Karneval von Rio de Janeiro
und Tanz-Shows von dort sowie durch Bilder von Frauen am Strand bekannt
ist. Vor allem freizügig gezeigte schwingende Pobacken und Brüste gehören
heute zum typisierten Bild der Brasilianerin.
Viele der Frauen, auch aus Mittel- und Oberschicht, haben eine sehr
schlechte Ausbildung erhalten, da ihre Familien davon ausgehen, daß sie heiraten und vom Ehemann ernährt werden. Schick ist es, eine Universitätsausbildung hinter sich zu haben, das soll die Chancen zur Verheiratung erhöhen.
Es existieren viele arbeitslose Universitätsabsolventinnen, die ebenfalls nie
vorhatten, ihren Beruf auszuüben, und finanziert von ihren Familien, auf den
passenden Ehemann warten. Ein gebildeter, weißer und reicher Ausländer aus
der „ersten Welt“ ist bevorzugtes Wunschobjekt.
Die Frauen leben in ständiger Angst, von ihren Männern und Freunden
verlassen zu werden, die ihnen ständig signalisieren, wie begehrt sie beim anderen Geschlecht sind. Somit werden sie zu angepaßtem Verhalten erpreßt
und lassen sich das meist, bedingt durch Abhängigkeiten, bieten. Sie beschreiben ihre Situation auf Grund des bestehenden biologisch bedingten Frauenüberschusses im Land als schwierig und machen es damit ihren Männern noch
leichter.
Die Solidarität untereinander steht oft auf zweifelhaftem Boden, da sie
um erfolgreiche und scheinbar erfolgreiche Männer konkurrieren. In dem Maße, in dem Flirten erlaubt und reglementiert ist, flirten sie mit den Männern
ihrer Freundinnen, Verwandten und Bekannten, um sich wenigstens so selbst
zu bestätigen.
„Mit meinem Freund gehe ich nicht mit meinen Freundinnen weg, im Gegenteil, es soll niemand von ihm wissen. Das würde sie nur anstacheln, mit ihm
anzubändeln. Die Männer hier sind so, daß sie das mögen, und wenn er meine
Freundin schöner findet, dann hab ich ihn gesehen. Meine Schwester ist noch
schlimmer, die behandelt mich vor ihm, als wenn ich ein dummes Mädchen
wäre und reißt für den ganzen Abend das Gespräch an sich. ...Nein, ich sage
ihm nicht, daß er sich unmöglich verhält, er meint, das ist sein Recht, und ich
möchte, daß er bei mir bleibt, noch ist es schön mit ihm. ...“
„Du darfst niemandem etwas Persönliches über dich erzählen, das wird sofort
weitererzählt und verdreht und gegen dich verwendet. Vertraue bloß niemandem, die sind alle nur auf ihre Vorteile bedacht und wollen dich nur ausnehmen. Leihe niemandem Geld, das siehst du nie wieder. Leihen heißt schenken
und wenn du es zurückforderst, wird irgendein Grund erfunden, dich zu meiden und vor anderen schlecht zu machen. ...“
Die schwarze oder braunhäutige Frau, meist wesentlich schlechter ausgebildet und aus ärmeren Familien stammend als ihr weiße Konkurrentin, hat
es im Konkurrenzkampf um Männer noch schwerer als die Weiße. Sie kämpft
gegen die Kategorisierung ihrer Person als Sexualobjekt, bzw. leidet darunter
169
und muß ständig die Überlegenheit der weißen Frau ertragen, die ihrerseits
Aggressionen, die sie im Umgang mit ihren dominanten männlichen Partnern
angestaut hat, an ihr ausläßt. Zudem ist sich die weiße Frau bewußt, daß die
dunkelhäutige Frau mit der Stigmatisierung „gut im Bett und leicht zu haben“
behaftet ist, d.h. Lustobjekt ist für die ihr selbst zustehenden Männer, und
bestraft sie dafür mit Verachtung.
Die dunkelhäutige, junge Frau wirkt in der Regel sinnlicher als die Weiße, bedingt durch ihre Sozialisation, in der Tanz von Kindheit an als beliebteste Ausdrucksform des Körpers erlebt und geschult wird und ritualisierte Erotik
und Sinnlichkeit einen natürlichen Platz haben. „Negertänze“ wurden von den
Weißen verachtet, erleben jedoch heute, im Laufe mit der Vermarktungsstrategie für die Touristen, eine Wertsteigerung. Seit zwei Jahren trainiert schon
manch weiße Mittelstandsfrau ebenfalls, allerdings in übersichtlichen Tanzschulen, wohl abgegrenzt von der Unterschicht, aber mit schwarzen Lehrern
hüftkreisende und schulterwackelnde Bewegungen, die sie beim Karneval zum
besten geben wird.
In der Stadt sind die Verhaltensnormen freizügiger als auf dem konventionelleren Hinterland, wo ebenfalls die Kontrollmechanismen stärker sind.
Frauen und Mädchen, die sich dort einen schlechten Ruf zugezogen haben,
verlassen die Dörfer, weil sie den sozialen Druck nicht aushalten, oder werden
von ihren Familien unter Schimpf und Schande weggejagt. Die Hoffnung, in
Salvador Arbeit und Ehemann zu finden, stellt sich meist als Trugschluß heraus. Für viele bleibt die einzige Überlebenschance die Prostitution in der
Stadt.
„Mit P., meinem Freund, flirten viele Frauen vor meiner Nase. Schau, er hat
eine gute Stellung, ist weiß und verdient viel Geld. Ich bin nur eine dunkelhäutige Erzieherin, die eineinhalb salário minimo verdient. Die Frauen haben
keinerlei Respekt vor mir. Vor meinen Augen flirten diese weißen Frauen, die
so tun, als wenn sie meine Freundinnen wären, mit ihm. Wäre ich nicht mit
ihm zusammen, würden sie sich eh nicht mit mir abgeben, es geht nur um ihn.
Schau die eine, die ist strohdumm und hat keine Arbeit, aber sie ist weiß. Und
P., der Drecksack, flirtet vor meinen Augen mir ihr. Wenn ich nicht aufpasse,
bin ich ihn bald los. Das weiß ich auch, lange geht das nicht mehr. Ich mache
auch meinen Mund auf und habe andere Ansichten als er. ...“
Körperlichkeit ist ebenfalls Spiegel einer Kultur sowie kultureller Defizite. Die Körperlichkeit ist naturgegeben, und durch Sublimierungsleistungen
entstehen verschiedene Formen der Sinnlichkeit. Diese sind von den jeweiligen Kulturen abhängig und bestimmt. Personen aus der „ersten Welt“ erscheinen weniger sinnlich und auch weniger körperlich als die baianische Bevölkerung. Durch Anforderungen und Anpassungen an die Gesellschaft, Bürokratie
und Arbeit ist der westliche Mensch eher körperlich entsinnlicht, wirkt im Alltag fast körperlos und ist dementsprechend fasziniert vom Umgang der anderen Kultur mit ihren Körpern und ihrer Sinnlichkeit. Die baianische Körperlichkeit ist unmittelbarer und ausgeprägter, bedingt durch die mehr körperorientierte Sozialisation mit Tanz und Musik.
170
In der westlich geprägten Kultur scheinen erkennender und ästhetischer
Geist unversöhnbar getrennt zu sein, bedingt durch die übergroße Gewichtung
des aufklärerischen Geistes. In der baianischen Kultur erscheint es, oberflächlich mit dem touristischen Auge betrachtet, vereinbar zu sein. In Wirklichkeit
ist die Kultur jedoch viel komplexer, um solche Schlüsse zu ziehen, unvereinbare Realitäten verschiedener Gesellschafts- und Bewußtseinsschichten prallen aufeinander, die keinerlei Pauschalisierung zulassen. Außerdem handelt es
sich um ein Image, das Bahia von sich verkauft und ganz bewußt dem Ausland
und den Touristen präsentiert in der Gewißheit und mit der Erfahrung, hierfür
Anerkennung in Form von Beachtung und ansteigendem Tourismus zu bekommen.
Personen aus der baianischen Ober- und Mittelstand, orientiert an westlichen Werten und Idealen, beschrieben mir die Sinnlichkeit der Schwarzen als
Rückzug auf ihre Faulheit, wo sie körperorientierte Beschäftigungen wie
Trommeln und Tanzen pflegen, die ihrer Ansicht nach nichts mit Kultur zu tun
haben. Sie würden sich, bedingt durch Faulheit und Armut, auf Körperlichkeit
reduzieren. Die Touristen vertreten ähnliche Ansichten, für sie erscheinen die
Schwarzen und Mulatten ebenfalls als zurückgebliebene Naturmenschen,
„Wilde“, die sich ihren unzivilisierten körperlichen Genüssen und Ekstase hingeben.
Die Kulturleistungen der Schwarzen haben nicht nur Bahia und Brasilien
entscheidend beeinflußt, sie haben ebenfalls die westlichen Tänze und moderne Musik wesentlich mitgeprägt und sind Ausdruck von kultureller Arbeit,
deren Werte, da sie sich auf körperlich-sinnlicher Ebene bewegen, meist nicht
geschätzt, sondern im Gegenteil verachtet werden. Trotzdem werden sie von
den Weißen aller Schichten nachgeahmt und ihre Musik und Tänze begeistert
in außer-alltäglichen Situationen konsumiert.
Die Schwarzen in Salvador sind sich heute zum Teil ihrer kulturellen
Leistung, die für sie identitätsstiftend wirkt, bewußt, und nützen für sich die
Kraft, die sie daraus schöpfen. Viele berichten, daß Verhaltensweisen der
Schwarzen vor 20 Jahren z.B. völlig anders waren, ohne jegliches Selbstbewußtsein, vergleichbar mit „Onkel Tom“, dem den Weißen unterwürfigen
Sklaven, der nie seinen Mund aufmacht.
Die dunkelhäutige, materiell abhängige Frau unterliegt oftmals der Illusion, daß das Leben mit einem Touristen am besten in dessen Heimatland für
sie leichter wäre, bedingt durch den weniger rassistischen Umgang der weißen
Touristen und Touristinnen. Dabei übersieht sie leicht den sexistischen Umgang der Touristen mit ihr, da er sich nicht nach brasilianischen Verhaltensnormen verhält und sich z.B. in der Öffentlichkeit mit ihr zeigt.381
381
Sowohl meine Interviews als auch Beobachtungen bestätigen dies. Das breite Angebot von
Sextourismusagenturen, durch dessen Vermittlung sich viele europäische Männer brasilianische Frauen in die „erste Welt“ schicken lassen, läßt ebenfalls darauf schließen, sowie meine
Beobachtungen in Berlin zu manchen gemischten Ehen, die evtl. so zustande gekommen sind.
171
Sie verdrängt, daß sie oftmals nur als exotisches Objekt betrachtet
wird, oder ist sich dessen bewußt, weiß aber, daß es ihre einzige Chance
beinhalten kann, den Umständen zu entfliehen, und hofft auf ein besseres
Leben.382 Von der Touristin wird sie ebenfalls wie von der weißen Mittelstandsfrau nicht auf gleichem Rang stehend betrachtet. Sie ist durch ihre
Fremdartigkeit und ihrer Ausstrahlung von sinnlicher Exotik, für sie bedrohliches Objekt.
Die Touristinnen beneiden sie in der Regel um ihre südländische Weiblichkeit und versuchen dies mit der Betonung ihrer materiellen und intellektuellen Überlegenheit zu kompensieren. Sie sind sich ihrer Überlegenheit in dieser Hinsicht bewußt. Die Touristinnen bemerken wiederum, daß ihre Männer
und Freunde hier begehrte Objekte sind. Sie behandeln daher die baianischen
Frauen oftmals distanziert von oben herab.
Die schwarze Frau wiederum sieht die Touristin als Bedrohung für sich
in Beziehung zu den schwarzen Männern, welche von der nordischen, weißhäutigen und blauäugigen Exotik oder der damit verknüpften Wunschphantasie
geblendet sind. Auch bei ihnen ist der Wunsch, mitgenommen zu werden in
die erste, scheinbar weniger rassistische Welt, übermächtig. Der Kontakt zum
Ausländer / zur Ausländerin schafft eine vorübergehende emotionale Distanz
zum vorherrschenden alltäglichen Rassismus und zur Diskriminierung. Die Teilnahme an ihrem Konsumverhalten, Einladungen zu Getränken und Essen gibt
ihm die kurzfristige Illusion, das gleiche Freizeitverhalten wie die Mittel/ Oberschicht zu genießen. Dies belegen die Mehrzahl der Befragten sowie meine
Beobachtungen.
Touristen, die in Paaren auftreten, haben größere Distanz zu den Einheimischen beider Geschlechter, auch bedingt durch die beschriebene Bedrohung durch das Exotische, Erotische, Andersartige. Touristen, Männer und
Frauen, die in gleichgeschlechtlichen Gruppen auftreten oder alleine sind,
pflegen Kontakte mehr oder weniger intensiv und machen dabei meistens erotische und/oder sexuelle Erfahrungen mit den exotischen Gastgebern.
3.3.1.1.2
ano
Beispiele aus Kontaktebenen: Tourist und bai-
„... Die europäischen, nordischen Frauen sind sexuell nicht befriedigt, denn
die Männer aus der ersten Welt sind keine Männer mehr. Das siehst du schon
an der Emanzipation. Gut, die Frauen finden das toll, aber welch Mann läßt
sich das bieten. Ein Mann, der das akzeptiert, ist kein Mann mehr und das
auch im Bett. Was die Frauen im Bett brauchen, sind richtige Männer, die sie
nehmen und ihnen zeigen, was ein Mann ist. Ein starker, ausdauernder Liebhaber, ein Mann mit Muskeln und Kraft. Das finden sie bei uns. Bei uns
schwarzen Männern lernen sie ihre eigentlichen Bedürfnisse kennen und erfahren das erste Mal Befriedigung. Dann werden sie süchtig danach und wollen nur noch einen schwarzen Latino zum Mann...“
(A., Musiker und Frauenheld aus verarmtem schwarzen Mittelstand)
382
Vgl. ebenfalls: Parker (1991:30-67).
172
„Natürlich sage ich das niemandem, aber ich habe ein paar heimliche sexuelle
Erfahrungen mit schwarzen Männern.. Es ist hier bekannt, daß sie viel größere
Schwänze haben und im Bett besser, potenter und stärker als weiße Männer
sind. Das siehst Du ja schon an ihren Muskeln. ... Eine Beziehung zu einem?
Niemals. Ihre muskulösen Körper sind attraktiv. Aber irgendwie auch wie Affen. Angsterregend fand ich das schon, so ein starker, pechschwarzer Körper,
u.s.w.. ...“
(M., weißer Mittelstand)
„Wenn ich mit Dir durch die Straßen gehe, werde ich von allen Schwarzen
beneidet und gehaßt, weil ich scheinbar Erfolg bei einer Touristin habe. Das
kann zur Folge haben, daß sie mich, wenn sie mich wiedersehen, schlecht behandeln, Aggressionen an mir rauslassen. Ich finde das ekelhaft und fühle
mich ständig beobachtet. Die schwarzen Frauen schauen mich verachtungsvoll
an, die fühlen sich verraten, von einem Schwarzen wie sie, der sich mit einer
Weißen zeigt. Wer mich kennt, denkt, was ist denn mit ihm jetzt los. Hat er
das nötig? Die Schwarzen vom Movimento Negro finden das ganz widerlich,
für sie bin ich dann auch ein Verräter ihrer Ideale. Ich tue so, als ob ich nichts
sehen würde, und verschließe mein Gesicht. ...Nein, ich will hier nichts trinken, wenn Du bezahlst, dann heißt es, die Touristin bezahlt den Schwarzen. ...
Die weißen Frauen vom Mittelstand sehen mich dann auch anders an, ich bin
für sie attraktiver, sie denken, mich können sie benutzen für eine sexuelle Affaire im Karneval oder so. Sie denken jetzt, ich verrate meine schwarzen Rassengenossen. Die weißen Männer schauen mich an wie einen dummen, armen
caça gringo, der nichts kann und eine faule Sau ist.“
(F., Student aus schwarzem Mittelstand)
„Ich bin hier wirklich eine Königin. Ich habe studiert und verdiene viel mehr
Geld wie die meisten hier. Das ist keine Erfindung von mir, sondern Tatsache.
Ich kann mir alles leisten, wovon die hier träumen. Ich gebe gerne Geld für die
armen Jungs hier aus, wann sonst könnten sie mal ein Bier trinken? Der ist
ganz mager, ich wette, daß er ewig, außer jetzt mit mir, nichts Richtiges gegessen hat. Aber mitnehmen wollte ich keinen, die kämen in Deutschland
doch nicht zurecht. Das Temperament, die sind doch alle so langsam. ...“
(A., Pädagogin, aus dem ehemaligen Osten, die als Erzieherin arbeitet)
„Ich weiß nicht, woran das liegt, kaum bin ich hier am Platz, werde ich von
ihnen wie von Fliegen umsurrt. Ich trinke Bier mit ihnen, das ich natürlich bezahle. Ich finde das lustig, schau der Kleine dort, den habe ich neulich ins Hotel mitgenommen. Du hättest die dort sehen sollen, der an der Rezeption wollte es verbieten, aber ich bezahle ja, und da mußte er ihn reinlassen. Ich bin
einfach machtlos gegen ihren Charme, sie ziehen mich an, ich weiß auch nicht
warum. Wahrscheinlich dieses zielsichere und trickreiche, machohafte, sie
versuchen es mit allen Mitteln, trotzdem oder vielleicht gerade deswegen falle
ich drauf rein. Wenn ich nein sage, nützt das ebenfalls nichts, das ist für sie
eher eine Aufforderung. Ich bewundere, wie sie sich durchs Leben schlagen,
wie Straßenköter...“
(C., etwas mittellose Tänzerin aus Deutschland)
„Ach ist das toll hier, alle lächeln mich an und sind so freundlich, gesprächig
und tanzen mit mir. Ich amüsiere mich prächtig. Und die Kinder sind auch so
süß und anhänglich, alle so lieb und offen. Es ist faszinierend, das habe ich
nicht erwartet, ich dachte, die Schwarzen betrachten uns Weiße eher skeptisch.“
(B., etwas mittellose Psychologiestudentin, Deutschland)
„Wir haben so tolle Frauen gelernt, wir sind völlig begeistert, viel feiner, zarter und anschmiegsamer, sanfter wie deutsche Frauen. Und so schön. Die wollen uns gar nicht mehr in Ruhe lassen, wollen jeden Tag mit uns zusammen
sein, uns die Stadt zeigen. Ich finde sie auch intelligenter wie deutsche Frauen,
173
sie benehmen sich sehr distingiert. ...Wir haben jeder dreißig Kondome mitgenommen aus Deutschland, im Reiseführer haben wir gelesen, daß an jeder
Hausecke eine schöne Frau steht, die bumsen will, und das ganz umsonst. ...“
(Medizinstudenten aus Frankfurt)
„Ich war ganz erstaunt, daß die Kleine mich wollte. Sie sagt, sie ist 19 Jahre
alt, wenn ich das glauben soll. Ich bin nur still in der Bar gesessen, schön fand
ich sie, aber ich hätte sie nicht angemacht. Ich dachte, ich mit über 40, für sie
ein alter Mann, bin eh nicht attraktiv für sie. Aber sie sagt, sie findet mich
schön. Wahrscheinlich einfach das Fremdländische. Ich kann es kaum glauben, sie will mit mir zusammen bleiben. Sagt, ich wäre der Mann ihres Lebens. ...“
(A., Taxifahrer aus Berlin)
„Ich konnte gar nichts machen, plötzlich war ich umringt von fünf jungen,
tanzenden Frauen. Ich kann ja nicht tanzen, dann hab ich mich halt doch darauf eingelassen, und plötzlich hing die eine an meinem Hals und fing an mich
abzuknutschen und sagte, sie liebt mich. Sie wollte mich sofort mit nach Hause nehmen zu ihrer Tante. Sie ist aus dem Hinterland und hier zu Besuch. ...“
(B., Ökonom, Bremen)
„Die Frauen reisen zu Karneval in Scharen aus dem Hinterland an, um sich einen Mann zu suchen. Sie gehen an die Plätze, wo Touristen sind, und machen
nichts anderes als sie zu beobachten und auf ihre Chance zu warten und sie
dann sofort zu ergreifen. Sie sind meist blutjung, von 14 bis 20 Jahre alt. Da
haben sie die meisten Chancen, ab Anfang 20 sind sie meistens schon zu alt.
Die Touristen wissen gar nichts davon und denken, daß es sich um zufällige
Kontakte handelt, und fühlen sich geschmeichelt. ...“
(M., junge Krankenschwester)
3.3.1.1.3
Ausnahmezustand auf der Straße
Das Zusammentreffen von Touristen und baianos findet meist auf öffentlichen
Plätzen, Straßen, am Strand, in Bars, Restaurants sowie bei Festen und Musikveranstaltungen statt. Das Leben in der Stadt ist im Sommer und Winter komplett unterschiedlich, im Sommer schwärmen baianos in Mengen aus, um ihr
Glück bei Touristen zu suchen, im Winter, auch bei gutem Wetter erwartet
niemand Touristen, und das sparsame häusliche Leben wird gepflegt.
Die Begegnungen mit den Touristen finden außerhalb des Hauses mit
den häuslichen, konventionellen Verhaltensregeln statt, sondern draußen in
einer Atmosphäre, wo Freiheit von den gesellschaftlichen Normen herrscht
und Abenteuer gesucht werden. Hier werden die Konventionen und Regeln
oftmals gegen Unkonventionelles, Regelloses, was immer dies implizieren
mag, eingetauscht.
Das Ausleben von Phantasien hat für beide Parteien, Touristen und Einheimische hier Raum. Für beide Gruppen gilt das gleiche, beide befinden sich
im „Ausnahmezustand“, im konventionslosen Raum, wo alles möglich sein
kann. Die Kategorien Ferien und Straße haben die gleiche Bedeutung, damit
verbundene Wünsche und Bedürfnisse können kurzfristig und reflektionslos
befriedigt werden.
Eine andere Art der Begegnungen findet bei religiösen Ritualen im rituellen Kontext der Einheimischen statt.
174
Schon auf dem Flughafen finden sich an den Tagen, wenn Überseemaschinen ankommen, caça gringos ein, um die verunsicherten Ankömmlinge
gleich am Anfang ihrer Reise abzupassen. Es wird versucht, ausfindig zu machen, in welchem Hotel sie gedenken abzusteigen und ob Interesse für Kontakt besteht. Es wird versucht, sich als Touristenführer zu verkaufen, und es
wird ausgekundschaftet, aus welchen Interessen die Ankömmlinge hier landen.
Auch ehemalige Touristen, die hier geblieben sind und oftmals in der
Tourismusbranche tätig sind, versuchen den Ankömmlingen gleich in ihrer
Muttersprache zu helfen und herauszufinden, an was sie interessiert sind,
Drogen, vorwiegend Kokain nicht ausgeschlossen. Dabei wirken die ausländischen caça gringos vertrauenerweckender, bedingt durch die Verständigungsmöglichkeiten.
„M. knüpft Kontakte am Flughafen und verabredet sich abends mit den Touristen. Er verkauft alles, Sprachkurse, Reiseleitungen an die verschiedensten
Orte, Kontakte zu einheimischen und Kokain. Er ruft dann für abends seine
baianischen Freundinnen an, sie verabreden sich in einer Bar und trinken und
plaudern miteinander, und der Rest ergibt sich von selbst, wenn die Leute sich
mögen. A., z. B., träumt von einem Franzosen, der sie mitnimmt oder einlädt.
Frankreich und Paris sind schick, und sie denken, die Sprache zu lernen, ist
einfach. ...
Deutschland hat schon eher den Ruf von Sextourismus, daß Männer kommen
und sich ungebildete, arme Frauen aus sozialen Mißständen mitnehmen. Zum
Teil funktioniert dies über Agenturen und Annoncen, die Männer brauchen
sich die Frauen gar nicht erst anschauen. Die Frauen denken, sie kämen ins
Paradies, und landen in der Hölle, werden unbezahlte Hausangestellte für die
Männer und müssen all deren Bedürfnisse befriedigen. Geld für einen Rückflug haben sie eh nicht, und die Männer verhindern ebenfalls, daß sie die
Sprache lernen. ...“
Die Gesprächsthemen sind oberflächlicher Natur, und es wird von den
caça gringos versucht, sofort herauszufinden, welche Chancen sie haben, es
wird keine Zeit verloren, so abrupt Gespräche anfangen, werden sie, wenn
alles klar ist und nichts zu machen ist, auch wieder beendet.
„Você sorria, você está na Bahia“ – Du brauchst nur lächeln, denn du
bist in Bahia, ist einer der beliebten Sprüche, die von Einheimischen zu hören
sind, von denen es viele gibt. „Sei fröhlich, sei glücklich, die Sonne scheint.
Welch Freude, welch Glück, welche Heiterkeit, wie schön ist das Leben, wie
schön ist Bahia, welch Magie, welch Wunder, welch schöner Strand, welch
kühles Bier! Tanze, lache, singe, amüsier dich! etc. ...“ Die baianos präsentieren sich gemäß dem Image des sinnlichen Tropikalismus,383 was von ihnen auch
erwartet wird und dem Bild des halbgebildeten Touristen entspricht.
383
„Südlich des Äquators gibt es keine Sünde“, diese getroffene Aussage von Barlaeus von
1660, der die holländische Besetzung Nordost-Brasiliens dokumentierte (Siehe in Parker
1991:136) bezeugt eine der frühen europäischen Sichtweisen, die den Tropikalismus damals
schon begründeten. Seit den 70er-Jahren wird er von brasilianischen Künstlern selbst erneuert,
die viele Liedtexte von langjährigen Hits mit Bildern zu den verschiedenen Klischees, welche
dem Tropikalismus zugeordnet werden, formten.
175
3.3.1.2 „o jeito baiano de ser- was einen baiano ausmacht“
Das „wie ist der baiano“ bzw. „was ist ein baiano“, ist ein sowohl Ansässige
wie Brasilianer andernorts als auch Touristen beschäftigendes Thema. Bahia
genießt innerhalb Brasiliens einen sehr schlechten Ruf, da es anscheinend sein
muß, daß ein Landstrich in Brasilien der ist, den man am meisten verachtet
und auf den man alles Negative abwälzt und projiziert.
Es ist das Land der ehemaligen Sklaven, verlorengegangener Reichtümer
an Plantagen und „kulturloses“ Stück Brasiliens. Heute vor allem das Land der
ungebildeten Arbeitslosen, asozialen Analphabeten aller nur möglichen Hautfarben, Brasiliens Afrika, für das man sich schämen sollte, ein Sündenpfuhl der
Faulen, sich tropischen Sinnengenüssen hinwendenden Nichtsnutze, Tagedieben und Taugenichtsen, dies sind die Klischees, mit denen die Baianos aller
Hautfarben und Gesellschaftsschichten behaftet sind.
„Wenn ich durch die Straße gehe, denke ich, ich bin in Afrika. Soviel Elend,
Herumlungerer, Faulenzer, Dreck und Schmutz, man muß sich schämen. Daß
hier überhaupt Touristen herkommen, nie und nimmer würde ich hier freiwillig hinfahren und dann noch diese schreckliche Hitze, ich muß das jeden Tag
denken. Wie schön und ordentlich doch Europa ist und jeder zieht sich richtig
an, das hat Stil. ...“
(F., Bibliothekar, Salvador)
„Ser baiano“ wird im ganzen Land belacht und verspottet, „ser baiana“
impliziert nur körperliche sinnliche Reize. Selbst staatliche Gelder wandern
kaum nach Bahia, hier soll keine Industrie, keine Bildung, nichts gefördert
werden, außer neuerdings der Tourismus. Es ist der Landstrich, den Brasilien
am liebsten wegdenken möchte. Rio, São Paulo und Brasilia sind die Aushängeschilder des Landes, alle wesentlich europäisch orientiert.
„Baianos feiern 365 Feste im Jahr. Sie feiern sogar beim Schlangestehen, um
Arbeit zu suchen, beim Warten auf der Bank, Sie feiern den längsten Karneval
der Welt und jeden Dienstag und jedes Wochenende.
Wieviel Neid muß das im Kopf des Touristen erwecken!...
Wem gefällt nicht solch Exzeß der Intimität, wie der, den die baianos pflegen...
Die Großzügigkeit wie sie sich miteinander geben, wie sie die Verrücktheiten
des täglichen Lebens leben und sich gegenseitig verzeihen, das gibt es nur in
Bahia.
Baiano sein, heißt eine fundamental fröhliche Person sein, die gut mit dem
Leben steht, auch wenn das Leben nicht gut mit ihr ist. Baiano sein heißt lieben, das Meer anbeten, die Sonne, die Musik und die Faulheit. Baiano sein
heißt die Transzendenz des Karnevals verstehen, seine Hausheiligen zu kultivieren, die im Gegensatz zu den Legenden Wunder vollbringen. Baiano sein
heißt Rhythmus lieben. ...
Es heißt, Gott ist Brasilianer. Da Brasilien in Bahia entdeckt wurde, muß Gott
also Baiano sein. Wir wollen nicht übertreiben. Er gab uns einen herrlichen
Fleck Erde und ein Volk voller Liebe. ...
Der baiano ist unabhängig von Nationalität, Ideologie oder Religion. Auf den
Straßen des Pelô tanzt er, wie niemand sich’s vorstellen kann, ... Die Musik
pocht in den Venen, der Kopf hat Magie und die Brust Perkussion. Wenn du
wissen willst, wie einer Baiano ist, mußt du nur aufmerksam beobachten, wie
er sich an eine Frau ‘ranmacht. ...
176
Wir sind unschuldig und süß, überhaupt nicht vertrauensunwürdig. ...Unsere
Musikalität, Rhythmus und Poesie. ...Über die Magie in der Luft hier, die
wirklich existiert, wurde schon viel gesprochen, aber niemand kann sie wirklich erklären, was auch nicht wichtig ist. ...
Baiano sein, heißt in erster Linie tolerant sein. Guter Wille mit anderen Personen, Akzeptieren und Zusammenleben mit Fremden, das heißt Gastfreundschaft, was aus dem Vertrautsein des Teilnehmens in einer Gemeinschaft der
Rassenmischung und des Synkretismus resultiert, eine Neigung zur Harmonie.
...Optimismus, friedliches Temperament, Angepaßtsein, Disponibilität für Feste, ...mystisch und barock, ...die schönste Erde der Welt. ...Das ist die pure
Wahrheit. ...
Sein Lachen ist unwiderstehlich. Wer keinen Strand liebt, kein Fußball und
keinen Karneval, kein gutes Bierchen bei einem hübschen Tratsch, der ist kein
baiano. ... Er liebt es, Glaubensanschauungen, Geschmäcker, Farben und Rassen zu vermischen. Sein Zeitgefühl hat nicht die Rigidität eines Paulistas. Wir
sind in einer Stadt der Sonne, mit einem schönen Meer, azurblau, das Ruhe
ausstrahlt. Der baiano kommt ein bißchen zu spät, aber wenn er kommt, dann
kommt er. ...An den Festtagen wie Bonfim, Yemanjá, Pituba etc. arbeitet der
baiano nicht, um sehr „religiös“ zu sein. ...
Es gibt Feste, weil das Fest aus dem Glauben entsteht und Glauben hat seinen
Ursprung im Glück (festa, fé, felicidade). Darum meint das Volk, daß jeden
Tag das Leben gelobt werden muß. Die meisten Feste beginnen in der Kirche
und enden hinter dem „trio electrico“ (Musikwagen bei Volksfesten). Wenn
ein kleines Wunder geschieht, sind die Menschen bereit, einen Tag länger zu
leben, und ein Fest und Glück ist ein kleines großes Wunder. Ist es nicht viel
besser so zu leben?...
Aber der baiano ist auch ein Arbeiter. Er packt hart zu, was zählt. Nur am
Monat vor Karneval und drei Tage danach arbeitet er nicht. Du kannst Gift
darauf nehmen, daß er dann wieder arbeitet und tollere Geschichten als alle
Forscher zu erzählen hat. ...
Der baiano trägt Musikalität und Hüftschaukeln in sich. ...
Der baiano ist immer bereit, sein strahlendes Lachen erschallen zu lassen, und
beginnt beim Klang der ersten Trommel zum Tanzen. Baiano-sein bedeutet
den ganzen Tag zu feiern und am nächsten Tag mit herunterhängenden Mundwinkeln zu spät zur Arbeit zu kommen. Er geht ohne Eile, läßt dabei die Umgebung auf sich wirken und mit dem selbstverständlichen Schwätzchen mit
Freunden, die er auf dem Weg trifft, und dabei hält er den Verkehr auf. ...
Am liebsten wird über uns gesagt, daß wir keine Lust hätten zu arbeiten. Aber
wie kann man das behaupten, wo wir so viel körperlichen Kraftaufwand betreiben? Unser Volk ist in der Lage, Stunden um Stunden auf den Beinen zu
sein, um in einer Menschenmenge hinter einem trio eletrico zu tanzen. ...
Das einzige, was es in Salvador zu bemängeln gibt, ist das Fehlen von Glück,
wenn es darum geht, ihre Gouverneure auszuwählen. ...“
(Zitate aus einer Ausstellung verschiedener, vorwiegend baianischer
sowie brasilianischer Journalisten zum Thema „o jeito baiano de ser“,
März 1995, Shopping Barra, Salvador)
Die Medien im ganzen Land konstruieren ein negatives, klischeehaftes
Bild des baianos in allen Schattierungen, wie aus den obigen Zitaten ersichtlich. Sie betonen die Minderwertigkeit der Schwarzen und bauschen die Gewalttätigkeit der Verbrecher auf. Zeitungen und Fernsehen dokumentieren
ausschließlich schwarze Verbrecher und zeigen allerlei damit zusammenhängende Widerwärtigkeiten.
Baianos selbst stellen sich entsprechend den oben angeführten Zitaten
dar, als eine Mischung aus Tropikalismus, kreativem Potential und Herzens177
wärme. Sie versuchen erfolgreich, ein von Körperlichkeit, Sinnlichkeit und
Sexualität geprägtes Bild von sich zu verkaufen. Sie sind sich ihrer ambivalenten Stellung, die sie im Land haben, bewußt und präsentieren die sonst zweifelhaften Werte, mit denen sie stigmatisiert sind, stolz den Feriengästen, hier
im Bereich des Freizeitsektors, in dem sie allgemein für nützlich, das heißt
Gewinn bringend, angesehen werden.
Die Stadtzeitungen Salvadors drucken jeden Tag ein bis zwei Seiten Reportagen über Verbrecher, deren Photos zudem veröffentlicht werden, wobei
es sich ausnahmslos um Schwarze handelt. Positiv und als Stars und Schauspieler werden nur Weiße in den Medien dargestellt. Es wird ein Bild präsentiert,
als gäbe es keine Dunkelhäutigen, Indianer und Mischlinge im Land, und wenn
sie dargestellt werden, ausschließlich als selbstverschuldete Problemfälle, für
die niemand die Verantwortung trägt.
3.3.1.2.1
„Rezept für die Zubereitung eines baianos:
Man bereitet einen authentischen baiano folgendermaßen zu:
Die Zutaten:
Mische ein bißchen die Farben weiß, rot und schwarz, füge ein breites Lachen
hinzu, eine Prise Lockerheit, ein sehr großes Herz, eine artistische Seele, eine
große Dosis Sinnlichkeit, ein Stück unschuldige Boshaftigkeit, einen maßlosen Sinn für das individuelle Recht, nicht ein bißchen Gefühl für kollektive
Rechte, Hüftschwung beim Gehen, ein bißchen Langsamkeit, viele Anteile
von Kreativität, einen Haufen Liebe für Tänze und Feste auf der Straße, eine
große Portion Glauben und Mystizismus, ein bißchen Unkonzentriertheit, viel
Kokettheit, eine Handvoll Nachlässigkeit, eine Messerspitze Faulheit und fertig.
Zubereitungsmethode: Alles zusammenwerfen und in eine Pfanne aus Ton fügen. dendê-Öl hinzufügen, duftendes Chili, Salz und grünen Koriander. Gut
vermischen, bis eine konsistente Masse entsteht. Ein paar Minuten im Ofen
garen lassen.
Ergiebigkeit: unermeßlich
Empfehlung: Serviere heiß, sehr heiß!
(Márcia Moreira 1995, brasilianische Journalistin; Text aus der Ausstellung
im März 1995 im Shopping Barra „o jeito baiano de ser“)
Obiges Zitat gibt in lyrischer Form die Klischees wieder, die ebenfalls
dem oberflächlichen Meinungsbild der Touristen über ihre Gastgeber entsprechen, inklusive der Reduzierung auf das Objekt, das es zu konsumieren gilt:
eine heiße, üppige Speise, ein Festmahl wie muqueca,384 das jedoch nicht für
alle Tage zum Verzehr geeignet ist und wenn man zuviel davon ißt, bereitet es
Verdauungsstörungen.
Nun allerdings ist Bahia auch das Ferienparadies für die aus dem reichen Süden anreisenden Touristen. Künstler aus Rio verbringen ihre Ferien
dort und feiern mit der Musik der Schwarzen. Gerade die baianische Kultur ist
heute zur anziehendsten im Land geworden als vielfältige Freizeitvergnügung
und neuerdings Brasiliens Aushängeschild. Weiterhin wird „das baianische“ mit
Ambivalenz betrachtet, als nutzlos gebrandmarkte Kultur der Schwarzen und
384
Typisch baianisches Gericht für Festtage, mit Fisch und genannten pikanten Gewürzen.
178
Mischlinge, die nun aber gewinnbringend in der Freizeit-, Musik- und Tourismusbranche zu vermarkten ist.
3.3.1.2.2
Gegenseitige Idealisierungen
Ebenfalls durch die Wirkung der brasilianischen Medien, die Klischees über die
„erste Welt“ verbreiten und den Eindruck, den die scheinbar reichen und
halbgebildeten Touristen hinterlassen und gerne vermitteln, idealisieren die
Baianos die erste Welt zum Paradies. Berichte von im europäischen Ausland
lebenden Bahianer, die manchmal ihre Heimat besuchen, bestätigen die Paradiesidylle.
In dieser Hinsicht sind Touristen und Bahianer völlig gleich, für beide ist
das Paradies dort, wo der andere lebt, dort wo das ist, was man im alltäglichen Leben nicht bekommt und/oder nicht integrieren kann. Für die Touristen
hat die sinnliche und ekstatische Triebbefriedigung die gleiche Wertigkeit wie
für den baiano materielle und durch Konsum erreichte Triebbefriedigung.
Beide Gruppen unterliegen dem Eindruck, im jeweiligen Ausland ließe
es sich einfacher leben und wäre leichter Geld zu verdienen. In Bahia, stellt
sich der Tourist vor, könnte er irgend etwas zum einfachen Geldverdienen auf
die Beine stellen, z.B. durch die Einrichtung einer Bar und dann baianos für
sich arbeiten lassen. Er würde am Strand liegen und „ser baiano“ spielen, und
die baianos würden seinem nordischen Charme, wie er oftmals gespürt hat,
erliegen und mit ihm das Leben feiern.
Der baiano stellt sich vor, im reichen Europa würde durch den Einfluß
der ihn kennenden Touristen und deren Liebe zu Bahia und zum baianischen
Tropikalismus qualifizierte Arbeit ihn erwarten, und er könnte in großer Geschwindigkeit reich werden und dies meist mittels seiner künstlerischen Fähigkeiten im Musik- und Tanzsektor und seinem ihm eigenen besonderen baianischen Flair, dessen Erfolg er vielfach an Touristen erprobt hat.
Nach langen Gesprächen erst sehen kritische Individuen aus allen sozialen Schichten, die sich mit der Thematik mit mir auseinandersetzten, ganz
klare Realitäten; auf der einen Seite materielle Sicherheit, die verbunden ist
mit Einbußen an sinnenfreudigen Lebensqualitäten und auf der anderen Seite
materielle Unsicherheit, verknüpft mit sinnlicher Erfüllung. Beide zu verbinden, würde die Lebensqualität enorm erweitern, aber scheinbar sind sie nicht
dauerhaft miteinander in Einklang zu bringen.
Ein baiano, der sich selbständig macht, um auf Dauer mehr materielle
Sicherheit und Gewinn als im Angestelltenverhältnis zu erzielen, unterliegt
dem gleichen Leistungsdruck und Mangel an Freizeit sowie Freizeitgestaltungsmöglichkeiten wie eine Person aus der „ersten Welt“, die meist in
fremdbestimmtes Arbeitsleben eingebunden ist.
179
4
Beschreibung von traditionellen und modernen, religiösen und weltlichen öffentlichen Festveranstaltungen
Seit ca. fünf Jahren zunehmend, finden die Feste unter Anwesenheit von vielen Touristen statt. Alle haben sich dadurch in dem Sinne verändert, daß sie
kommerzieller, für die baianische Bevölkerung teurer als früher und auf den
Touristen und touristische Bedürfnisse hin abgestimmt, organisiert werden.
Ich wählte einige Feste aus, die mir dazu geeignet schienen, die Berührungspunkte Tourist / baiano und die damit verbundene Problematik zu beschreiben.
Die Vielzahl der Feste macht es unmöglich, auf alle einzugehen.385 Der
von mir getroffenen Auswahl von Festbeschreibungen möchte ich mit einem
kurzen Abbildungsteil, bestehend aus Photos verschiedener Feste, die ich
während meinen Feldforschungen aufgenommen habe, voranstellen. Danach
folgt die Beschreibung des Festes Boa Morte in Cachoeira, da ich der Ansicht
bin, hier ein ursprüngliches Fest ohne Teilnahme von Touristen zu finden und
zudem eine deutliche Unterscheidung Land- und Stadtfeste treffen zu können.
Dem ist nicht mehr so, wie meine Beschreibung verdeutlichen wird. Boa Morte
wird zudem ausführlich beschrieben, da zu diesem Fest in der vorhandenen
Literatur kaum Beschreibungen existieren. Gleichfalls existiert zum baianischen Karneval keine ausführliche Beschreibung, obwohl er theoretisch schon
Beachtung gefunden hat.386 Andere religiöse Feste wurden am Mestrado de
anthropologia der Universität Salvador beschrieben und behandelt.387
385
Dies ist im Zusammenhang mit meinem Thema ebenfalls nicht nötig, da vieles im Festablauf
ähnlich ist.
386
Vgl. hierzu: Queiroz, 1992.
387
Siehe hierzu Vienna 1985; Guimaraes 1994; u.a..
180
Abbildung 13: Festa da Boa Morte 1995
181
Abbildung 14: Tempel von Yémanja, 1993
182
Abbildung 15: Festa da Yémanja 1994
183
Abbildung 16: Festa da Yémanja 1994
184
Abbildung 17: Festa da Yémanja 1994
185
Abbildung 18:Afoxé Filhos de Gandhi im Karneval 1994
186
Abbildung 19: Tänzer des Afoxé Korin Efan im Karneval 1996
187
Abbildung 20: Tänzerin des Bloco Afro Malê Debalê im Karneval 1996
188
Abbildung 21: Tänzer des Bloco Afro Malê Debalê im Kostüm des Omolu, Karneval 1996
189
Abbildung 22: Tänzer des Bloco Afro Malê Debalê, Karneval 1996
190
Abbildung 23: Bloco Afro Olodum im Karneval 1996
191
Abbildung 24: : Bloco Afro Olodum im Karneval 1995
192
Abbildung 25: Bloco Afro Ilê Aiyê im Karneval 1996
193
Abbildung 26: Bloco Afro Ilê Aiyê im Karneval 1996
194
Abbildung 27: Capoeira im Karneval 1994
195
Abbildung 28: mãe-de-santo spät nachts im Karneval 1996
196
Abbildung 29: Die „andere Seite“ des Karneval,. 1994
197
Abbildung 30: Straßenjunge in Salvador
198
Abbildung 31: Pelourinho in Salvador, 1994
199
4.1.1.1 Die Stärke der schwarzen Frau - Boa Morte
Jedes Jahr am dritten oder vierten Augustwochenende388 wird in Cachoeira das
Fest der katholischen389 irmandade (Schwesternschaft) mit Namen Nossa Senhora da Boa Morte (Unsere Frau des schönen Todes) gefeiert. Dieses Fest wird
anläßlich Maria Himmelfahrt von einer Gemeinschaft älterer, ausschließlich
schwarzer, dem candomblé verbundener Frauen gefeiert.
Sie wird, wie die anderen existierenden irmandades der schwarzen Kultur eines, bzw. mehrerer beherrschter Völker, als synkretistische Organisation
beschrieben, die im Exil geschickt zwischen der eigenen und fremden Welt
überleben konnte. Sie wie alle Sklaven mußten den Forderungen der Portugiesen nach Unterwerfung und Gehorsam gegenüber ihrer institutionellen Macht
Genüge leisten und der herrschenden, kolonialen Religion Tribute zahlen, um
ihrer eigenen Vernichtung zu entgehen.390
Die irmandade da Senhora da Boa Morte wird mit anderen irmandades
in verschiedenen Ethnographien zur afro-brasilianischen Kultur und Religion in
der Geschichte Brasiliens und Bahias kurz erwähnt (Bastide 1971, Gerbert
1970, de Hohenstein 1991) sowie im Zusammenhang mit Widerstandsbewegungen und Überlebensstrategien der Afro-Brasilianer (Sodré 1983).
Die vorhandenen Beschreibungen widersprechen zum Teil dem, was mir
die Stadtbevölkerung und Mitglieder der irmandade persönlich berichteten.
Ich interpretiere dies folgendermaßen: daß die Legende der Boa Morte in der
Literatur nicht erwähnt wird, deute ich als mangelnde Recherche.391 Legenden
beruhen nicht unbedingt auf wahren Begebenheiten, sagen aber viel über die
jeweilige Kultur aus, die, aus welchem Grund auch immer, nicht schriftlich
überliefert ist. Die Afro-Brasilianer haben als Unterdrückte, außerdem meist
Analphabeten, ihre Legenden und Geschichte nicht niedergeschrieben. Prozesse dazu sind erst seit neuestem im Gange im Zusammenhang mit der immer
388
Nach Aussagen einiger der Schwestern der Schwesternschaft, Personen der Stadtbevölkerung
und Bahia Artes Gráficas (1987:18); Andere behaupten, das Datum des Festes liege in der ersten Augusthälfte, z.B. Oliveira de Pinto (1991:140).
Nach Schäber (1993:194) findet das Fest jedes Jahr von Freitag bis Sonntag vor dem 15. August statt. 1995 war das Fest in der ersten Hälfte des Augusts, aber von Sonntag bis Dienstag.
389
Wie bei allen religiösen Ritualen, die von Afro-Brasilianern verrichtet werden, beinhaltet das
Fest zum größten Teil candomblé-Rituale und -Glaubensinhalte. Öffentlich werden streng katholische Normen zum Ausdruck gebracht. Die brasilianischen Medien sowie die meisten der
einheimischen Besucher und selbst die Mehrzahl der Mitglieder der Schwesternschaft sprechen von einem katholischen Fest. Nachts in den terreiros werden die tags nicht erwähnten,
aber zentralen candomblé-Rituale ausgeübt.
Der Brauch der Beerdigungsprozession der Jungfrau, bzw. der Prozession -„unserer Frau des
schönen Todes“ soll ein ursprünglich aus Portugal stammender katholischer Brauch sein. Bahia Artes Gráficas (1984:26).
390
Sodré 1983:132.
391
Wie an anderer Stelle beschrieben, waren viele der Forscher der afro-brasilianischen Religionen vom Ende des letzten Jhs. bis heute selbst diskriminierend. Sie wurden und werden von
den Schwarzen, über die sie forschen, verständlicherweise mit Vorsicht behandelt.
200
stärker werdenden Schwarzen Bewegung (movimento negro) zur Bildung
schwarzen Bewußtseins in Salvador und den anderen großen Städten.
Die geschichtlichen Zusammenhänge werden von der Bevölkerung verschieden mitgeteilt, da sie zum Teil vergessen wurden oder nicht gewußt werden. Wenn sie nur katholische Versionen erzählen, handelt es sich meist darum, daß sie ihren Glauben afrikanischen Ursprungs immer noch vertuschen
wollen und müssen, um weniger diskriminiert zu werden.
In der Literatur zur Tourismuspropaganda und in Reiseführern wird die
irmandade im Zusammenhang mit den stattfindenden Prozessionen und der
Stadt Cachoeira meist als Organisation katholischer schwarzen Frauen erwähnt, die folkloristisch interessant sind, in bezug auf Essen und Kleidung,
und mystische Glaubensinhalte pflegen, die für Bahia typisch sind.392
Cachoeira ist das Zentrum des Zuckerrohranbaus von Bahia, wo einstmals, ab ca. 1540, die größten Sklavensiedlungen entstanden sind. Dadurch,
daß das fruchtbare Gebiet um Cachoeira, 109 km von Salvador entfernt, durch
den Fluß Paraguaçu mit dem Meer verbunden ist, wurde es seit den Anfängen
der portugiesischen Eroberung als strategischer Handelspunkt zwischen Lissabon und dem baianischen Hinterland bedeutsam. Von hier aus wollten die Eroberer, Abenteurer, Goldsucher, Händler und Missionare in die unbekannte
Wildnis aufbrechen, um Indios als Sklaven zu fangen oder sie zum Christentum
zu bekehren oder Gold und andere Schätze zu suchen.
Viel langsamer als geplant, nach langen Kriegen mit den Indios, eingeschleppter Pest, Pocken und Schnupfen entstanden die ersten Plantagen und
Mühlen. Ab dem 16. Jahrhundert entwickelte sich die Stadt langsam mit ihren
Wohnhäusern, Plätzen, Gassen, Kirchen, Rathaus, Konvent und dem Sklavenmarkt und Gefängnis im portugiesischen Barockstil, finanziert durch Sklavenhandel, Zuckerrohr, Handel mit Tabak und dem wenigen Gold, das bis dahin
gefunden worden war.
Im 18. Jahrhundert entstand eine Kachelfabrik nach portugiesischem
Vorbild. 1885 wurde die 365m lange Eisenbrücke Dom Pedro II. über den Fluß
fertiggestellt, die seither die Zwillingsstadt São Felix auf der anderen Seite
des Ufers mit Cachoeira verbindet. Hier gab es vorwiegend Tabakplantagen.
Cachoeira war als Handelshafen für Zucker, Tabak und Diamanten aus dem
Hinterland bis Anfang dieses Jahrhunderts bedeutsam.393 Die Verwaltung,
Handelskontore und der Rat hatten ihren Sitz in Cachoeira. Durch die Ausbildung eines Eisenbahn- und Straßennetzes verlagerte sich das Handelsgebiet
später nach Norden zu der Stadt Feira de Santana, die dann strategisch günstiger lag.
392
Vgl. Guia Turístico 1995, Travel Survival Kit 1992 u.a.
Bis Ende des letzten Jhs. spielte der Sklavenhandel eine wesentliche Rolle für den Reichtum
der Stadt. Sie wurden gegen Tabak getauscht, der von Cachoeira nach Afrika transportiert
wurde.
393
201
Cachoeira und São Felix scheinen sich seit dem 18. Jahrhundert nicht
verwandelt zu haben, außer daß der alte Barock bröckelt. Schöne alte Ruinen
zieren die Gassen zwischen noch bewohnbaren Häusern. Ca. 28-30.000 Menschen leben hier auf den fruchtbaren Hügeln mit den vielen kleinen Wasserfällen. Ab und zu stellt Hochwasser ein Problem für die Bauwerke und die Menschen dar. Die sich 5 km flußaufwärts befindende Talsperre, die errichtet
wurde, um die Städte vor Hochwasser zu schützen, mußte 1990 geöffnet werden, weil die Wassermenge den Staudamm hätte zerstören können. Ein 10 Tage dauerndes Hochwasser zerstörte weitere Teile der barocken Gebäude.
Die Glanzzeit des 18. und 19. Jahrhunderts der Stadt Cachoeira ist dahin. Eines der größten Probleme ist heute die Arbeitslosigkeit. Die wenigen
übriggebliebenen Zuckerrohr- und Tabakplantagen ernähren die Stadt nicht
mehr. Viele Häuser stehen als Ruinen außerhalb der Stadt. Außer Fischerei,
Schnaps- und Likörbrennerei, Orangen und Cashewnüssen, in begrenztem
Rahmen, scheint es keine Alternativen zu geben. Viele der jungen Arbeitslosen
wandern nach Salvador ab. Hier leben sie in einer der vielen favelas am Stadtrand und versuchen sich Gelegenheitsjobs zu arrangieren, wie z.B. in der
Touristensaison Eis oder Bier am Strand zu verkaufen u.ä.
Das Stadtleben scheint monoton zu sein. In den kleinen cachaça-Bars
werden schon früh morgens Wassergläser voll billigem Zuckerrohrschnaps an
die Einwohner verkauft. So ist es kein seltener Anblick, morgens um 10 Uhr
betrunkenen Frauen und Männern zu begegnen. Viele Familien stellen ihren
eigenen Likör her, der zum Zeitvertreib zu jeder Tageszeit getrunken wird.
Wie in der Hauptstadt ist das Bildungssystem mangelhaft und für die meisten
zu teuer. In der kleinen Stadtschule lernen die wenigen, die sie besuchen können, zu wenig. Wie in der Hauptstadt lungern auch hier viele Straßenkinder
herum, von denen jedoch viele nachts nach Hause zu ihren Verwandten gehen
können.
Seit Anfang der 80er Jahre versuchen die Bürgermeister die Stadt touristisch attraktiv zu gestalten. Die Karmeliter-Klosteranlage wurde aufwendig
restauriert, im Innenhof mit Swimmingpool versehen und ist heute ein DreiSterne-Hotel. Drei weitere einfache Pensionen, ein paar Restaurants und Bars
sollen die immer noch spärlich ankommenden Touristen versorgen. Als touristische Attraktion wird die alte Eisenbrücke sowie der barocke Baustil der Stadt
angeboten. Neuerdings geht auch hier der Trend zur Vermarktung der afrobrasilianischen Kultur. Die vielen religiösen Feste werden immer mehr mit
folkloristischen Festelementen (Tanz, Musik, Essen, Trinken, Musik, Shows,
Artistenbazars etc.) verknüpft, um mehr Touristen anzulocken.394 Für die Res-
394
Vgl. Bahia, Artes Gráficas (1987:32;38). Im Guia Turístico (1995:127), dem portugiesisch/spanisch/englischen Touristenführer von Bahiatursa, wird für Cachoeira u.a. mit folgenden Worten geworben:
„In Cachoeira mischten sich die afrikanischen Schwarzen mit den Portugiesen, und es entstand ein tief mystisches Volk mit großer kulinarischer Geschicklichkeit, das sich mit ungewöhnlichem Geist (oder Sinn) in Musik und Folklore ausdrückt.“
202
taurierung der Stadt, die der Bevölkerung versprochen wurde und die 1994
beginnen sollte, reicht das Geld jedoch bei weitem nicht.395
Außer zu den Festtagen reisen bis jetzt noch wenige Touristen an, die
Salvadorianer bevorzugen ihre weitläufigen Strandgebiete und die dortigen
Vergnügungen. Die Reise durchs Hinterland mit seinen holprigen Straßen ist
mühsam, und die Gerüchte von Straßenräubern und Dieben verängstigen den
salvadorianischen Mittelstand, der sich diese Ausflüge wohl leisten könnte. Die
Strandstraßen außerhalb Salvadors werden jetzt zum Teil von der Polizei bewacht und scheinen sicherer zu sein. Auch für ausländische Touristen bietet
die Hauptstadt mit ihren Stränden mehr.
Von Cachoeira, der ehemaligen Plantagensiedlung mit den meisten
afrikanischen Sklaven Brasiliens, hat sich im Hinterland die afro-brasilianische
Kultur entwickelt und ausgebreitet.396 Hier faßte die ursprünglich in Salvador
gegründete schwarze katholische Schwesternschaft Nossa Senhora da Boa Morte Fuß. Die Mitglieder sind Anhänger des candomblé, die heute noch ihre Rituale traditionell verrichten und für die Afro-Brasilianer von religiösem und kulturellem Wert bedeutsam geblieben sind. Anläßlich des Todestages der Senhora da Boa Morte zelebrieren Einheimische und neuerdings schwarze Pilger aus
den Vereinigten Staaten sowie Afrikaner, welche sich auf ihre afrikanischen
Wurzeln beziehen, gemeinsam deren Todestag und Auferstehung, sowie den
Weg der Freiheit aus der Sklaverei. Dies bezieht sich auf eine langjährige Tradition, die in Salvador im historischen Stadtzentrum in der Kirche Barroquinha
entstanden war. Hier wurde von schwarzen Sklaven 1823 die Gesellschaft Boa
Morte ins Leben gerufen und das erste candomblé-terreiro gegründet.397
Die schwarzen irmandades (Bruder- oder Schwesternschaften) waren in
Brasilien weitverbreitet. Sie wurden von der katholischen Kirche ins Leben
gerufen nach dem Vorbild der weißen Bruder- und Schwesternschaften. Hier
durften alle Zeremonien stattfinden, sofern sie mit dem Katholizismus vereinbar waren. In der Praxis jedoch wurden afrikanische Rituale im Verborgenen
und katholische in der Öffentlichkeit praktiziert.
Die irmandades entsprachen der damaligen Strategie der Kolonialpolitik. In jeder dieser Vereinigung versammelte sich jeweils nur eine Ethnie oder
Nation unter dem Schutz eines speziellen katholischen Heiligen. Dies war in
erster Linie der Konkurrenz und Spaltung der verschiedenen Ethnien der Sklaven förderlich. Die irmandades übernahmen eine wichtige Funktion in der Erhaltung der kolonialen und später kaiserlichen Macht. Ihnen wurde der katho-
395
In Cachoeira läßt sich sehr gut die Geschichte des kolonialen Bahias und der ehemaligen
Sklaverei verfolgen, in den Reiseführern wird dem wenig Bedeutung zugemessen „There’s
nothing you really have to see, so it’s best to just take it easy...“(Travel Survival Kit
1992:399).
396
Von den indianischen Kulturen finden sich ebenfalls einige Elemente, vor allem in den candomblé-Ritualen und Sprache, Holzschnitzkunst, Kanubau u.a..
397
Vgl. Bahia Artes Gráficas (13.3.1987:18-20).
203
lische Glaube aufgezwungen, und sie waren von der Kirche und damit auch
vom Staat leicht zu kontrollierende Organisationen.398
Seit Anbeginn der Sklaverei waren Konflikte zwischen den Besitzern und
ihren Sklaven, bedingt durch die Interessenunterschiede, an der Tagesordnung. Die Besitzer versuchten Sklaven aus verschiedenen Ethnien zu vermischen und Angehörige der gleichen Bevölkerungsgruppe zu trennen, um die
Kommunikation zwischen ihnen zu erschweren. Auf Dauer gelang dies jedoch
nicht, bedingt durch die Vielzahl der Sklaven, ihrem gemeinsamen Ziel, der
Sklaverei zu entrinnen und der durch die Arbeit bedingten Kontaktmöglichkeiten zwischen ihnen. Gleichzeitig entstanden innerafrikanische Religionsmischungen. Diese waren zum Teil schon vor ihrer Ankunft in Brasilien existent,
dadurch, daß viele von ihnen in Afrika schon mit dem Christentum und den
Missionaren in Kontakt gekommen waren. Kontakte zwischen den verschiedenen Ethnien waren dort ebenfalls gegeben.
Im Verborgenen vereinigten sich die Sklaven, um Rebellionen, Flucht
und Sklavenbefreiung durch Freikauf zu organisieren. Dabei spielten differente religiöse Überzeugungen keine Rolle. Mit der Zerstörung der Stammesorganisationen und in der gegebenen Situation wurden alte Stammes- und Glaubensrivalitäten aufgegeben, jedoch ethnische Differenzen und Charakteristika
bestanden weiter.
Die irmandades stellten Hierarchien mit Oberhäuptern oder Chefs und
Richtern auf.
„Die gewählten Machtinstanzen, selber schwarze Sklaven, wurden zur Repression anderer nicht konformer, rebellischer Sklaven eingesetzt. Diese gewählten Richter und Könige übernahmen eine janusköpfige Rolle: einerseits
straften sie im Dienste der Herrschenden ihre eigenen Landsleute, Frauen und
Männer, und andererseits repräsentierten sie ein Stück traditioneller Kultur der
Afrikaner, die oft aus autoritären, streng hierarchischen Stammesgesellschaften kamen.”399
Ab Mitte des letzten Jahrhunderts verbanden sich die irmandades mit
aufrührerischen Sklaven und erhielten mit dieser Solidarität immer mehr Klassencharakter. Hinter der offiziellen Kulisse der katholischen Rituale entstand
sozialer und kultureller Raum für die Afro-Brasilianer. Offiziell durften sie ihre
Gesänge und Tänze und bestimmte afrikanische Rituale ausüben, sofern sie
dem Katholizismus nicht widersprachen, was jedoch von den Herrschenden
schwer zu kontrollieren war.
In den irmandades trafen sich nun ebenfalls Mitglieder verschiedener
Ethnien und wirkten im Untergrund für die Befreiung aus der Sklaverei. So
auch die irmandade de Nossa Senhora da Boa Morte, die sich als erste afro398
Vgl. Braga 1988:13 und de Hohenstein 1991:45. Die Interessen der Sklaven wurden auf die
kirchlichen Feiertage und Prozessionen gerichtet. Das Hauptziel der Kirche soll gewesen sein,
den sozialen Aufstieg der schwarzen Bevölkerung zu verhindern. Die irmandades, die unter
dem Schutz der katholischen Kirche standen, fungierten als institutionalisiertes Repressionsmittel.
399
de Hohenstein (1991:45-46).
204
brasilianische Religionsinstitution den Namen candomblé gab. Die „Synkretisierung“400 zwischen afrikanischer und katholischer Religion, indem unter dem
Deckmantel der christlichen Heiligen die afrikanischen Götter angebetet wurden, soll, nach de Hohenstein 1991, hier ihren Ursprung gefunden haben.401
Es werden viele Legenden von Boa Morte und der irmandade berichtet,
so Panorama Bahia 1984: Von Jeje-Sklaven wurde die irmandade von Salvador
nach Cachoeira gebracht und soll hier vorerst ohne Beziehungen zur katholischen Kirche existiert haben. Die Sklaven sollen vor der Abschaffung der Sklaverei, 1888, ein Gelübde abgelegt haben, das beinhaltete, daß sie, sollten sie
die Freiheit erlangen, dieses Fest regelmäßig feiern würden. Sie hatten ihre
Befreiung schon erwartet und baten Gott, daß der Tag der Freiheit bald da
sei. Als der Tag erreicht wurde, begannen sie mit diesen Zeremonien.
Das Fest soll vor der Abschaffung der Sklaverei nicht existiert haben,
zumindest nicht in Cachoeira. Vorher soll es sich um ein geheimes afrikanisches Ritual gehandelt haben, und der katholische Teil des Festes soll noch
nicht existent gewesen sein. Nach der Freiheit sollen die fröhlichen Elemente
wie samba-de-roda und ebenfalls die katholische Messe hinzugekommen
sein.402
Zum Zeitpunkt der Gründung, Anfang dieses Jahrhunderts, soll die Gemeinschaft aus 200 Mitgliedern, ausschließlich schwarzen Frauen, ehemaligen
Sklavinnen, bestanden haben. In den 80er Jahren wurden noch 40-50 gezählt,
bis 1994 hat sich die Zahl auf 24 Schwestern reduziert. Die alten Schwestern
sterben, und es mangelt an interessiertem Nachwuchs. Ihre Tätigkeiten sollen
sich heute auf das Fest und deren Vorbereitungen beschränken.403
Zur Zeit der Sklaverei haben die Schwestern auf ihre Art für die Freiheit
gekämpft. Dadurch, daß sie eine katholische Schwesternschaft gründeten,
standen sie unter dem Schutz der katholischen Kirche.404 In die Schwesternschaft aufgenommen wurden Frauen, die älter als 40 Jahre waren, da diesen
zur geistigen Hingabe und Nächstenliebe, ohne materielles und sexuelles Interesse, die nötige Reife zugesprochen wurde. Die neu aufgenommenen Schwestern waren für drei Jahre Novizinnen405 unter der Aufsicht der älteren Schwestern. Ihre Funktion bestand aus Hilfstätigkeiten für die Festvorbereitungen
400
Der Begriff Synkretismus wurde im Kapitel 2.9.2. ausführlich diskutiert und kritisiert. An
dieser Stelle sei nochmals auf seine falsche Verwendung hingewiesen.
401
Vgl. Bastide 1971 und Gerbert 1970.
402
Vgl. Bahia, Artes Gráficas (1984:26).
403
Nach Bahia Artes Gráficas (1987:19). Der Verein besteht aus einer komplexen Organisation
mit Vorstand, juristischer Person u.a. Dieser Aufbau entspricht der jedes existierenden candomblé-terreiros, mit Vermittlern zwischen Kultstätte und Gesellschaft. Vgl. hierzu Kap.3.
404
Es gab jedoch häufig heftige Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Kirche und
der Schwesternschaft. Bis heute ist es die einzige Möglichkeit für die Frauen, ihren diskriminierten Glauben zu tarnen.
405
In der Initiationszeit werden sie irmãs de bolsa genannt.
205
und dem Erlernen der Regeln der Schwesternschaft.406 Danach erlangten sie
den Status einer Schwester, was sich im Tragen der gleichen Trachten wie die
Mitschwestern zeigt.
Die Abschaffung der Sklaverei 1888 brachte längst nicht die erhoffte
Freiheit, sondern teils noch größeres soziales Elend als vorher, da die Schwarzen vorher in ihrem Status als Sklaven teilweise wenigstens erwarten konnten,
bei Krankheit und Alter von ihrem Herrn ernährt zu werden. Das gleiche galt
für die noch nicht arbeitsfähigen Kinder der Sklavinnen. Nach Beendigung der
Sklaverei wurden viele von ihren ehemaligen Herren gegen einen Hungerlohn
eingestellt. Der Versuch, in Salvador oder anderswo Arbeit zu finden, mißlang
meistens, und wenn er erfolgreich war, war auch dort die Bezahlung minimal.
Durch die industrielle Revolution sind viele der Sklaven ebenfalls durch Maschinen ersetzt worden, und es wurden Facharbeiter benötigt, um die Maschinen zu bedienen. Bei ihnen handelte es sich meist um neue Immigranten aus
Europa. Der Zuckerrohrboom in Bahia hatte Mitte des 19. Jhs. ein Ende gehabt.
Die Schwestern pflegten nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei
die alten ehemaligen Sklaven, die, nachdem sie nicht mehr arbeiten konnten,
ohne Mittel und Hilfe arbeitslos auf der Straße gelandet waren. Ab Mitte des
19. Jhs. waren die Sklavengesetze verändert worden. Sklaven konnten sich
und andere freikaufen und wurden zum Teil aus der Sklaverei entlassen und
als entlohnte Arbeitskräfte eingestellt. Erst ab 1879 erhielten neugeborene
Kinder mit dem Gesetz des freien Lebens nicht mehr den Status des Sklaven.
Die irmandade da Boa Morte hatte vor 1888 den freigekauften und entlassenen Sklaven geholfen und mit eigenen Mitteln ebenfalls Sklaven freigekauft.
Die Frau, die später den Namen Senhora da Boa Morte erhielt, soll vor
221 Jahren gestorben und ihren Schwestern in Visionen erschienen sein. Sie
hat in Salvador gelebt und ihr Leben der Nächstenliebe und dem Kampf gegen
die Sklaverei gewidmet, berichten mir Bewohner der Stadt, in der anfangs
erwähnten ethnographischen Literatur wird sie jedoch nur als katholische heilige Maria beschrieben. Die Schwesternschaft existiert heute nur noch in Cachoeira, zum katholischen Sonntagsgottesdienst des Festes jedoch reisen die
Mönche der Bruderschaft von Santa Rosário dos Pretos, der ehemals einzigen
katholischen Kirche für Schwarze in Salvador,407 an.
406
Vgl. Bahia Artes Gráficas 1984:27. Es wird auch hier nicht die Verbindung der Initiierten
zum candomblé erwähnt, die beinhaltet, die Verpflichtungen gegenüber den orixás zu erlernen
und sich darauf vorzubereiten, die orixás zu empfangen. Dies sind die primären Ziele der Initiationszeit. Ebenfalls der unausgesprochene Hauptteil der Arbeit der Schwestern wird sich
auf die Ausführungen der Tätigkeiten als mães-de-santo für die Gemeinschaft beziehen.
407
Hier zelebrieren schwarze Priester die katholische Messe. Sie ist heute noch die einzige Kirche mit schwarzen Priestern, normalerweise werden die 80% Schwarze Salvadors von weißen
Priestern betreut und haben, auf Grund ihrer Hautfarbe, nicht die Möglichkeit, diesen Beruf
auszuüben. Nossa Senhora do Rosário ist die bevorzugte Schutzheilige der schwarzen religiösen Bruderschaften.
206
Boa Morte, so die Legende im Dorf, soll nach ihrem Tode den schwarzen
Schwestern in ihren Visionen mitgeteilt haben, wie sie sich und ihren Männern
den Weg aus der Sklaverei frei bahnen und ein unabhängiges Leben aufbauen
könnten. Die Frauen sollten Essen auf der Straße verkaufen und mit dem verdienten Geld sowohl Sklaven freikaufen, als auch eigene Häuser und quilombos408 konstruieren können. Das acarajé, ursprünglich in den candombléterreiros als Speise für die orixás zubereitet, sollte der Grundstein zur Befreiung der Schwarzen bilden.409 Auch heute noch ernähren die acarajéVerkäuferinnen, alle filhas-de-santo verschiedener terreiros,410 unzählige Familien damit.
Durch ihren Einflusses setzten sie ebenfalls bei der katholischen Kirche
durch, daß gestorbene Sklaven nicht mehr, wie früher üblich, einfach in den
Fluß geworfen wurden, sondern ein Erdbegräbnis erhielten.411 Sie sammelten
einigen Reichtum zusammen, wovon ihr reichhaltiger Schmuck zeugt. Es existierten schwere Goldketten und Brustbesätze, einer davon mit 370 Diamanten
besetzt.412
Eine der katholischen Versionen der Visionen der Schwestern lautet folgendermaßen:
Nach dem Tod erschien die Senhora (Jungfrau) ihren trauernden und
weinenden Mitschwestern lächelnd in einem Lichtkranz, gekleidet in Weiß,
schwebend über dem Boden, um ihnen zu verkünden, daß sie nicht mehr weinen sollen und nach ihrem Anblick an ein Leben und das Wiedersehen nach
dem Tode, glauben sollen. Deshalb soll sie den Namen Boa Morte erhalten haben.413
408
Als quilombos werden ursprünglich Siedlungen und Behausungen entflohener Sklaven bezeichnet. Vgl. Hofbauer: 1989.
409
Diese Informationen habe ich aus mündlichen Erzählungen der Dorfbevölkerung; in der
spärlichen Literatur über die Senhora da Boa Morte wird nichts darüber berichtet.
410
Bei der Fédéração de Cultos in Salvador sind alleine für die Stadt über 3000 acarajéVerkäuferinnen und Zubereiterinnen registriert. Diese registrierten filhas-de-santo bereiten ihre Speisen streng traditionell. Des weiteren existiert eine Dunkelziffer von nicht Registrierten,
die ihre Speisen nicht unbedingt rituell zubereiten. Seit ca. 2 Jahren verkaufen einige von ihnen bei den Festen Hähnchenkeulen und -brüste sowie kleine gebratene Fische. Dies ist entstanden, da viele der Touristen eine größere Auswahl von Essen und vor allem vertrautes Essen bevorzugt kaufen.
411
Vgl. Bahia Artes Gráficas (1984:27) und Schäber (1993:194).
412
Es ist nicht genau nachvollziehbar, wie die Frauen in den Besitz von Geldern gekommen
sind. Es wird z.B. berichtet, daß sie für ehemalige Sklaven Hütten errichten konnten. Eine
zweifelhafte Variante, wie die Frauen zu ihrem Schmuck gekommen sind, lautet folgendermaßen: Sie wären zum Teil von den Plantagenbesitzer sehr geschätzt worden, und sie hätten
zu Prestigezwecken von den Herren die Wertgegenstände geschenkt bekommen (Bahia Artes
Gráficas 1984:27). Ich halte es für vorstellbar, daß Sklaven in die Chapa Diamantina, im Hinterland, geschickt worden waren, um Gold und Diamanten zu suchen. Sie könnten sie in Ohren, Mund und Haaren versteckt haben, wie es ebenfalls aus den Goldminen aus Minas Gerais
bekannt ist und heimlich zurückgetragen haben.
413
Nach anderen Versionen, wie schon erwähnt, ist Nossa Senhora da Boa Morte die wiederauferstandene Jungfrau Maria (Bahia, Artes Gráficas 1987:19).
207
Das katholische, offizielle Fest wird jedes Jahr zum Gedenken an diesen
schönen Tod, dem die Auferstehung folgt, über einen Zeitraum von drei Tagen
zelebriert, das inoffizielle, afro-brasilianische bedarf einiger Wochen Vorbereitung und endet zwei Tage später.
Donnerstags soll der katholische Teil des Festes mit der Beichte der
Frauen in der Kapelle Na. Sa. d´Ajuda beginnen.414 Am ersten Prozessionstag,
dem Freitag, tragen die Schwestern in weiße baiana-Tracht gekleidet, nur mit
ihrer persönlichen orixá-Kette geschmückt, den Sarg.415 Die Prozession findet
in einer stillen Atmosphäre statt. Es wird an den Tod der katholischen Nossa
Senhora da Boa Morte sowie aller verstorbener Angehörigen gedacht.416 Ursprünglich wurde den Gästen an allen Festtagen ein kleines Abendessen offeriert, für das die Frauen vorher im Dorf gesammelt hatten. Freitags gibt es
ceia branca, ein „weißes“ Abendessen, Fisch, Wein und Brot, ohne gelbes
dendê-Öl.417
Samstagabends wird nach einem Gottesdienst in der Kirche Matriz die
Prozession der Beerdigung418 veranstaltet, bei der eine Madonnenfigur, in einem Sarg liegend, mit weißen Spitzenstoffen bedeckt, durchs Städtchen getragen wird. Die Frauen singen katholische Lieder zu Ehren der Jungfrau Maria. Ein Lied selbst ist der Senhora da Boa Morte und der Auferstehung gewidmet. Die Madonnenfigur ist weißer Hautfarbe.419 Die Schwestern sind vorwiegend in schwarze weitbauschige Kleider mit roten Abschlußborten, mit weißen
Kopfbedeckungen, gekleidet. Sie tragen reichhaltigen Schmuck, vor allem viele Halsketten in goldener Farbe, bunte Glasperlenketten und Kaurimuschelschmuck.420 Die katholischen Feierlichkeiten finden in der Kirche bei der
„Messe für den anwesenden Körper“,421 an diesem Tag einen Abschluß. Danach
offerieren die Schwestern Liköre und Wein und tanzen mit den Feiernden
samba-de-roda.422
414
Pinto, Oliveira de (1991:140).
Weiß signifiziert Gefühl, Liebe, Frieden und Stille (Bahia, Artes Gráficas 1984:28).
416
In der afro-brasilianischen Religion werden die caboclos, die Ahnen der Verstorbenen, verehrt, die während der Rituale erscheinen. Dies sind ursprünglich indianische TupinambaRiten. In Afrika hat ähnliches nicht existiert. (Vgl.: Pinto 1991:165-171).
417
Der Tag Freitag wird dem orixá Oxalá zugeordnet. An diesem Tag darf man nach afrikanischer Tradition keine Speisen mit Dendê-Öl essen. Karfreitags wird traditionell das Gleiche
gegessen.
418
procissão do enterro
419
Die meisten Heiligen und Madonnen und zum Teil sogar die orixás, die von den AfroBrasilianern verehrt werden, werden weiß abgebildet. Immer wurde versucht, die afrikanischen Glaubenselemente vor der katholischen Kirche zu tarnen. Es existieren zwei Ausnahmen, die heilige Santa Ifigênia und São Benedito, die seit Beginn ihrer Verehrung mit dunkler
Hautfarbe dargestellt werden.
420
Die verschiedenfarbigen Ketten und Kaurimuscheln symbolisieren die verschiedenen orixás
und werden ihnen zu Ehren getragen.
421
missa de corpo presente
422
Vgl. Bahia Artes Gráficas (1987:19). 1995 fand dies nicht statt.
415
208
Sonntagvormittags findet in der Kirche der Schwesternschaft der Auferstehungs- Gottesdienst statt. Danach geht die Prozession Nossa Senhora da
Glória durch den Ort. Die Madonna wird stehend, dargestellt als vom Tode
auferstanden, von den Frauen in Begleitung der Mönche aus Salvador auf einem Altar getragen. Die Schwestern sind gekleidet in weiße Spitzenblusen,
schwarze Röcke und schwarze Stolas mit rotem Satinfutter,423 die Mönche in
braune und schwarze Kutten. Die gleichen Lieder wie am Samstag werden gesungen, begleitet von der Dorfblaskapelle.
Daraufhin verteilen die Schwestern und ihre Helfer Mittagessen, feijoada, das brasilianische Bohnengericht mit verschiedenen Fleischsorten und
Würstchen, an die Anwesenden. Nachmittags tragen die Frauen bunte Festkleider und die samba-de-roda-Tänze in Begleitung von Musikern beginnen, die
bis spät in die Morgenstunden andauern. Es werden Kreise gebildet, in deren
Mitte samba getanzt wird. Die Außenstehenden klatschen und singen dazu.
Zu den Prozessionen und Feierlichkeiten erscheint die Dorfbevölkerung
sowie Bewohner aus den umliegenden Dörfern und aus Salvador. Die Mehrzahl
der Anwesenden sind katholisch und viele sind candomblé-Anhänger. Vereinfachend läßt sich sagen, daß die weißen Festbesucher katholisch sind und die
schwarzen beiden Religionen angehören.
Die Afro-Nordamerikaner, von denen in den letzten Jahren zwischen
100-500 Personen, in der Mehrzahl Frauen, anreisten, sind nicht einheitlich
nach Glauben und Motiven zu definieren. Im Dorf wird erzählt, sie seien candomblé-Anhängerinnen. Einige der von mir 1995 Befragten erklärten sich als
Katholiken, andere als Protestanten, wieder andere als keiner Religion angehörig. Zum candomblé bekannte sich niemand. Allerdings sah ich einige der
von mir Befragten, die sagten, sie würden zur Feier nur wegen des Prinzips
der Freiheit kommen, nach dem Gottesdienst der Senhora da Glória am Fluß
ein Ritual für Oxum, der orixá des Süßwassers, vollziehen.424
Während der zwei Festtage hat sich das Dorf lebendig verwandelt, Straßenstände mit Essen und Trinken, den einheimischen Likörspezialitäten und
Zuckerrohrschnapsgetränken zieren die Gehsteige. Man trifft sich, plaudert
und trinkt zusammen, am Dorfplatz wird von den Schwarzen samba-de-roda
und forró getanzt. Einige Männer ziehen samba tanzend, singend und pandeiro
423
Die Farben werden für die orixás getragen: die goldenen Ketten werden zu Ehren Oxums, der
Göttin des Süßwassers getragen, rot und schwarz steht für den orixás Omolu und rot für Yansã. Beide orixás haben Verbindungen zum Tod und den Verstorbenen. Nach Bahia Artes
Gráficas (1984:28) sagen die Schwestern, daß sie die „afrikanischen Farben“ tragen, eine gebräuchliche Redeweise, um die ehemals verbotene Religionszugehörigkeit zum candomblé zu
vertuschen.
424
Die Afro-Nordamerikanerinnen bedeuteten mir ausdrücklichst, meist durch Ignorieren und
knappe Antworten, wie fehl am Platze, ihrer Ansicht nach, eine weiße Frau bei diesen Feierlichkeiten zur Abschaffung sklavischer Bedingungen, ist. Die Afro-Brasilianer verhielten sich
vorwiegend, wie überall bei ihren Feiern, diskret freundlich mir und anderen Weißen gegenüber, so daß die oft vermittelte Botschaft, eigentlich fehl am Platze zu sein, sich im subtilen
Schwebezustand befindet und überhört werden kann; keinesfalls aber werden komplexe Fragen befriedigend beantwortet.
209
spielend mit einem Ochsengestell durchs Dorf und bitten um Spenden.425 Die
Weißen amüsieren sich in den Straßenrestaurants der teureren Gaststätten,
wie immer ist der Unterschied zwischen Arm und Reich in der Art des Feierns
und des Konsums ersichtlich.
Bei der Kirche Boa Morte treffen sich die Schwestern mit Anhängern ihrer Religionen, auch hier wird geplaudert. Ehrerbietungen, wie sie gegenüber
mães-de-santo üblich sind, werden angenommen und Photos von Familienangehörigen mit den Schwestern in ihren Festgewändern für die Familienalben
geschossen.
In den candomblé-terreiros sind seit Anfang August lange Vorbereitungen und Feierlichkeiten unternommen worden. Vor dem Fest hat jede Schwester ihre Orixás gewürdigt und sich einer Reinigung unterzogen. Zur Prozession
gehen nur die Priesterinnen und filhas-de-santo, die ihre Pflichten gegenüber
den orixás erfüllt haben. Wer, aus welchen Gründen auch immer, dies nicht
konnte, geht nicht bei der Prozession mit.
Sonntagabend findet im größten terreiro von Cachoeira ein großes orixá-Fest statt.426 Die meisten der Schwestern der candomblé-Priesterinnen sind
anwesend.427
Die candomblé-terreiros sind ähnlich wie in Salvador, mit den gleichen
Ausschmückungen, meist weißen Stoffstücken, die von der Decke hängen, Heiligenbildern und orixá-Gegenständen, Räumen mit Altaren und Hinterhöfen.
Die Ausschmückungen variieren von einem zum anderen terreiro. Reichtum
oder Armut eines terreiros und seiner Besucher spiegeln sich in Ausstattung,
Kleidung, Essen und Trinken wider.
Viele terreiros sind wesentlich kleiner und ärmer wie in der Hauptstadt.
Bedingt durch die wirtschaftliche Lage der Gegend, ähneln sie den armen terreiros an den Stadträndern, in den favelas. Vielen Besuchern ist es nicht möglich, in weißer, sauberer Kleidung zu erscheinen. Die Notwendigkeit des Trostes und der Hilfe, die sie suchen, was auch den Wunsch nach einer Mahlzeit
beinhaltet, ist deutlich zu spüren. Das Leid von Armut, Krankheit und Alter
lastet auf vielen, manchmal auf allen der Besucher.
Wie in der Hauptstadt wird von der mãe-de-santo und ihrem terreiro
erwartet, daß es Unterhaltung bietet. Die Tänze sollen schön sein, viele orixás
425
Dieser Tanz, bumba meu boi, stammt aus dem baianischen Hinterland. Seit einigen Jahren
wird es in andere brasilianische Regionen transportiert, um den Touristen dort eine weitere
Attraktion zu bieten.
426
Manche der Dorfbewohner sagen, daß der 16. August der Festtag des orixás Omolu sei,
nachdem sich das Datum des Festes der Senhora da Boa Morte richten würde, und Omolu sowie Yansã seien die orixás, die der Senhora da Boa Morte entsprechen. Andererseits ist Sonntag der Tag der auferstandenen Jungfrau und von Oxum. Nach Schäber (1993:195) sollen die
geheimen Zeremonien und Opferungen für die orixás und die Seelen der Verstorbenen bis
Dienstag andauern.
427
Von diesem Ritual wird in den Medien nicht berichtet, es erfährt nur derjenige davon, der
ganz spezielles Interesse am candomblé hat.
210
herabsteigen und mães und filhas lange, heftig und ausdauernd tanzen. Die
Konkurrenz zwischen den terreiros scheint im Hinterland größer zu sein, da es
sehr viele, nah beieinander liegende terreiros gibt, die sich gegenseitig die
Besucher abwerben.428
Wesentlich deutlicher als in Salvador und deren vielen großen, reichen
und von Touristen besuchten terreiros zeigt sich hier die Aufgabe, welche die
mãe-de-santo ihrer Gemeinschaft gegenüber zu erfüllen hat: fürsorgliche Mutter, von der erwartet wird, daß sie die emotionalen, körperlichen und geistigen Leiden lindern hilft.429
4.1.1.1.1
Festa da Boa Morte 1995
Dieses Jahr ist alles anders. Der Gouverneur von Bahia hat ein Haus für die
Schwestern restaurieren lassen, mit einer neuen Kapelle, einer Galerie für
Ausstellungen sowie einem Empfangsfoyer. Er sowie andere Politiker wollen
auch selbst zur Einweihung erscheinen. Der Häuserkomplex ist von den AfroNordamerikanern in den letzten Jahren gekauft und den Schwestern geschenkt
worden. Aus unerklärlichen Gründen wollte der Gouverneur, daß der Festtermin eine Woche früher gelegt wird, so die Stimmen aus dem Dorf. So wurde
zum ersten Mal seit 221 oder mehr Jahren das Festa da Boa Morte zu einem
früheren Termin zelebriert.
Samstag sollte die Einweihung des neuen Hauses sein, sonntags die eigentliche Freitagsprozession für die extra angereisten Gäste, die eigentliche
Samstags-Todesprozession mit dem Sarg fand dann montags statt, die Auferstehungsprozession dienstags. Diese Tage waren normale Arbeitstage im Dorf,
428
Bei einem Besuch bei einer der ältesten der mães-de-santo im Dorf , die krank war und ihre
Aufgaben nicht mehr erfüllen konnte, stellte sich heraus, daß sie von ihrer ehemaligen Gemeinschaft gänzlich verlassen wurde, nachdem sie altersschwach wurde. Sie hatte keine Kinder im Ort, die sich um sie kümmerten, und war sehr verzweifelt über ihre Einsamkeit und die
fehlende Hilfe. Lange hatte sie mit niemandem mehr gesprochen, da niemand sie mehr besuchen kommt.
429
In einem kleinen terreiro in São Felix, das ich besuchte, richtete eine mãe-de-santo ihre ganze Sorge darauf, allen Besuchern außer mir die gleiche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Ich erhielt als reiche Besucherin einen Sonderstatus, mir wurde der beste Stuhl des Hauses
und als erster Essen offeriert, da ich vor Beginn des Rituals eine größere, von mir erwartete
Geldsumme den orixás gespendet hatte.
In Muritiba, einer Kleinstadt auf dem Berg über São Felix, hatte sich bei meinem Besuch im
terreiro ein Streit zwischen dem pai-de-santo und Mitgliedern seiner Gemeinschaft darüber
entfacht, daß ich mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung erhalten hatte. Mir wurde Wein angeboten, den sonst nur die vier wichtigsten Personen des terreiros bekommen hatten . Einige
der Frauen waren darüber sehr erbost und beschimpften ihren pai-de-santo, daß er seinen
Pflichten, die er gegenüber ihnen hätte, nicht nachkommen würde. Wenn er sich in Zukunft
nicht anders verhalten würde, würden sie sich ein anderes terreiro suchen. Mich baten sie, von
meinem Wein abzugeben, den sie hastig tranken.
Alle mães und pães-de-santo, die ich im recôncavo besuchte, wollten, ähnlich wie die in Salvador, daß ich mir von ihnen ein Orakel legen lasse und Reinigungsrituale und Gaben an die
orixás spende. Wenn ich nicht wollte, führten sie Preisverhandlungen mit mir und boten mir
ihre Dienste für die Hälfte der vorher genannten Summe an. In Muritiba wurde ich täglich eingeladen, und immer hatte einer der anwesenden filhos-de-santo die Aufgabe, sich mir zu widmen, um mich ans terreiro zu binden.
211
die Geschäfte waren geöffnet, die Kinder gingen zur Schule. Das Dorfleben
ging, außer den Festtagsprozessionen, seinen normalen alltäglichen Gang.
Viele Salvadorianer sind nicht wie sonst erschienen, da in der Hauptstadt nun niemand mehr richtig wußte, wann das Fest eigentlich stattfinden
sollte. Die Zeitungen haben, wie üblich, nichts berichtet, und das Medium
Fernsehen berichtete nur, daß der Gouverneur das restaurierte Haus am Samstag persönlich zusammen mit Jorge Amado, dem berühmtesten baianischen
Schriftsteller, einweihen wird. Er denkt selbst an die ärmste Bevölkerung im
Landesinneren und scheut keinen Weg, ihnen nahe zu sein, neue Wählerstimmen winken.
Am Samstag ist Cachoeira reich geschmückt mit Propagandaplakaten für
den Gouverneur, der sein Volk liebt und dem das Volk dankt, für alles Gute,
das er tut, für die Kultur und für die Entwicklung Bahias und anderes mehr.
Gloria, Gloria, Cachoeira erhebt sich zu neuem Ruhme durch die Restauration
seines historischen Reichtums.
Die Schwestern schmücken sich in ihrem alten Häuschen, dem Museum
der Boa Morte auf dem Hügel neben der Kapelle Nossa Senhora d´Ajuda, der
ältesten Kapelle des Ortes, und begeben sich zum Abmarsch nach unten, wo
sich das neue rot getünchte Haus befindet. Die einundzwanzig Frauen werden
umzingelt von zweiunddreißig Photographen, die unermüdlich ihrem Handwerk nachgehen. Unten geht man in die Kirche, und ein Gottesdienst beginnt.
Um den Altar sammeln sich die Photografen, die in allen erdenklichen Posen
und Stellungen, mit lauten Zwischenrufen, jegliche feierliche Stimmung im
Keime ersticken und aus den betenden und singenden schwarzen Schwestern
eine Sensation machen.
Zwischen den Schwestern, der Leiterin der Feierlichkeiten und der Ältesten des Bundes hat sich ein Streit entfacht über den Ablauf des Festes in
der Kirche. Die anderen Schwestern beten und singen im geplanten Ablauf,
während die beiden diskutieren. Das Gespräch wird dadurch beendet, daß die
Ritualleiterin der anderen befiehlt, sich zu fügen, indem sie sich auf ihre Stellung als Chefin beruft.
Nach beendigter Messe begibt sich die gesamte Truppe wieder auf die
Straße, umringt von Schaulustigen und Gläubigen, in Erwartung, daß etwas
geschieht. Die Politiker und Jorge Amado kommen an. Die Photografen und
Fernsehteams stürzen darauf zu, alle anderen, selbst die würdigen alten Damen, werden mit Ellenbogen angerempelt, so daß sie das Weite suchen. Man
begeht das restaurierte Haus, begutachtet die zum Verkauf ausgestellten Gemälde nun hoffentlich reich werdender Künstler Bahias, versammelt sich dann
oberhalb auf dem Platz und hört die Rede des Gouverneurs sowie die Stimme
Jorge Amados, der beteuert, wie sehr der Gouverneur sein Volk liebt. Die Anführerin der Schwesternschaft bedankt sich vielmals, manche klatschen. Niemand hat erwähnt, von wem die Schwestern ihr schönes Haus erhalten haben,
geschweige denn den geistigen Hintergrund der Schenkung, der den schwarzen
Widerstand und die Befreiung der Schwarzen symbolisiert.
212
Samstagabend wird jetzt ein Dorffest großen Ausmaßes gefeiert. Eine
Tribüne für Ehrengäste ist errichtet worden. Es wird ein Schönheitswettbewerb zur Ermittlung der schönsten schwarzen Frau Cachoeiras veranstaltet,
untermalt mit kulturellen Darbietungen aus dem Dorf.430 Die Jury besteht aus
bedeutenden weißen Persönlichkeiten des Dorflebens sowie aus der Hauptstadt angereisten weißen Persönlichkeiten von Rang und Namen.
Nach einer langen Festeröffnungsrede, in welcher der Gouverneur und
andere Politiker geehrt werden, wird ein orixá-Tanz gezeigt, untermalt von
Trommelmusik. Danach wird eine Dorfschönheit nach der anderen auf die
Bühne geführt und Auskünfte über ihre Körpermaße, Gewicht und Alter gegeben. Die Mädchen schreiten bedächtig in eben erlerntem Schritten gleich
Mannequins in knappen Badekostümen über den wackelnden Laufsteg. Zu
manch einer erwähnt der Ansager den zugehörigen orixá. Die Jury soll Gang,
Körperbau, Gesicht und Gesamterscheinung benoten.
Nun zeigt die capoeira-Schule von Cachoeira ihre akrobatische Kunst.
Die Kämpfer wirbeln durch die Luft, berimbau und Trommeln tönen. Ein sintflutartiger Regenguß läßt jetzt Zuschauer und Jury auseinanderstoben. Das
Finale, wer die schönste schwarze Frau im Städtchen ist, kann nicht mehr angemessen zelebriert werden.
Sonntags gibt es die besagte eigentliche Freitagsprozession, bei der die
weißbedeckte Madonna im Sarge durchs Dorf getragen wird. Danach spielt auf
der Bühne auf dem Dorfplatz eine Band aus der Hauptstadt die gängigen
Schlager vom letzten Karneval. Die Ehrentribüne ist abgebaut, jetzt feiert nur
noch das normale Volk bei Bier, Schnaps und Likör und Tanz, bis der Regen
dem erneut ein Ende setzt.
Montags nun die eigentliche Samstagsprozession, mit der liegenden Madonna mit unbedecktem Gesicht. Es bleibt dabei, mehr Photographen als betende Schwestern, die Situation ähnelt dem Ausnahmezustand bei Kriegsreportagen. Die einundzwanzig Schwestern singen mit unbewegter Miene gegen
die lauten Zwischenrufe an.
Dienstags findet die eigentliche Sonntagsprozession mit der auferstandenen weißen Madonna statt. Heute spielt die Blaskapelle von Cachoeira
dazu. Wenige Dorfbewohner begleiten die Prozession, da sie ihrer Arbeit
nachgehen, außer den Afro-Nordamerikanern und den zweiunddreißig Photographen werden zwei italienische Touristen registriert. Nach dem Abschlußgottesdienst verläuft sich die Menschenansammlung. Das gemeinschaftliche
Essen findet dieses Jahr nicht statt. Die Angereisten verlassen per Bus oder
Auto den Ort, die Presse hatte ihre Autos direkt im Prozessionsweg bei der
Kirche in der engen Gasse geparkt, um bequem und schnell abreisen zu können. Jeder scheint erleichtert zu sein, daß das Fest vorbei ist.
430
In Salvador veranstaltet Ilê Aiyê jährlich einen schwarzen Schönheitswettbewerb unter ihren
Tänzerinnen. Sie erscheinen in orixá-Bekleidung, tanzen orixá-Tänze und stellen traditionelle
kulturelle Werte dar.
213
4.1.2 Interpretation des Festa da Boa Morte
Die Schwestern bekunden, wie stolz und glücklich sie über ihr neues Haus
sind. „Das Fest wird nächstes Jahr wie traditionell an den richtigen Tagen gefeiert, durchgeführt werden. Die Presse wird in kleinem Umfang wie gewohnt
erwartet und (hoffentlich) nicht stören. Politiker werden nicht mehr erscheinen. Nichts war störend, denn wir sind sehr stolz über unser neues Haus.“
Dadurch, daß es diverse Auseinandersetzungen mit der katholischen
Kirche und der Schwesternschaft gab und candomblé-Anhänger nach wie vor
diskriminiert werden, verleugnen die meisten der Schwestern öffentlich ihre
Zugehörigkeit zum afro-brasilianischen Glauben. Das Fest gibt den Anschein,
ein rein katholisches Ritual zu sein, und jeder der Beteiligten vermittelt dies
öffentlich.
Die anwesenden Künstler sind glücklich, die Möglichkeit zu haben, ihre
Waren hier zu verkaufen. Die Afro-Nordamerikaner bezahlen gut. Ausgestellte
orixá-Bilder auf Leinwand kosten jetzt ca. 5.000,- DM im schönen neuen Haus,
das zehnfache wie normalerweise in Salvador.
Jeder, der am Fest verdient, dem gefällt es. Selbst die sonst kaum besuchten Museen können 2-4 Besucher pro Tag ermitteln.
Für die Bevölkerung ist es eine Abwechslung zum Tages- und Jahrestrott. Für die Schönsten auf dem Laufsteg eine Chance, um berühmt zu werden bis in die Hauptstadt.
Kritische Stimmen gibt es zu diesem Fest wenige, aber die wenigen heftig.
„Eine Volksverdummung! Die Boa Morte ist Symbol für den Widerstand unseres schwarzen Volkes in aller Welt! Zuerst mußten sich die Frauen vor der
katholischen Kirche verstecken, ihre Glaubensinhalte katholisch tarnen, dann
wurde ihnen von der katholischen Kirche ihr mühsam erspartes Gold geraubt,
sie aus der Kirche ausgestoßen, jetzt müssen sie sich an die Politiker verkaufen.431 Das Volk wird dumm gehalten, damit es nicht aufmotzt. Wer nicht lesen und schreiben kann, sagt zu allem Ja und Amen. Jetzt wird mit diesem
Haus Wahlkampf betrieben, und die Frauen merken es nicht oder wollen es
nicht merken. Das war kein Fest, das war eine politische Veranstaltung. Das
Benehmen der Presse spottet jeder Menschenwürde. Im Fernsehen sah man
431
Nach einigen Stimmen aus dem Dorf trug sich diese Geschichte folgendermaßen zu: Die
katholische Kirche erlaubte den Schwestern nicht, ihre Stätte zu benutzen, da sie als Anhängerinnen des candomblés betrachtet wurden. Das candomblé war in Cachoeira von der katholischen Kirche bis in die 50er Jahre verboten gewesen. Ende der 80er gewährten sie den
Schwestern Einlaß in ihre Kirche und stellten ihnen innerhalb der Kirche Raum zur Verfügung, wo sie ihre Madonna, ihre reichen Goldketten und ihre Texte ausstellen durften. Ein
paar Monate später wurde alles, außer der Madonna, gestohlen. Kurz darauf wurde die
Schwesternschaft aus der Kirche wieder ausgestoßen, wegen Infiltration von afro-religiösen
Elementen. Jeder weiß, daß die Kirche den Raub des Goldes und der Texte angezettelt und
durchgeführt hat. Als dann Anfang der 90er die vielen Afro-Nordamerikaner kamen und mit
ihnen internationales Interesse, konnte die katholische Kirche sich nicht weiter stur stellen und
erlaubte der Schwesternschaft die Reintegration in die Kirche. Ihr Gold bekamen sie jedoch
nicht wieder.
214
nur Politiker, nichts von einer Prozession. Das hört scheinbar nie auf, mit uns
Schwarzen meinen sie, sie können es wohl machen.“432
Nach meinen eigenen Beobachtungen war ein Großteil der Schwestern,
Bevölkerung wie auch der nordamerikanischen Touristen über das diesjährige
Fest verärgert. Wie üblich, wird darüber nicht öffentlich geredet und zudem
höchst selten vor mir, da ich, als Ausländerin und Interessierte an der brasilianischen Kultur, was immer das beinhalten mag, keine Kritik an Land und Leuten üben soll, da dies wiederum von ihnen oft als persönliche Beleidigung und
Diskriminierung gegen sie und das Land empfunden wird. Direkten Unwillen
äußern hauptsächlich Personen, mit denen oder deren Freunden ich langjährige Beziehungen pflege.
Meine durch Erzählungen hervorgerufenen Erwartungen, Manifestationen von Widerstand der Schwarzen gegen die ununterbrochene Ausbeutung
durch die Weißen, wie es innerhalb der schwarzen Bewegung in Salvador üblich ist, repräsentiert zu sehen, wurden nicht erfüllt. Schließlich symbolisiert
gerade diese Schwesternschaft den Befreiungskampf der Schwarzen, und ihr
Ruf verbreitete sich sogar in Afrika und Nordamerika. Weder die hingereisten
Afro-Nordamerikanerinnen noch die Schwestern äußerten sich zum Rassismus
öffentlich. Ihr Applaudieren der anwesenden Politiker, die immerhin einen
großen Teil der Verantwortung tragen, daß die Chancen und Rechte der
Schwarzen unverändert nicht die gleichen wie die der Weißen sind, wurde von
einigen Stimmen aus Cachoeira und Salvador im Stillen kritisiert. Manche waren der Ansicht, daß sich die Schwestern mit der Hausrestauration von den
Politikern kaufen ließen, und zeigten jedoch Verständnis für ihr Verhalten.
Mir gegenüber wurde geschimpft, daß dies 1995 das häßlichste festa da
Boa Morte gewesen sein soll, das es je gegeben habe. Aus Salvador war kaum
jemand angereist, in anderen Jahren waren z.B. der afoxé „Filhos de Gandhi“, 1988 selbst Gilberto Gil, eine der Musikgrößen Bahias, mit Gruppe, erschienen. Es sei nie weniger als eine Woche und mit viel samba-de-roda und
verschiedenen Bands aus Salvador gefeiert worden.
Während der Feierlichkeiten wurden kleine portugiesisch-englischsprachige Prospekte verteilt, in denen „ein wenig über die Geschichte der Boa
Morte“ berichtet wurde. Hauptsächlich galt das Papier Werbezwecken für eine
philanthropische Institution im Ort. Bezeichnenderweise wird auch hier die
afro-brasilianische Religion nicht beim Namen erwähnt, sondern von einer
„folkloristischen Art der Verehrung der Jungfrau Maria“ gesprochen, die von
manchen parallel zur katholischen Weise zelebriert wird. Dies wird auf sambade-roda-Tanz und ein festliches Abendessen reduziert.433
432
Aus einem Interview mit V. L. A. im August 1995.
Die nächtlichen candomblé-Rituale, die langen Vorbereitungen der religiösen Spezialisten
sowie die Botschaft der Boa Morte an die Unterdrückten wird auch hier, wie in fast allen für
Touristen erstellten Broschüren, nicht erwähnt. Dies entspricht dem Vorgehen sämtlicher baianischer Medien. Afro-brasilianische Kultur wird allgemein als Folklore beschrieben, die sich
hier meist auf Tanz, Trommeln und Essen reduziert. In der Zeitschrift Bahia Artes Gráficas
433
215
4.1.3 Festa de Yemanjá / Lavagem do Rio Vermelho
Im Hochsommer, im Januar und Februar vor Karneval, finden in Salvador in
jedem Stadtteil die lavagens statt, die traditionellen „Kirchentreppenwaschungen“. Würdenträgerinnen von verschiedenen terreiros ziehen in den baiana-Trachten, in weißen Spitzengewändern, zu der jeweiligen Kirche, um deren Treppen mit dem Besen zu reinigen, aus weißen Krügen mit Duftwasser zu
besprühen und Blumen darauf zu streuen. Dabei wird der jeweilige katholische Schutzheilige der Kirche, bzw. der entsprechende afrikanische orixá
geehrt.
Dieser Brauch stammt aus den Zeiten der Sklaverei, in der es den
Schwarzen verboten war, die Kirchen zu betreten, die von den Weißen besucht wurden. An diesen Weihe- und Reinigungsfesten nehmen viele Gläubige
teil. Die ursprünglichen religiösen Feste haben sich im Laufe der Zeit verändert. Heute ziehen Menschenmassen zu den Kirchen, zum Teil nunmehr aus
dem Motiv, den profanen Teil des Festes zu feiern.434
Auch Karnevalsvereine besuchen heutzutage diese Veranstaltungen. Die
religiösen Karnevalsgruppen, die afoxés, die mit terreiros liiert sind, erscheinen meist in ihren Kostümen mit ihren unterschiedlichen Musikinstrumenten,
Liedern, Tänzen und Rhythmen. Zu späterer Stunde, nach den religiösen Ritualen, ziehen manche der anderen Karnevalsgruppen, die blocos, mit ihrer
Musik durch die Straßen und animieren zum Tanz. Trios elétricos, Wägen mit
Lautsprecherboxen und Musikbands feuern heute zum Tanzen an, meist bis in
die Morgenstunden des nächsten Tages.
In Rio Vermelho, einem Stadtteil in Salvador wird jeden 2. Februar das
Fest der orixá des Meeres, Yemanjá, gefeiert. Rio Vermelho ist ein heute ein
beliebter Stadtteil der gehobenen Mittelschicht Salvadors, am Meeressaum
liegend mit edlen Restaurants und relativ ruhiger Atmosphäre. Seit jeher leben und arbeiten hier viele Fischer, die täglich in ihren Booten aufs Meer hinausfahren. Der Fischmarkt, an dem sie ihre Waren darbieten, befindet sich
hier und ist jeden Morgen unter der Woche geöffnet. Er liegt neben einer katholischen Kirche und dem Tempel von Yemanjá, einem kleinen weißen Häuschen mit blauen Fenstern, wie es den Farben der Meeresgöttin entspricht.
(13.3.1987:38) wird für Cachoeira mit dem Mystizismus der Schwesternschaften sowie dem
Reichtum der Kostüme und des afrikanischen Essens geworben. Bahiatursa trieb den Tourismus in Cachoeira voran, indem sie mit folkloristischen, bzw. kulturellen Elementen tiefgreifende, gut vermarktbare „Abwandlungen“ z.B. dem religiösen São João-Fest hinzufügte: Feuerspucker, samba-de-roda und quadrilhas sowie Auftritte lokaler Musikbands und Zusammentreffen von Bands der Musikrichtung caipira (1987:17).
434
Dies wurde und wird von Bahiatursa forciert, die damit für den Tourismus werben. Die Feste
nehmen immer größere Ausmasse an, und auf die Animation von Bevölkerung und Touristen
durch Musikbands aller verschiedener Stilrichtungen, die in Mode sind, sowie Verköstigungen mit Essen und Trinken wird immer größerer Wert gelegt. Es werden jetzt immer häufiger
Tribünen und abgesonderte Plätze für den reicheren Mittelstand errichtet, wo diese ungestört
vom einfachen Volk feiern können und zudem weitere Einkommensmöglichkeiten existieren.
Die Preise sind hier ebenfalls wesentlich höher als auf der Straße.
216
Der Tempel liegt auf einer kleinen Landzunge, die ins Meer hinausragt, bei
Ebbe kann man von dort auf die weitläufigen Klippen hinabsteigen.
Vor dem Tempel befindet sich ein Standbild von Yemanjá, auf welchem
sie mit Fischschwanz, wie eine Meeresjungfrau, und Spiegel in der Hand abgebildet ist. Im Inneren des Tempels befindet sich ein kleiner Brunnen beim Altar sowie viele kleine Yemanjá-Statuen, die sie wie die Jungfrau Maria in hellblauem Mantel abbilden. An der Wand ist sie wiederum als Meeresjungfrau mit
vielen Fischen abgebildet. Blumen, Kerzen und Gaben der Gläubigen liegen
auf dem Altar für sie bereit. Des weiteren stehen verschiedene caboclo- und
Heiligenfiguren auf der Erde. Der Tempel ist jeden Tag offen und wird täglich
von den Fischern und einigen Bittstellern Yemanjás besucht.
Am 2. Februar jedoch begibt sich ein Großteil der Bevölkerung Salvadors nach Rio Vermelho, samt der sich in der Stadt befindenden Touristen.
Bahiatursa macht in den letzten Jahren große Werbeaktionen für das Fest,
stellt ein großes Polizeiaufgebot zum Schutz der Touristen und versucht das in
Salvador übliche Festchaos übersichtlicher zu organisieren. Jetzt schmücken
Bahiatursa-Plakate den Platz mit Werbesprüchen: „Salvador, Stadt des Tourismus“. „Wir haben für sie dieses Fest organisiert“. „Sicherheit für die Touristen“. „Baianos, verhaltet euch so zu euren Gästen, daß sie gerne wiederkommen“.
In den vorhergegangenen Tagen wurden die vielen die Straße säumenden barracas errichtet, in welchen die Besucher an kleinen Holztischen bei
lauter Musik ihr Bier trinken werden und Kleinigkeiten, die von Straßenhändlern herumgetragen werden, speisen können. Jede ist von einer eigenen Musikanlage beschallt, die im Laufe des Tages und der Nacht miteinander an
Lautstärke konkurrieren werden. Hot-dog-Buden und baianas, die ihre traditionellen Bohnenbällchen braten, säumen den Straßenrand. Viele Bewohner der
Erdgeschoßwohnungen der Straßen funktionieren für diesen Tag ihre Vorplätze
als kleine Bars um. Am gleichen Tag finden sich ab drei Kilometer Umkreis des
Tempels am Straßenrand unzählige Blumenhändler ein, die vorwiegend weiße
Blumen für Yemanjá den Besuchern anbieten.
Puppenhändler, Parfüm-, Spiegel- und Seifenverkäufer sind angereist,
damit die Gaben, die Yemanjá erhalten soll, gekauft werden können. Viele
Souvenirhändler haben sich ebenfalls eingefunden, um Schmuck, Heiligenbildchen und Glücksbändchen an den Mann zu bringen.
Im Morgengrauen beginnen die Fischer mit ihren Feierlichkeiten zu Ehren Yemanjás. Mengen von riesigen Körben sind aufgebaut worden, in denen
die Gaben für Yemanjá später in der Abenddämmerung aufs Meer hinausgefahren werden. Am Strand ist für die Körbe eine große Tribüne errichtet worden,
und viele Boote liegen bereit. Die Fischer selbst fahren in ihren kleinen Booten und Kanus hinaus, um persönlich und als erste ihre Gaben und Bittstellungen Yemanjá zu übermitteln. Am Fischmarkt haben mães und filhas-de-santo
Stände mit Frühstück aufgebaut, weißem Reisbrei mit Zimt und Zucker und
217
Maniokküchlein, einigen der Lieblingsspeisen Yemanjás, die ihre Besucher verzehren werden.
Ab fünf Uhr morgens sammeln sich langsam die Festbesucher, meist in
Weiß und Kombination mit Hellblau gekleidet, mit ihren Gaben. Sie bilden
lange Schlangen vor dem Tempel und den Blumenkörben. Im Tempel sprechen
sie ihr Gebet an Yemanjá oder der Jungfrau Maria. Manche legen ihre Gaben
hier nieder, andere reihen sich in die Schlange zu den Körben ein, in welche
sie ihre Gaben füllen. Daraufhin nehmen sie ihr Frühstück ein und tummeln
sich mit Freunden und Familienangehörigen auf dem Platz.
Yemanjá bevorzugt außer weißen Blumen Parfüms, Spiegel, Seifen, Lippenstifte und Haarkämme, da sie sehr eitel ist. Weiße Kuchen ißt sie gerne,
die in allen Größen und Variationen herbei getragen werden. Mit vielen Puppen, die sie ebenfalls liebt, werden weitere Körbe gefüllt. Die Puppen sind zu
99% weißer Hautfarbe, meist mit blonden Haaren und blauen Augen. Yemanjá
scheint das gleiche Schönheitsideal wie die Brasilianer zu haben, allerdings
soll sie Schwarze nicht diskriminieren.
Manche der Gläubigen, Schwarze und Weiße, haben ein Fischerboot
gemietet und bringen mit ihren Familien umfangreiche Gaben in Begleitung
des Fischers selbst aufs Meer hinaus. Meist waren sie vorher in einem terreiro,
da sie größere Wünsche hatten oder ein Unglück abwenden wollten. Yemanjá
hat dort durch das Orakel der Priesterin besondere Gaben und Darbietungen
gefordert. Die Kuchen sind mit Briefen, die Bittstellungen beinhalten, welche
die Gläubigen an Yemanjá gerichtet haben, versehen.
Auf dem Platz vor dem Tempel hat sich, wie jedes Jahr, eine der Ältesten der mães-de-santo eingefunden, um die Gläubigen, die in einer langen
Schlange warten, zu empfangen und ihnen Fragen zu beantworten und ihnen
Segen zu spenden. Sie ist in ihrer weißen Festtracht mit vielen Ketten für die
orixás gekleidet. Sie hört sich unermüdlich die einzelnen Probleme der Bittsteller an, und jeder, der sie verläßt, hat neue Kraft geschöpft.435 Manche
schickt sie ans Meer, um dort in Ruhe mit Yemanjá selbst zu reden, andere
verweist sie ins terreiro, um sich dort zu reinigen, wieder anderen verspricht
sie gutes Gelingen ihrer Vorhaben.
Auf den Klippen haben sich Gruppen vieler candomblé- sowie umbandaterreiros in ihren Festgewändern eingefunden, die dort in Gruppen zu Trommelschlägen beten und singen. Viele orixás kommen hernieder und tanzen.
Gaben werden ins Meer geworfen oder in kleine selbst gebastelte Schiffchen
gelegt und ins Wasser geschoben.
Ab ca. 10 Uhr morgens versammeln sich verschiedene mães und filhasde-santo auf dem Platz und beginnen in Begleitung der candombléMusikinstrumente für mehrere Stunden zu tanzen und zu singen.
435
Die Jahre zuvor war sie in Begleitung einer noch älteren Priesterin, die zwischendurch immer
wieder in Trance gefallen ist und des öfteren in Gefahr war zu stürzen. Sie konnte 1995 ihre
Aufgaben nicht mehr erfüllen.
218
Die afoxés der Stadt mit ihren Mitgliedern erscheinen jetzt ebenfalls, in
Weiß und Blau gekleidet, und singen ihre speziell für Yemanjá komponierten
Lieder. Die Straßen füllen sich immer mehr, und nebenher beginnen die profanen Festvergnügungen. Ab nachmittags spielen die ersten trios elétricos auf
der großen Straße, und die Feiernden ziehen Bier und Schnaps trinkend von
barraca zu barraca und tanzen zur Musik der trios, die meistens Karnevalschlager trällern.
Am Strand und Tempel gehen die religiösen Zeremonien weiter bis kurz
vor der Abenddämmerung. Böllerschüsse leiten die Schiffsprozessionen ein,
die Boote fahren zum Horizont aus und werfen dort die gefüllten Körbe ins
Meer. Die Flut überspült jetzt die Klippen. Die trios elétricos übertönen die
candomblé-Trommeln und Gesänge. Oben auf der Straße wird ausgelassen bis
in die Morgenstunden des nächsten Tags gefeiert, getrunken, getanzt, gesungen, gelacht, geflirtet und geprügelt. Privat in den anliegenden Villen feiern
die geschlossenen Gesellschaften.
4.1.4 Interpretationen der durch den Tourismus bedingten Veränderungen des Festes
„Früher bin ich immer hingegangen. Wir haben in Ruhe gefeiert, und es gab
keinerlei Konfusion. Keine Polizei, keine Wege, die man nicht gehen durfte.
Auch kein Fernsehen und keine Personen mit Extraerlaubnissen. Keine Politiker und niemand, der repräsentieren wollte. Kaum Weiße. Wir kamen nur zu
Ehren von Yemanjá. Alle in weiß, alle ganz festlich, nur wohlduftend für sie.
Die Atmosphäre vibrierte vor Festlichkeit für sie. Wir waren ihr und uns allen
sehr verbunden. ... Es war sehr religiös; nicht diese Geschichten wie Karneval
und trios electricos wie heute. Das haben sie alles nur für die Touristen gemacht. Heute bleibe ich zu Hause, schau es mir im Fernsehen an. Zu spektakulär. Nein, das gefällt mir nicht mehr, das hat mit der Sache nichts mehr zu tun.
...“
(V., Mitglied eines candomblé -terreiros)
„Das Fest ist wunderbar, wie Karneval. Tanz, Musik, den ganzen Tag und die
ganze Nacht. Nein, zum Tempel, zu Yemanjá gehe ich nicht. Ich bin nicht religiös. Für Touristen ist es schön. So viele weißgekleidete baianas. ...“
(C., baiano)
Die Jugend und jüngeren Erwachsenen finden die Veränderungen in der
Hinsicht schön, daß das Fest karnevalesken Charakter bekommen hat. Sie bemängeln höchstens, daß es zu voll und meistens nachts zu gefährlich wird, da
sich zu viele Menschen auf dichtgedrängtem Raum unter Alkoholeinfluß befinden.
Die Touristen werden von ihnen nicht als störend beschrieben, aber die
Bevölkerung macht sich meistens über sie lustig, über ihre Hilflosigkeit, die
roten Gesichter und sonnenverbrannte Haut u.ä. Ebenfalls ihr Unvermögen mit
zu feiern und daß sie oftmals in organisierten Gruppen mit body guards unterwegs sind, gibt Anlaß für Gelächter.
Die meist ältere Bevölkerungsschicht der Afro-Brasilianer, welche gläubige candomblé-Besucher sind, empfinden sich durch den Tourismus und seinen Folgen beim Fest in ihrer Freiheit eingeengt und gleichzeitig voyeuristisch
219
betrachtet. Sie möchten, wie obiges Zitat verdeutlicht, lieber wie früher unter sich sein. Auch die Anwesenheit von den Medien empfinden sie als störend.
Sie wollen bei ihrer Ausübung von Religion unbeobachtet sein und als
Konsequenz davon ziehen sich viele von ihnen nun zurück. Für ältere Leute ist
das Fest, bedingt durch die immense Menschenansammlung, viel anstrengender geworden. All dies äußern sie mir gegenüber jedoch meistens nicht direkt.
Gründe dafür sind, daß sie höflich sein wollen und ich für sie ebenfalls zu den
Touristen, den Fremden, zähle.
4.2 Karneval: Das Paradies ist Karneval
Karneval in Salvador da Bahia, nicht nur nach Meinung der Bahianer der größte
Straßenkarneval der Welt, ist Spiegel der baianischen städtischen Gesellschaft. Dieses "Fest des Fleisches", des sinnlichen Genusses findet zeitgleich
mit dem europäischen Karneval, im Februar oder Anfang März, statt. Gleichzeitig markiert es das Ende des geschätzten baianischen Sommers mit seinen
Strandfreuden. Die Unterprivilegierten werden jetzt für kurze Zeit zu Königinnen und Königen der Nacht und die gesellschaftliche Elite zu närrischen
Clowns.
Zwischen diesen beiden Extremen werden in der Karnevalswoche alle
Schattierungen menschlichen Gebarens ans Tageslicht gelangen, die sonst zum
Teil tabuisiert sind oder im Unbewußten schlummern. Liebe und Haß, Männer
und Frauen, Schwarz und Weiß, Jung und Alt werden ausgelassen Tag und
Nacht auf den Straßen Salvadors feiern. So wie die Schattierungen der Hautfarben der Menschen Salvadors und ihrer Besucher in allen Abstufungen zu
sehen sind, kann man gleichermaßen die gesellschaftlichen Verhältnisse und
Kontraste sowohl als Abbild als auch in ihrer Umkehrung beobachten.
Die meisten Festbesucher geben sich tropischer Lebensfreude hin. Andere organisieren die Festlichkeiten und sorgen für leibliches Wohlergehen,
Trinkgenuß, optische und akustische Freuden und Sicherheit. Rei Momo, der
dickleibige König des Karnevals, wird für eine Woche über die Stadt herrschen, die sich in dieser Zeit im Ausnahmezustand befindet.
Oberflächlich betrachtet, vermittelt der Karneval den Mythos der Rassenharmonie. Während des Karnevals zeigt sich jedoch ebenfalls die Realität
der baianischen Bevölkerung, was bedeutet, daß Mitglieder aus der unteren
Schicht arbeiten und die obere Schicht sich amüsiert.436
4.3 Festvorbereitungen zum Karneval
Die Stadt ist im Fieber. Nach monatelanger Vorbereitungszeit hat sich die
Stimmung in den letzten Wochen bis zum Höhepunkt gesteigert. In den letzten
Monaten wurden neue Musik, Tänze und Kostüme entwickelt, alle Menschen
436
Vgl.: Queiroz 1992(117-157)
220
sind dabei, sich schön zu machen. In den Straßen werden Lichterketten und
farbenfrohe Fahnen aufgehängt, Bierbaracken mit bemalten Tischen, Stühlen
und Lautsprecherboxen aufgebaut, die Stadt zieht ihr buntes Festgewand an.
Sieben Tage und Nächte wird gefeiert werden. Alle sind dabei: Menschen und
orixás, die Götter der afro-brasilianischen Religion, des candomblé. „Die Stadt
gehört jetzt Oxum,“437 der orixá der Schönheit und des Reichtums. Wie sie
lieben die Salvadorianer hell leuchtende Farben, Glimmer und Gold, Tanz,
duftende Blumenessenzen, überschäumende Ausgelassenheit, Großzügigkeit,
Lebensfreude und die erfrischenden, belebenden Gewässer.
Zuvor ist die ganze Stadt geweiht worden, jeder Platz, jede Straße,
Strände, Kirchen und Gebäude, candomblé-Häuser (terreiros) haben mit einem rauschenden Fest den Segen erhalten. In den candomblé-terreiros und
bei den Festen (lavagens: Reinigungen) hat die Bevölkerung von den orixás
durch ihre Priesterinnen Zuspruch erhalten. Die orixás haben Geschenke, Blumen, Duftwasser, Kuchen und andere delikate Speisen bekommen, sie haben
Bittbriefe und besondere individuelle Opfergaben entgegengenommen.
„Yemanjá, Göttin des Meeres und die Mutter aller orixás, die ihren Festtag
kurz vor Karneval (2. Februar) feiert, hat gesehen, daß alle Menschen, weiße
und schwarze, arme und reiche, bei ihrem weißen Tempel am Meer mitfeierten, und nahm alle Gaben an, die ihr mit Booten aufs Meer hinausgebracht
wurden. Letztes Jahr war es anders, da wurde Yansã, die orixá des Windes
und der Gewitter, auf Yemanjás Gaben eifersüchtig, zürnte ihr und wehte mit
einem großen Sturm alle Geschenke ans Land zurück. Zu ihrem späteren Festtag hatte sie dann liebevoll zubereitete scharfe Speisen mit Meeresfrüchten,
dunkelgelbe Maisküchlein und rote Blumen in Empfang genommen und den
Kampf mit Yemanjá aufgegeben.“
„Oxóssi, orixá der Jagd mit Pfeil und Bogen, hat versprochen, mit eleganter
Beweglichkeit nach dem Rhythmus der Trommelwirbel zu tanzen, keinen oder
kaum Streit zu inszenieren und mit scharfem Auge über die Feiernden zu wachen.“
„Omolu, orixá der Krankheiten und deren Heilung, wurde gebeten, kein Aids
und keine Karnevalsgrippe zu bringen, wenn er, verborgen unter einem Umhang aus Stroh, durch die Menschenmengen tanzen wird.“
(M., mãe-de-santo, Salvador)
In den nächsten Tagen wird Salvador da Bahia de Todos os Santos, die
Stadt aller Heiligen an der Allerheiligenbucht, die 15 - 20 orixás, welche aktiv
verehrt werden, in ihren Festgewändern tanzen sehen, ihren Rufen und
Rhythmen folgen und ihnen zu Ehren Lieder singen.
Auch die katholischen Heiligen erhielten in der Vorkarnevalszeit spezielle Ehrungen, das größte Fest ist die "Lavagem do Bonfim",das Anfang Januar stattfindet und bei dem die Treppen an der Kirche Bonfim rituell gereinigt
werden. Eine Woche dauert dieser erste festliche Höhepunkt des noch so jungen Jahres. "Nosso Senhor do Bonfim" nimmt die gleiche Stelle ein wie Jesus.
Er findet, wie alle katholischen Heiligen, seine Entsprechung in der afrobrasilianischen Religion und wird mit dem orixá Oxalá gleichgesetzt.
437
Nach „Esta cidade é de Oxum“, populäres Lied aus den 80er Jahren aus Salvador.
221
Fast alle Feste in Salvador haben einen profanen und einen sakralen
Teil, wobei der sakrale oftmals eine Mischung aus afro-brasilianischen und katholischen Elementen darstellt. Bedingt durch den hohen Anteil Schwarzer in
Salvador und ganz Bahia (80% der Bevölkerung sind Schwarze, oder Mischlinge), überwiegen die aus Afrika stammenden Rituale. Sie haben sich durch die
Jahrhunderte mit portugiesischem Katholizismus und indianischen Kultformen
vermischt.
Kirchentreppenwaschungen (lavagens) werden vorwiegend von weißgekleidete candomblé-Priesterinnen (mães-de-santo), seltener von candombléPriestern (pães-de-santo) vorgenommen. Die Frauen dominieren sowohl in den
Hierarchien der candomblé-Vereinigungen als auch zahlenmäßig. Allen
Schwarzen war es zur Zeit der Sklaverei verboten, die katholischen Kirchen zu
betreten. Nach der Kirchentreppenweihung wird in der Kirche ein katholischer
Gottesdienst zelebriert, und selbst heute noch betreten die Schwarzen das
Gotteshaus nicht.
Im Anschluß an den religiösen Teil der Weihfeste wird ein Volksfest auf
den Straßen gefeiert. Beim Genuß von Näschereien wie Popcorn, süßen Kuchen, kleinen Fleischspießchen, acarajé, einer Spezialität der schwarzen baianischen Küche, in Dendê-Öl fritierte Bällchen aus getrockneten Bohnen und
getrockneten Krabben, Bier, cachaça (Zuckerrohrschnaps), Likören und kleinen
Kaffees (cafézinhos), Coca-Cola, süßer Limonade und erfrischendem Wasser
wird das Tanzfest durch die ersten in den Straßen herumfahrenden "trios elétricos" eröffnet. In den dreißiger Jahren wurde von Dodo und Osmar, zwei
Musikanten und Elektrikern, ein Lastwagen für den Karneval umgebaut. Auf
dem Wagen fuhren drei Musiker durch die Straßen, ausgestattet mit einem
Sprechrohr, damit die Gesänge weit zu hören waren. Anstelle des "trio elétrico" von Dodo und Osmar fahren heute technisch mehr oder weniger perfekte,
aber immer liebevoll hergerichtete Lautsprecherlastwagen, besetzt mit vielköpfigen Musikbands und Tänzern, langsam durch die teils engen, mit Menschen gefüllten Straßen der Stadt.
Es finden sich viele brasilianische Musikrichtungen auf der Straße zusammen: das traditionelle Pagode, das mit samba-Grundrhythmus paarweise
getanzt wird; traditioneller forró aus Pernambuco, eine musikalische Mischung
des nordöstlichen Brasiliens mit europäisch klingender Marschmusik; typische
"Nordestino-Musik", bei der Sänger Balladen vortragen; samba, zur Freude aller Solotänzer, wie er zum Teil vom Karneval in Rio bekannt ist; sambareggae, dem jüngsten Musikkind aus Salvador mit Einflüssen aus Jamaika, das
gern von Gruppen auf afro-brasilianische Art mit weit ausholenden, schnellen
Bewegungen getanzt wird; altbewährter Reggae nach Bob Marley; klassischer
Pop wie von den Beatles, Jimi Hendrix, Bob Dylan und Rolling Stones und viele
verschiedenste Typen kreativer Mixturen brasilianischer und nordamerikanischer moderner Musik.
Gemächlich vorgetragener Rap-Gesang, verhackt-verdrehte Gitarrenharmonien, wie sie nur in Brasilien gespielt werden, treibender Rock mit
schneidender E-Gitarre über afro-brasilianischen Trommelwirbeln mit dem
222
immerwährenden samba und sanft einfühlsamem bossa nova vermischen sich
zur einfallsreichen brasilianisch-baianischen Rockmusik, dem "Tropicália", der
seit den sechziger Jahren das Musikmilieu bestimmt. Die Animation der Tanzfreudigen wird hoch bewertet, das Angebot ist auf die verschiedenen Geschmacksnuancen, traditionell bis neo-avantgardistisch, abgestimmt.
Jedes Kind kann tanzen, hat den samba im Blut. Jeder baiano lernt
schon im Mutterleib die baianischen Rhythmen und Melodien. Bevor die Kinder
laufen lernen, „tanzen“ sie hüftschwingend auf den Schößen ihrer Eltern, Tanten, Onkel und Großeltern, die sitzend genau so gut tanzen wie im Stehen.
„Kein Wunder, denn auch die orixás sind leidenschaftliche, unermüdliche Tänzer.“ Jeder orixá tanzt individuelle Wesenszüge in allen Schattierungen,
Stimmungslagen, seine Wünsche, Forderungen und Botschaften an die Menschen innerhalb der candomblé-Rituale.
4.3.1.1 Afoxés
Im Karneval erscheinen die orixás wieder, in gezähmter, der breiten Öffentlichkeit angepaßter Form. Mães und pães-de-santo, gekleidet in Festgewänder, mit den jeweiligen Attributen der orixás, wie z.B. Pfeil und Bogen, Spiegel und Tiernachbildungen, schreiten oder tanzen in ihren jeweiligen afoxés
(Karnevalsvereinigungen, deren Mitglieder gemeinsame religiöse Inhalte aus
dem candomblé zum Ausdruck bringen) durch die Straßen. Die "filhões", Mitglieder der afoxés, tragen Kostüme, welche die Zugehörigkeit zum gleichen
afoxé ausdrücken; innerhalb des Zuges differenzieren sich die einzelnen Kostüme wiederum nach den verschiedenen Sektionen.
Mães und pães-de-santo tragen weiße Festkleidung oder die Kleidung
ihres persönlichen orixás. Sie formieren sich in Gruppen zusammen. Die Musik
eines jeden afoxé hat ihren Ursprung im candomblé, Rhythmen der orixás und
Gesänge in der westafrikanischen Yoruba-Sprache zu ihren Ehren werden die
Straßen erfüllen.
Alt und Jung findet sich zusammen, Kinder und Greise sowie alle Altersstufen dazwischen werden 14-15 Stunden pro Tag gemeinsam durch die Straßen Salvadors ziehen. In Ruhephasen, wenn die Züge durch Gegen- oder
Kreuzverkehr gestört werden, wird man sich auf die Straße setzen oder legen,
ausruhen oder ein wenig schlafen oder sich erfrischen, meist mit eisgekühltem
cerveja (Bier). Größere afoxés haben bemalte Musikwagen, auf denen sich die
ältesten Würdenträger ab und zu zurückziehen können.
Andere Abteilungen in den afoxés bilden die Tänzer und Tänzerinnen,
capoeiristas und maculelê-Spieler (brasilianische Kampftanzarten aus der Zeit
der Sklaverei), das Direktorium des afoxés, die Vereinsverantwortlichen, Vortänzer und Vortänzerinnen, Musikanten, Trommler und Sänger. In anderen
Zügen führen, nach dem Vorbild der berühmten samba-Schulen Rios, König
und Königin, Prinz und Prinzessin den Zug an.
Alle dieser kleinen und größeren afoxés halten vor jedem Umzug ein
padê, eine religiöse Zeremonie für Exú, den orixá der Wegkreuzungen, ab. Exú
223
ist Götterbote, Vermittler zwischen Menschen, orixás und eguns, den Geistern
der Toten. Er, der die Wege zwischen den verschiedenen Welten öffnet und
schützt, ist leicht erzürnbar und wird dann beim Fest zum Störenfried. Das
Ritual soll ihn milde stimmen, so daß der Umzug in harmonischer Stimmung
verlaufen kann.
Die afoxés drückten als erstes die Inhalte afro-brasilianischer Kultur
und Religion öffentlich im Karneval aus. Sie werden heute im Karneval bewundert, bedingt durch die Schönheit ihrer Kostüme und Musik. Sie wirken
innerhalb ihrer Gemeinschaft von Mitgliedern identitätsstiftend und bieten
über das ganze Jahr hinweg sozialen back-ground für ihre Mitglieder und
Freunde. Hier lernen Kinder oftmals als erstes Tänze und Musikinstrumente
spielen und haben eine Anlaufsstelle, einen verbindlichen Treffpunkt.
4.3.1.2 Blocos afro
Neben den afoxés, deren Mitglieder fast immer schwarz sind, existieren diverse blocos afro" (Karnevalsvereine, deren dunkelhäutige Mitglieder sich gemeinsam mit bestimmten Inhalten schwarzer Kultur identifizieren und auseinandersetzen). Die blocos fördern die schwarze Identität und Bildung, ihre
Texte handeln vom afrikanischen Ursprung, von schwarzen Führern wie Martin
Luther King und Malcolm X., von afrikanischen Königreichen und aktuellen politischen und rassendiskriminierenden Situationen. Hier kommen jamaikanische Einflüsse sowohl durch die Musik, den Reggae, als auch durch Textinhalte
zum Tragen.
Die blocos afro sind bemüht, afro-brasilianische Kultur ebenfalls im Alltag zum Ausdruck zu bringen, und haben ihre eigenen Vereinshäuser, in denen
die Mitglieder zusammentreffen. Für jeden Karneval werden neue Lieder und
Tänze eingeprobt, die alle afro-brasilianische Kulturelemente beinhalten und
vermitteln.
Jeder bloco hat in der Vorkarnevalszeit, bei einer der unzähligen Proben, seine beste Tänzerin gewählt. Sie muß bestimmte Kriterien erfüllen: Sie
muß die neuesten Tänze und Lieder beherrschen und in deren Interpretation
unermüdlich sein, sie muß schön, grazil und „ebenholzhäutig“ sein, mit strahlenden und funkelnden Augen. Sie wird im afrikanischen Stil fürstlich geschmückt und gekleidet werden, aufwendig gesteckte und geflochtene Haarkronen tragen und sich auf dem Wagen zwei Nächte lang unermüdlich mit lächelndem, freudigen Gesichtsausdruck in graziösen Bewegungen drehen.
Der schon erwähnte bloco afro "Olodum" ist im Moment der erfolgreichste mit der größten inzwischen gemischten Anhängerschaft. Olodum ist
der Höchste in der orixá-Hierarchie, der allmächtige Schöpfer, der alle anderen orixás erschaffen hat.
Wie die anderen blocos afro hat Olodum das Ziel, Rassismus und Gewalt
zu bekämpfen. Olodum führt politische Kampagnen gegen Gewalt gegen
Schwarze und problematisiert alle Thematiken der „Minderheit“, die in Bahia
die Mehrzahl der Bevölkerung darstellt.
224
Das Vereinshaus und ihre inzwischen geschaffene Karnevalsschneiderei,
die Musikschule ebenfalls für Straßenkinder und Proberäume befinden sich im
Pelourinho. Olodum ist es gelungen, ihren Platz in der restaurierten Altstadt
zwischen den neuen, schicken Boutiquen, Bars und Restaurants zu wahren und
sogar zu vergrößern.
Er hat es geschafft, sich erfolgreich zu vermarkten und Anerkennung innerhalb der weißen Mittel- und Oberschicht zu erlangen, zumindest für die
Karnevalstage. Die Anzahl der Weißen, die mit Olodum durch die Straßen ziehen, nehmen jährlich zu, dagegen ist die Anzahl der Schwarzen abnehmend.
Die Preise für die fantasias betragen 1996 um die 200 reais, und dies ist für
viele Schwarze nicht mehr zu bezahlen.
Die Liedtexte von Olodum haben sich mit den Jahren der Kommerzialisierung ebenfalls verändert, sie haben weniger gesellschaftskritische Inhalte
und sind banaler geworden. Olodum hatte als erstes Erfolg im Ausland, dadurch, daß der Musiker Paul Simon aus der USA sie entdeckte und im westlichen Ausland bekannt machte. Sie wurden ebenfalls begeistert von den Touristen aufgenommen und bekamen daraufhin die Anerkennung von den Weißen
Bahias selbst. Die Medien waren bereit, positiv über sie zu berichten, und die
Präfektur Salvadors bot ihnen ebenfalls Unterstützung, wodurch sich einflußreiche Sponsoren fanden.
In der Altstadt sind sie für ihre Stadtteilarbeit und Straßenkinderhilfe
bekannt und geschätzt. Durch ihre große Popularität und Ausdehnung haben
sie viele Arbeitsplätze für Schwarze geschaffen. Allerdings ist bei ihnen zu
kritisieren, daß sie wie die weißen Machthaber ebenfalls geringe Löhne an ihre
Arbeiter bezahlen.
Einer der über hundert Trommler verdient ebenfalls nicht viel mehr als
ein salário mínimo, kann sich jedoch unter Umständen damit rühmen, im Ausland aufgetreten zu sein. Die Näherinnen verdienen weniger als ein salário
mínimo. Die finanzielle Situation ist außer für die Leitung von Olodum, Leadsänger und Pressesprecher miserabel und reicht gerade zum Überleben. Allerdings verdient die Organisation inzwischen relativ viel Geld.
Sie produziert mindestens eine CD pro Jahr, die im In- und Ausland erfolgreich verkauft wird, zudem hat Olodum eine eigene Boutique für Touristen, in der sie T-Shirts, Mützen und andere Souvenirartikel mit ihrem Emblem
verkauft. Außerdem bieten die Vereinigung Tanz- und Trommelunterricht für
Touristen an, verkaufen Trommeln und haben mit ihrer Kinderband Mirim
1994 ebenfalls eine erfolgreiche CD aufgenommen. Des weiteren tragen die
Mitgliedsbeiträge zur Finanzierung bei. Im Theaterbereich ist Olodums Theatergruppe ebenfalls erfolgreich. Ihre Stücke behandeln sozialkritische Themen. Auch hier spielen zum Teil Straßenkinder mit. Ihre Leistungen im Bereich der Straßenkinderbetreuung führten ebenfalls zu großer Anerkennung im
Ausland.
Viele der anderen blocos konkurrieren mit dem Erfolg Olodums, und ihre Musikkreationen haben die letzten Jahre zum Teil Olodum übertroffen,
225
auch bezüglich der Qualität der Textinhalte. Für viele schwarze Jugendliche
ist die Teilnahme an einem bloco afro zu einem wichtigen Bestandteil ihres
Lebens geworden. Salvador ist hier Vorbild ebenfalls für die Kleinstädte im
Inneren Bahias, welche Beispielen wie Olodum folgen.
4.4 Probleme im Karneval
Die Bevölkerung hat sich in den vielen Proben vor Karneval eingetanzt und die
Festtüchtigkeit in bezug auf Ausdauer und Trinkfestigkeit erprobt. Man kann
die Texte der neuesten Lieder mitsingen. Ein Jahr wurde für dieses Fest gespart, hat man sich mühsam seine "fantasia" (Festkostüm und Mitgliedschaft in
einem der Vereine) erarbeitet, evtl. schon im letzten Sommer angefangen, die
fantasia in Raten zu bezahlen, denn das ist preisgünstiger. Besonders Geschäftstüchtige haben zwei abbezahlt, um eine kurz vor dem Fest, wenn die
Preise für die letzten fantasias in die Höhe schnellen, gewinnbringend verkaufen zu können.
Sie finden reißenden Absatz: Manch einer entscheidet sich eine halbe
Stunde vor der Formierung doch noch schnell, dafür Geld zu investieren, sei es
geliehenes oder im Extremfall gestohlenes. Da meist mehr Menschen mitziehen wollen als vorgesehen, reichen die Kostüme oft nicht für alle. Streitereien
werden dann und wann nach dem Gesetz des Stärkeren ausgefochten, und
stundenlanges Schlangestehen zum Abholen, kurz vor Festbeginn, ist an der
Tagesordnung. Manchmal versagen die Schneidereien, weil Nähmaschinen kaputt gehen, Näherinnen krank werden oder schlicht wegen Überlastung.
Manchmal werden in den letzten Tagen die Preise für das Kostüm unzulässig
erhöht, auch für Leute, die den Preis vor einem Jahr vertraglich geregelt hatten, oder aber unerwartete Steueraufschläge verärgern die Käufer, so daß es
häufig zu Massenaufläufen, Streiks und lautstarken Auseinandersetzungen vor
Karnevalsvereinshäusern kommt.
Die Zahl der Polizisten wurde in den letzten Tagen vor Karneval stark
vermehrt, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. An vielen Häuserecken und Plätzen haben sich Einsatzkommandos von sechs bis acht Beamten vom Sicherheitsmilitär gesammelt, die aus verschiedenen Regionen Brasiliens angereist sind. Mit Uniformen, Schutzhelmen und Schlagstöcken bewaffnet, bahnen sie sich, hintereinander gereiht, im Gleich- und Marschschritt den
Weg durch die Menschenmassen, um Schlägereien aufzulösen, mutmaßliche
Schläger und Diebe festzunehmen und abzuführen. Sie lassen Menschenmengen auseinanderstieben, unmittelbar vor den Momenten, an denen Massenhysterien und aggressive Zusammenstöße aus früheren Erfahrungen erwartet werden. Freiwillig geht jeder Zivilist den Polizisten aus dem Weg, denn die
Schlagstöcke werden ziellos, doch treffsicher und nicht zu sanft, eingesetzt.
Außer den Dieben und mutmaßlichen Schlägern sind alle froh über den
großen Polizeieinsatz; die Resultate der Feiertage in bezug auf Schädigungen
sollen glimpflicher ausfallen als vor ein paar Jahren, als viele Verletzte,
manchmal sogar Schwerverletzte und ein bis zwei Tote während des Karnevals
226
an der Tagesordnung waren. Seit zwei Jahren gestaltet sich das "Fest des Fleisches" dank ihrer Hilfe friedlicher. Ihrer Vorgehensweise fehlt jede Gerechtigkeit. Kein Mensch kann sagen, wann er einmal beobachtet hat, daß ein Weißer
verdächtigt oder festgenommen wurde. Als unausgesprochene Regel gilt, je
schwärzer das Schwarz, je verdächtigter der Verdächtigte.438
Aus dem Umland, anderen Teilen Brasiliens, Argentinien bis Chile und
inzwischen ebenfalls aus Europa und Nordamerika reisen Touristen an, um am
größten Straßenkarneval der Welt, der gleichzeitig das Ende des brasilianischen Sommers ist, teilzunehmen und mit zu feiern. Bahiatursa (Statistik Febr.
1993) berichtet von der Einreise von insgesamt 600.000 Touristen, brasilianischen und ausländischen, während der Karnevalstage. Es bereitet einige
Schwierigkeiten in vielen Sektoren, sich auf die Großzahl der Besucher einzustellen.
Unzählige Sonderflugzeuge und Sonderbusse verwandeln Flughafen und
Busbahnhof in Taubenschläge; Ausnahmezustand herrscht im Hotel- und Pensionsgewerbe. Privatvermietungen von Apartments, Zimmern, Betten, Matratzen oder schlicht des nackten Fußbodens sind jetzt an der Tagesordnung.
Ganze Familien verlassen ihre Wohnungen, um sie teuer unterzuvermieten,
oder pferchen sich zusammen in einem winzigen Zimmer ein, um das größere
dann an 1-6 Touristen vermieten zu können. Wenn sie an den Straßen, auf denen die Karnevalszüge durchkommen, wohnen, vermieten sie Fensterplätze
zum Zuschauen an Familien und Gruppen, die unter sich bleiben wollen und
von oben auf das Treiben herabsehen in dem elitären Bewußtsein, sich nicht
unter das Volk mischen zu wollen oder zu müssen und ihren privaten Karneval
zu feiern.
Die Preise für alles waren schlagartig in die Höhe gegangen, Hotels verlangen bis zum Vierfachen des üblichen, und der Bierpreis steigt um das Doppelte oder Dreifache, je nach Baracken- oder Restaurantstandort. Viele machen in dieser Woche das Geschäft des Jahres: von Erdnußverkäufern, die nie
reich werden können, arbeitslosen Familien, die einmal im Jahr die Miete für
einen Platz zum Ausschenken auf einer Straße zusammenkratzen konnten, bis
zu schon immer reich gewesenen Hoteliers und Restaurantbesitzern, finden
sich jetzt zusammen.
Jeder, der einen der unzähligen Straßenstände aufgebaut hat, wird hier
eine Woche lang hinter seinen Waren schlafen, um sie gegen Diebstahl und
Vandalismus zu sichern. Restaurants haben Bretterverschläge um ihren Platz
herum aufgebaut, damit die Menschenmengen nicht einfallen können, und nur
einen schmalen Durchgang für einzelne Gäste offengelassen, die zum Teil Extragebühren für diese Sicherheit zu bezahlen haben.
Toiletten sind Mangelware, aber die Straßen und Plätze, die Männer
und Frauen für diese Zwecke benutzen, werden am Aschermittwoch mit einem
438
Vergleiche: Journal A Tarde, Febr.1993: Protest und Diskussion von Olodum mit dem führenden Polizeikommandanten zur rassistischen Verhaftungsweise der Polizei im Karneval.
227
duftenden "Straßendeodorant" von Wasserwerfern abgespritzt und gereinigt.
Bis dahin schweben unzählige Gerüche, appetitanregende und -verderbende,
über der Stadt.
4.5 Die Woche der Sinnenfreuden
Karneval beginnt, im nahtlosen Übergang mit den Stadtteilweihungen, am
Donnerstag abend, wenn Momo, der Karnevalskönig, die Regierung der Stadt
übernimmt.
Die Festivitäten konzentrieren sich auf zwei große Plätze. Am Campo
Grande ist eine große Tribüne für Zuschauer und Jury aufgebaut worden. Jede
der zugelassenen größeren Karnevalsgruppen wird hier durchziehen und sich
bewerten lassen, um einen der Preise zu gewinnen, die den schönsten Gruppen für ihre Choreographie, Musik, Tanzdarbietung und Kostüme winken.
Die Praça Castro Alves im Stadtzentrum ist wegen ihrer schönen Aussicht und Lage auf dem Berg zwischen Alt- und Neustadt beliebt. Hier ziehen
die blocos afro und afoxés nach unten zum Campo Grande, während die trios
elétricos meist unterhalb Schleifen ziehen und am "Castro Alves" vorbeidefilieren. Von dort geht die Route nach Barra und Ondina, den südlichen wohlhabenden Strandstadtteilen.
An den Zeitplan, wann welcher bloco an welchem Ort losgeht, hält sich
niemand. Die Gruppen formieren sich über mehrere Stunden an festgelegten
Plätzen, um dann gemeinsam 12 - 15 Stunden durch die Straßen zu ziehen. Vor
ein paar Jahren beschränkte sich der Weg auf 8 km innerhalb des Zentrums
und wurde, wegen der zunehmenden Zahl der Touristen, in den letzten Jahren
auf 20 km ausgedehnt. Nachmittags kann man am Strand feiern und sich
gleichzeitig im Wasser erfrischen.
Momo erhält von der Bürgermeisterin die Stadtschlüssel und die Regierungsgewalt über die Stadt vor dem Rathaus von Salvador. Bis zum Vormittag
des Aschermittwochs wird er nun regieren. Davor zog er, begleitet von den
beiden erwählten Prinzessinnen, auf einem geschmückten Wagen durch die
Stadt: Momo in ein barockes Königsgewand und Krone gekleidet, die Prinzessinnen in Glitter und Glamour, von den Zuschauern bejubelt. Bei Momos Wahl
ist sein Körpergewicht immer mit ausschlaggebend, eine gehörige Korpulenz
ist unbedingtes Muß. Die Prinzessinnen werden nach dem gängigen Schönheitsideal ausgewählt: schlank, graziös und stolz. Musik dröhnt aus allen Lautsprechern der Stadt, die Hauptstraßen und Plätze sind mit Menschen gefüllt, und
vor dem Rathaus spielen die ersten der zahlreichen Livebands.
Für einen Weg von normalerweise 20 Minuten braucht man im Karneval
4-5 Stunden. Das geht recht gut, wenn man im samba-Rhythmus tänzelt, in
Gleichklang und Harmonie mit den anderen. Dazwischen tanzen und gehen die
farbenprächtigen blocos afro mit bis zu 100 Trommlern, Gesängen und wunderschönen Tänzen und Kostümen, die ihre Geschichte erzählen vom fernen
Afrika und ihren Göttern. Die Gesänge handeln von Freiheit und Gerechtigkeit,
228
von Liebe und Brüderlichkeit, von Trommeln, Tanzen und Fröhlichkeit. Es ist
so unbeschreiblich schön, berauschend, erregend, herzergreifend, daß man es
sich nicht vorstellen kann, ohne es erlebt zu haben.
Und Weiß und Schwarz tanzen, lachen und singen zusammen, als ob es
keine zwei Welten, Rassendiskriminierung und alles, was damit zusammen
hängt, gäbe. Und alle singen von Liebe und nochmals Liebe und teilen ihr Bier
mit dem Nachbarn. Sie sagen: „das Paradies ist Karneval, und Karneval ist das
Paradies.
Ab und zu ein Bier ist schon nötig, um das Paradies ertragen zu können,
und ab und zu ein kleiner Hocker, um sich zu setzen und auszuruhen, und wie
gut täte dann und wann eine Sekunde Stille. Die verschiedenen Musikbands,
Lautsprecherboxen aus den barracas beschallen ihr Umfeld wild durcheinander, jeder will demonstrieren, wie viele Watt seine Anlage bringen kann. Man
muß mehrere Lieder synchron hören und sich entscheiden, zu welchem man
tanzt, oder den Standort ein paar Meter verlagern, wenn man dazu aus Platzgründen überhaupt in der Lage ist.
Man liebt oder man haßt den Karneval. Dazwischen gibt es nichts, ist
man drinnen, ist man darin gefangen. Manch hellhäutiges Gesicht, das zu einem der anwesenden Touristen gehört, zeigt einen leicht verzweifelten Ausdruck: Zeugnis von Befremdung und der Angst vor der Nähe so vieler Menschen. Zumindest eine gewisse Musik- und Tanzbesessenheit ist notwendig, um
sich in dem Trubel wohlzufühlen. In diesen sieben Tagen und Nächten gibt es
so viele schöne Augenblicke, Stimmungen, Räusche für Augen, Ohren und alle
Sinne, daß es wahrlich unmöglich ist, sie sich alle zu merken und zu beschreiben. Mit den unangenehmen Situationen ist das schon einfacher, da sie viel
seltener sind.
Umberto Eco spricht im "Foucaultschen Pendel" von 1988 im Zusammenhang mit dem brasilianischen Karneval und dessen Vorbereitungen von
"der tiefen, orgiastischen Religiosität jener langsamen, Woche für Woche, Monat für Monat gesteigerten Hingabe an den Karnevalsritus". Mit dieser Einschätzung steht er nicht alleine. Jeder, der jemals dieses Fest miterlebt hat,
wird es in seiner eigenen Sprache, volkstümlich, intellektuell oder poetisch,
nicht aber emotionsloser oder mit weniger Sinnlichkeit beschreiben.
"Ich liebe den Karneval in Bahia von ganzem Herzen. ...ein richtiger, echter
Straßenkarneval. Vollkommen verrückt und laut und witzig, gefährlich und
kindlich, harmlos, unschuldig, bunt, rassiermesserscharf und sehr ehrlich. Seine Musik macht aus einem steifen Europäer mit Blei an den Füßen ein sehr
bewegliches Kind der Sonne, der Freude, der Liebe und, am Schluß, wenn der
letzte samba gespielt wird, tränender, herzzerreißender Traurigkeit. Dabei
spielen natürlich auch cerveja und cachaça, Bier und Zuckerrohrschnaps, eine
Rolle"
(Hans Herbst in Merian, Brasilien 1989:122).
229
4.6 Tag und Nacht
Die meisten der Brasilianer und Bahianer, Weiße und zum Teil auch Schwarze,
behaupten, daß es keinen Rassismus in Brasilien und Bahia gäbe. Der Mythos
der brasilianischen Rassendemokratie wird im Inland und Ausland scharf verteidigt. Rassismus herrscht ihrer Ansicht nach in den Vereinigten Staaten, wo
Schwarze in abgesonderten Ghettos leben und es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen aufgrund der Hautfarbe kommt.
Anders ist es in Salvador, mit den 80% Schwarzen und den vielen verschiedenen Mischlingen; hier werden Kontakte freundlicher Art auf der Straße
gepflegt. Nicht nur im Karneval tanzen, singen und lachen Menschen verschiedenster Art zusammen. Doch das Bild ist trügerisch. Deutliche Herabsetzungen
der Schwarzen sind auf allen Ebenen an der Tagesordnung und nicht nur im
Alltag, sondern auch im Karneval sowie bei allen Anlässen, wo Schwarz und
Weiß zusammentreffen, zu erkennen.
Im "Karneval das Tages", dem Karneval der "trios elétricos" feiern
hauptsächlich Weiße auf ihre ganz besondere Art. Jedes Trio (bloco de trio eine Art Karnevalsverein) verkauft mit der Mitgliedschaft, der fantasia, die
Sicherheit und die Exklusivität einer in sich geschlossenen Gruppe. Dies geschieht mit Hilfe von "cordas", dicken Abgrenzungsseilen, die um ihre Wagen
herum gespannt werden. Die Seile werden von jungen, muskulösen Schwarzen
(segurança – Sicherheitspersonal) gehalten. Im Raum drinnen tanzen die Mitglieder dieser blocos, draußen die mehrheitlich gemischte und schwarze Bevölkerung. In engen Reihen hält und führt die segurança die Kordel und behütet diejenigen, die drinnen sind, vor äußeren Eindringlingen und dies für wenig
Geld. Auch sie bewegen sich im samba-Schritt, aber mit angewinkelten Ellenbogen, immer bereit, diese einzusetzen. Manche haben eine Hand mit einem
Tuch verbunden, in dem sich ein Metallstück befindet, um Schläge effektiver
zu gestalten. Viele von ihnen sind stolz darauf, die corda zu führen, diese
Machtposition innezuhaben, und für viele ist es der einzige Job des Jahres.
Zudem haben die meisten Trios eine "Body Guard" von ca. 10 dunkelhäutigen Männern, noch muskulöseren Schlägertypen, die tatkräftig für Ordnung sorgen, wenn Fremde es wagen, zu nahe an die corda zu kommen. Jeder, der sich im Karneval auskennt und sich nicht prügeln will, achtet respektvoll darauf, nicht zu nahe an die cordas zu kommen. Besonders zu Zeiten der
absoluten Platznot kann der unfreiwillig Zurückgebliebene mit den Aggressionen der anderen nervenaufreibende Abenteuer erleben, sofern er keine Chancen gehabt hat, sich ins Abseits zu drängeln.
Eine andere Art, Aggressionen auszuleben, derjenigen, die nicht in der
corda mitlaufen, ist es, an den Trios seitlich vorbeizutanzen, sich kurz hinter
dem Wagen aufzuhalten und dann den gleichen Weg zurückzutanzen, immer
dicht bei der Gefahr. Da dies oft verschiedene Gruppen Jugendlicher von beiden Seiten aus tun, kommen sie sich häufig ins Gehege. Sie tragen dann mit
"pogo"-artigen, ellenbogenreichen Bewegungen kleine "Bandenkriege" aus, bis
230
der nächste heraneilende Polizeitrupp, manchmal allein durch seine Präsenz,
manchmal mit Schlagstöcken, die Ordnung wieder herstellt.
Der Platz nahe an den trios ist begehrt, die Musik ist hier am lautesten,
und man kann die Stars aus nächster Nähe begutachten. Bei Streitereien stiebt
die Menge aus Angst, eine Faust abzubekommen, sofort kreischend auseinander, um sich eine Sekunde oder Minute später wieder lachend zusammenzufinden.
Die trios haben einen Wagen für die Liveband mit ihrer Musik- und Beschallungsanlage, einen zweiten Wagen für die Mitglieder, die sich abwechselnd den Spaß von oben anschauen und über der Menge ihre Tanzkunst zur
Schau stellen. Außerdem haben beide Wagen Toiletten, eine kleine ErsteHilfe-Station und eisgekühlte, teure Getränke für ihre folhões (Narren) bereitgestellt.
Die Mitglieder haben sich teuer in diese Exklusivität eingekauft, manche
der „Schickimicki“-blocos kosten bis zu 500 US-Dollars. Hier findet man die
Weißen der Ober- und Mittelschicht, welche sich für die Schönsten, Reichsten
und Begehrtesten der Stadt halten. Dies gilt für beide Geschlechter. Alle sind
sie an ihrem Einheits-T-Shirt und einem Wedel in einheitlicher Farbe zu erkennen. Wedelschwenkend und singend hüpfen sie zur Musik der sich wiederholenden Lieder ihrer Lieblingsstars.
Der Unterschied zwischen drinnen und draußen beinhaltet Kontakte zu
ganz bestimmten Gesellschaftsschichten. Mit der Wahl, in welchem bloco man
sich einkauft, hat man ein ganz bestimmtes Image gekauft, für jeden in der
Stadt sichtbar. Wenn ein Mann sich an ein Mädchen mit einem T-Shirt des blocos „Eva“ heranmacht, dem teuersten Schickimicki-bloco der Stadt, weiß er,
daß sie wahrscheinlich in Rio Vermelho und Umgebung, dem reichsten Stadtteil Salvadors wohnt, eine gute Schulbildung hat, studiert hat und vermutlich
ein Auto besitzt. Das Gleiche gilt umgekehrt genauso.
Die “weißen” blocos haben noch andere Privilegien, sie dürfen vor den
blocos afro und afoxés durchs Campo Grande ziehen, vor abends 11 Uhr. Im
Gegensatz dazu warten die “schwarzen” blocos manchmal bis morgens 6 Uhr,
bevor sie Einlaß erhalten. Als Konsequenz sind die Tribünen dann fast vollständig leer, weil die meisten der Zuschauer schon nach Hause gegangen sind.
Auch die Jury hat sich nachts verkleinert. Beifall, Aufmerksamkeit und Anheizen durch das Publikum sind wesentlich geringer, weil kaum jemand mehr da
ist.
Selbst die Pressephotographen schlafen meist schon in der frühen Morgendämmerung, aber auch die Dokumentation des schwarzen Karnevals wird
nicht als ebenso wichtig erachtet wie die des weißen Karnevals. Nach dem
Karneval werden in der Stadt in den verschiedenen Shopping-Centern Karnevalsphotos ausgestellt, die käuflich zu erwerben sind. 1992 waren bei ca. 1000
Photos 15 Stück von schwarzen blocos dabei, 1993 schon 40, 1996 sogar ca.
100, bedingt durch die mit dem Tourismus einhergehende starke Vermarktung
231
der cultura afro. Die anderen 900 dokumentierten die Freuden der Weißen
unter sich.
Ein anderes Privileg des Tag-Karnevals, des weißen Karnevals, ist bedingt durch die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel. Tribünenplatzkarten, Sitzplätze in Clubs, Restaurants und exklusiveren Bierbaracken können
viele Schwarze nicht bezahlen.
Die Getränkeauswahl ist aus verschiedenen Gründen unterschiedlich.
cachaça ist wesentlich preisgünstiger als das leichte, erfrischende cerveja,
Unterschiede des Verhaltens der Trinkenden haben unter anderem mit der zu
sich genommenen Menge Alkohols zu tun. Wer es sich leisten kann, bevorzugt
Bier, wer der Ohnmacht nahekommen will, aus welchem Grund auch immer,
stürzt sich auf „batidas“, starke alkoholische Getränke. Unter manchen Gruppen weißer Männer gilt es als schick, mit der Whisky- oder Wodkaflasche in
der Hand durch die Straßen zu tanzen. Für viele der schwarzen favelaBewohner ist Batidatrinken Usus, teils, um damit für kurze Zeit den sozialen
Verhältnissen zu entfliehen, teils, weil der Rausch preiswerter ist, teils, weil
die angestaute Aggression sich im Rausch besser Luft machen kann.
In den verschiedenen Stadtteilen existieren deutliche Unterschiede der
Hautfarben. In der relativ heruntergekommenen Gegend rund um den Praça
Castro Alves dominiert schwarz, während in den reicheren Stadtteilen wie
Barra und Ondina weiße und helle Haut vorherrschend ist.
Seit wenigen Jahren sind einige der bloco afro und afoxés auch für
Weiße in Mode gekommen. Inzwischen wird ihnen von den meisten blocos Zutritt gewährt. Davor waren Weiße und Schwarze innerhalb ihrer blocos, von
beiden Seiten aus scharf getrennt. Zuerst zogen einige der Touristen mit, und
heute ist die Mitgliedschaft im Karneval für einige aus der weißen Mittel- und
Oberschicht attraktiv geworden.
Seit den 70er Jahren reaktivierten sich verschiedene afoxés und blocos
afro, nachdem sie in den 30er Jahren von der Bildfläche des salvadorianischen
Karnevals verschwunden waren. Ihre Bedeutung für die "schwarze Identität" ist
enorm. Ihr Status ist innerhalb der gesamten Stadt gestiegen, unter anderem,
weil sie nicht mehr wegzudenken und zu verleugnen sind, die Bewegung immer größer wird und sie, nicht zuletzt durch ihre Musik, international anerkannt werden.
In jeder Beziehung sind die blocos afro und afoxés die Seele des salvadorianischen Karnevals. Sie überragen bei weitem die weißen blocos an kreativem Arrangement und Farbenreichtum ihrer Kostüme; ihre Tanzdarbietungen
sind unübertroffen und bestimmen die Mode jedes Jahres. Ohne ihre Rhythmen, Liedtexte und ständig neuen Musik- und Tanzkompositionen wäre Karneval undenkbar. Schwarze Musiker dominieren Salvadors und Brasiliens Musikszene, und, anders als vor einigen Jahren noch, läßt es sich heute nicht mehr
verschweigen, daß fast sämtliche der Musikkreationen, die von Weißen übernommen wurden, in Wirklichkeit von Schwarzen komponiert wurden. Leider
232
wird die Musikszene von den Weißen beherrscht, die kommerzielle Erfolge
erzielen.439
Die musikalische Tradition der Schwarzen reicht nach Afrika zurück und
wurde in der Zeit der Sklaverei zum Teil im Verborgenen weiter tradiert. In
den schwarzen Stadtteilen und favelas entstehen täglich unzählige neue Lieder, Rhythmen und Tänze, welche bei der Arbeit, in der Freizeit, bei Festen
oder während der vielen Stunden der Arbeitslosigkeit kreiert werden.
Parallel dazu ziehen weiße Musiker durch die schwarzen Stadtteile, auf
der Suche nach den Kreationen der Schwarzen, kaufen ihnen Rhythmen und
Liedtexte für ein Bier, ein Abendessen oder ein paar reais ab, mit denen sie
hinterher dann viel Geld verdienen. In den letzten Jahren formiert sich die
schwarze Musikszene stärker und formuliert dieses Problem öffentlich, kann
aber nichts dagegen unternehmen, da die Abhängigkeiten zu groß sind.
Das folgende Beispiel demonstriert den typischen baianischen Musikmarkt: 1992/93 stammten die größten musikalischen Erfolge nicht nur des
Karnevals vom bloco Olodum aus dem Pelourinho. Ihre Songs werden im Karneval von allen Bands der weißen blocos de trio gespielt und erfreuen sich in
allen Bevölkerungsschichten größter Beliebtheit. Für ihren breiten Erfolg, sowohl für ihre Beliebtheit bei den Weißen als auch wegen der Gagen, halten sie
ihre Texte "neutraler" und sprechen weniger von der Ungerechtigkeit gegen
die Schwarzen.
Sie wurden damals von der salvadorianischen Präfektur, großen Firmen
wie Varig (Fluggesellschaft) und Brahma (Bier) gesponsort. Sie sind für die
Weißen gesellschaftsfähig geworden und werden öffentlich anerkannt. Ihr
Marketing ist erfolgreich. Die kritische Meinung mancher Personen ist, daß
andere schwarze blocos eigentlich viel bessere Liedtexte kreieren, daß sie
aber keinerlei oder nur geringfügige Aufmerksamkeit von den Medien erhalten, weil sie soziale Verhältnisse zu offen kritisieren.
4.7 Filhos de Gandhi
Am Karnevalsamstagnachmittag füllen sich die Straßen des Pelourinhos mit
Tausenden weißgekleideter, turbantragender Männer in langen Gewändern,
die sich mit blauen Sternen auf den Turbanen, blauen Ketten und Schärpen
geschmückt haben. Plötzlich meint der Zuschauer, sich im Orient, bei den
Söhnen der Sonne, zu befinden. Die "Filhos de Gandhi" (Söhne Gandhis) rüsten
sich zum Abmarsch vor ihrem Gemeindehaus. Am Praça da Sé steht ihr weißer,
blaugeschmückter Wagen mit den Namenszügen der orixás. Von dort erklingt
ihr fröhlicher, gemütlicher, eingängiger und trotzdem kräftiger Filhos de Gandhi-afoxé-Rhythmus. Auf dem Wagen singen ältere Männer Gesänge in afrikanischer Art. Einer hält quasi singend eine Rede, ein anderer danach eine sin439
Es existieren hierzu einige, jedoch wenige Ausnahmen schwarzer Hautfarbe, die nationalen
und internationalen Ruhm erlangen konnten, wie Carlinhos Brown, Margarethe Menezez,
Chico César und blocos afro, wie Olodum, Timbalada u.a.
233
gende Gegenrede bzw. Bestätigung oder Hinzufügung zum angesprochenen
Thema in einer vorgegebenen Melodie.
Vor ihrem Wagen befinden sich wie jedes Jahr das große Filhos de Gandhi-Plüschkamel, der Pappmaschée-Elefant, die von zwei der kleinsten Jungen
geritten werden. Das in Salvador legendäre Plüschschaf und ein geschmücktes
Ölbild von Gandhi, dem friedlichen indischen Freiheitskämpfer, ziehen ebenfalls seit vielen Jahren mit durch die Straßen.
Nach dem gewaltsamen Tod von Mahatma Gandhi 1948 in Indien formierten 1949 in Salvador Mitglieder eines terreiros der afoxé Filhos de Gandhi
(Söhne Gandhis) im Gedenken an ihn. Sie wollten eine friedliche Befreiung aus
den ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen demonstrieren und bewirken. Einer der Gründungsväter hat erstaunlicherweise eine geradezu verblüffende Ähnlichkeit mit Gandhi, sowohl was Statur und Gesichtszüge betrifft als
auch die Nickelbrille. Der Männerbund Filhos de Gandhi war viele Jahre aus
dem Karneval verschwunden, bis Gilberto Gil, einer der Musikgrößen Bahias,
durch seine Unterstützung bewirkte, daß er wieder auf den Straßen erschien.
1993 zog eine riesige weiße Wolke schwarzhäutiger Männer, 6.000 Personen umfassend, durch die Berge und Schluchten der salvadorianischen Straßen, singend, tanzend, rasselnd und erfrischendes, duftendes Lavendelwasser
auf die schönen Frauen der Stadt versprühend. Sie sind ein schwarzer Männerverein, 1993 zogen die ersten vereinzelten Weißen mit. Ihre Frauen und
Freundinnen zogen nach ihnen ungeschmückt durch die Straßen oder mit anderen blocos, bei denen ihr Beitritt erlaubt war. Am Karnevalsmontag verschenken die Filhos de Gandhi ihre Ketten an Frauen, die mit ihnen tanzen.
In den letzten Jahren hat sich aus Frauen und Freundinnen der "Filhos
de Gandhi" ein reines Frauen-afoxé, die "Filhas de Oxum", gegründet. In einer
riesigen goldenen Mondsichel tanzt die schönste Tänzerin auf ihrem Wagen.
Die Töchter von Oxum, an die tausend Frauen und Mädchen, strahlen wie ihre
Mutter in der Farbenpracht aus Gelb, Gold und Rot.
Nach einem Streit im Vorstand der Filhos de Gandhi hat sich vor 4 Jahren ein Teil der Mitglieder abgespalten und ein neuer afoxé gegründet, der
sich Korin Efán nennt. 1993, mit inzwischen fast 2.000 Mitgliedern, haben sie
einen der ausgeschriebenen Hauptpreise gewonnen. Ihr Phantasiereichtum,
was Kostüme und Hüte angeht, und die Unermüdlichkeit und Schönheit der
Bewegungen ihrer capoeiristas und Tänzerinnen waren herausragende Faktoren dafür. Auch hier ziehen vereinzelt Weiße aus der Nachbarschaft mit und
angeworbene Touristen, die begehrt sind, weil sie anspruchslose und sofort
zahlende Mitglieder sind.
4.8 Ilê Aiyê
Samstagnacht 24 Uhr: Der bloco Ilê Aiyê zieht von seinem Vereinshaus aus
dem Stadtteil Liberdade in afrikanischen Trachten in den Farben Weiß, Gelb,
Rot und Schwarz los. Königinnen und Könige aus 1001 Nacht, stolz, groß, mit
234
ebenmäßigem, ebenholzfarbenen Teint. Ihr klarer Gesang von einzigartiger
Schönheit klingt durch das Menschengedränge der nächtlichen Stadt, Sänger
und Sängerin wechseln sich ab mit dem mehrstimmigen vollen Chor, getragen
vom Ilê Aiyê-Rhythmus in schneidender Schärfe.
Trommelsolos wirbeln durch die geladene Atmosphäre, ausgewogene
Klangkaskaden gleiten wie Nachtvögel durch die Lüfte. Aus allen Himmelsrichtungen sind die Menschen von Liberdade, Frauen und Männer, Alte und Kinder,
herbeigeeilt, um Ilê Aiyê losziehen zu sehen. Still, ernst und fast andächtig
reihen sich die Menschen hinter ihnen in den Straßen ein, und Liberdade singt
sein Lied, getragen und langsam, die Seelen singen, und die Herzen vibrieren
im Gleichklang. Kein Anrempeln, kein Streit, kein lautes Wort stören die mit
Musik gefüllte Stille.
Mit Ilê Aiyê begann die "Reafrikanisierung" der Schwarzen in Salvador.
1975 hatte eine kleine Gruppe junger Männer in Curuzú, Liberdade, einen
Karnevalsklub nur für Schwarze gegründet. Usus war damals, daß Schwarze in
den großen blocos de trios nicht Mitglied werden durften. Ihre Gegenreaktion
war, daß kein Weißer bei ihnen mitgehen durfte und sie mit Kostümen und
Haartrachten ihren afrikanischen Ursprung betonten.
Sie zogen als eine kleine Gruppe von Männern und Frauen mit Rasseln
und Trommeln in afrikanischen Trachten durch die Straßen und sangen eigens
komponierte Lieder, die stolz von ihrer schwarzen Haut und dem fernen Afrika
berichteten. Viele Bürger Salvadors und die Medien waren entsetzt, bezeichneten Ilê Aiyê als häßlichen "Rassismus-bloco".
Die neue Bewegung wurde seither von vielen schwarzen Jugendlichen
Salvadors, vor allem aus Liberdade, unterstützt. Sie nahmen sich nun die
Schwarzen aus den Vereinigten Staaten zum Vorbild und informierten sich über die "Black Power-Bewegung" und die Unabhängigkeitskriege in Afrika. Sie
fingen an, sich auf ihre eigenen Schönheitsideale und kulturellen Werte zu
beziehen und sie der breiten Öffentlichkeit zu demonstrieren. Damit gingen
sie die ersten Schritte zur Unabhängigkeit von den aufgezwungenen Denkmustern der Weißen. In ihren Liedtexten informieren sie über bedeutende tapfere
Schwarze aus den Freiheitskämpfen. Jedes Jahr wählt Ilê Aiyê für den Karneval eine afrikanische Nation als Thema und beschreibt sie bildhaft durch ihre
Tänze und Kostüme und informativ durch ihre Liedtexte. Auch sie haben auf
ihrem Wagen eine der erfahrenen, würdevollen, älteren candombléPriesterinnen dabei und bekunden damit ihre religiöse Verwurzelung.
Die Inhalte des blocos Ilê Aiyê waren wegweisend für all die anderen
blocos afro und afoxés, die sich in den Jahren danach formierten. Alle haben
sie eine eigene afro-brasilianische Identität entwickelt, die sie mit eigenem
Musik-, Tanz- und Kleidungsstil im Karneval auf den Straßen zeigen.
235
4.9 Eigen- und Fremdinterpretationen
Während des Karnevals können die sinnlichen Freuden den Restriktionen der
unterdrückenden rigiden sozialen und gesellschaftlichen Ordnung entkommen.
Dies ist allgemein erwünscht und wird, unter anderem auch durch Zuhilfenahme von berauschenden Getränken und Drogen gefördert.
Wie aus der europäischen Geschichte des Karnevals seit den Anfängen
des Christentums hervorgeht, wird das „Fleisch“ (carne) in einer Weltsicht der
Sündenfreiheit gefeiert, bevor es sich einer Fastenzeit von 40 Tagen bis Ostern unterzieht. Seit Jahrhunderten, fest im christlichen Jahreskalender verankert, steht nach dem karnevalesken Treiben das religiöse Anliegen, den oberflächlichen Lustbarkeiten sinnenfrohen Lebens zu entsagen und die nachfolgende Fastenzeit als Vorbereitung auf Ostern würdevoll zu begehen.
Karneval und Fastenzeit sind zwar diametrale Gegensätze, sind jedoch
untrennbar miteinander verknüpft. Im Zentrum des Karnevals steht der Narr,
nach Psalm 52 ein Sinnbild eines Menschen, der nicht an Gott glaubt. Er tritt
mit den „Schellen der Lieblosigkeit“ und den „Eselsohren geistiger Trägheit“
auf und ist Symbol eines Menschen der nur sich selbst sieht, der ohne jegliche
Caritas handelt. Hinter seinen nicht den Moralvorstellungen entsprechenden
Verhaltensweisen steht der Teufel, der ihn anleitet.440
Die westlichen Karnevalsriten sind mit diesen Hintergründen mit den
Portugiesen nach Brasilien gedrungen und haben sich erst einmal isoliert, an
die christlichen Konventionen gebunden, entwickelt. Es wurde privat, in Salons, „weißen Clubs“ und Familienverbänden in barocker Atmosphäre, unter
Ausschluß des breiten Volkes, der afrikanischen Sklaven, gefeiert.441
Erst spät, Anfang dieses Jhs., nach der offiziellen Aufhebung des Sklaverei, der abolicação, begannen die ehemaligen Sklaven die Feste ebenfalls,
erst in „schwarzen Clubs“ und später für sich auf der Straße, in dem ihnen von
den Weißen zugeordneten Raum, zu feiern. Sie kleideten sich in afrikanische
Königsgewänder, während die Weißen in ihren Clubs französische und andere
europäische Könige und Adlige mit ihren Kostümen imitierten.442 Sie ergänzten
den europäisch geprägten Karneval mit afrikanischen Elementen wie Trommeln, Musik und Tanz sowie indianisch-brasilianischen Elementen. Ihr Karneval, eine einzigartige Kreation, wurde isoliert, unter absoluter Mißachtung von
Seiten der Weißen, elaboriert und gefeiert.
440
Weitere Ausführungen zu diesem Thema vgl. Moser (1986:10-29)
Ausführliche Beschreibung hierzu: Queiroz (1992:27-71).
442
Weitere Ausführungen zur Geschichte des Karnevals siehe Guerreiro (1994: 100-106). Die
baianische Polizei griff wie beim candomblé gegen die Ausübung der Bräuche der Schwarzen
beim Karneval gewalttätig ein. Die afrikanischen Kostüme und Bräuche waren für die Weißen, die portugiesische Elite, klares Indiz für „afrikanischen Barbarismus“. Somit erfolgte eine Kriminalisierung all derer, die sich öffentlich mit afrikanischer Kultur und Religion
beschäftigten und dabei ertappt wurden.
441
236
Der schwarze Karneval erlebte Ende der 40er Jahre mit den afoxés eine
neue Belebung. Den Weißen war es nicht gelungen, ihren Kampf „Europa gegen Afrika“ und „Zivilisation (Reichtum) gegen Barbarei (Armut)“ zu gewinnen
und alle Elemente afrikanischer Kultur auszumerzen. Die kulturellen afrikanischen Werte überlebten alle Repressionen und Brutalitäten, mit welchen gegen sie vorgegangen wurde. Das brasilianische Fest ist nach Rodrigues
(1977:156) Ausdruck von wirklichen afrikanischen Praktiken gewesen, wobei
meines Erachtens dies heute nicht mehr isoliert zu betrachten ist, sondern die
Bezeichnung afro-brasilianisch treffend ist.
Karneval in der Nähe des Äquators erlangte im Lauf der Zeit eine neue
Bedeutung, der Brasilianer wurde als sinnlicher Wilder angesehen und so vermarktet. Vor dem geistigen Auge des Westens bilden Brasilien und Karneval
inzwischen eine unlösbare Einheit, Karneval ist zum Synonym für Brasilien geworden. Wie das vielschichtige Brasilien selbst erlaubt auch der Karneval keineswegs eine einheitliche Interpretation, und der karnevaleske Mythos sollte
eigentlich transparent gemacht werden.443
Die Funktion des Lachens, der Parodie und des Spotts während des Karnevals, als freie Waffe in der Hand des Volkes, wurde von Bachtin 1969 im Zusammenhang mit europäischen Traditionen beschrieben und ist ebenfalls auf
den brasilianischen und baianischen Karneval übertragbar. Die Personen unterbrechen für kurze Zeit ihr, das ganze Jahr über bestehende, hierarchisch
geordnete Rollenverhalten. Im Karneval werden sie für ein paar Tage parodiert und dadurch für den Rest des Jahres erträglicher und annehmbar gestaltet.
4.10
Tourismus und Karneval
Die touristische Rezeption zum Karneval ist recht oberflächlich und beschränkt sich oftmals auf die Wahrnehmung der körperorientierten Sinnenfreuden sowie der optischen und akustischen Reize, den vielen bunten Karnevalsgewändern und Masken sowie der lauten, abwechslungsreichen Musik. Ferner nehmen sie, wie schon beschrieben, das jeito de ser baiano wahr, das nun
in närrischer Ausgelassenheit, in vielen Variationen, präsentiert wird.
Manche bemerken noch , daß einige viel dafür arbeiten, daß sich andere amüsieren können. Touristen sind meist durchgängig begeistert von dem
bunten Chaos, das sich ihnen bietet, außer sie sind in Situationen mit Platzmangel, Platzangst, Schlägereien und andere Gefahren geraten. Für viele ist
die Zeit ebenfalls anstrengend, weil gar viele Einflüsse gleichzeitig auf sie befremdlich wirken. Für alle ist der baianische Karneval völlig unterschiedlich zu
dem bekannten europäischen Karneval. Sie erleben, jeder auf seine Art, einen
exotisch-ekstatischen Sinnenrausch, der die Reise in die Ferne an sich schon
gerechtfertigt hat.
443
Verschiedene Interpretationsansätze dazu, siehe z.B.: Da Matta 1973, 1978, 1981; Ortiz
1976;1978; Queiroz 1992; Sebe 1986.
237
Das Ferienerlebnis ist einmalig und mit keinem anderen zu vergleichen.
Dieser Straßenkarneval, der die Massen mobilisiert, ist einmalig auf Erden, so
der Werbeslogan von Bahiatursa für Salvador. Nach Aschermittwoch kaufen
die Touristen in den Shopping-Centern CD´s mit den gängigen und jetzt oft
gehörten und vertrauten Karnevalhits und eventuell noch ein Karnevals-T-Shirt
als Erinnerung an die schöne Zeit des „sündenfreien Paradieses“ auf Erden.
Sie haben nicht gesehen, gehört und erlebt, daß Karneval für viele der
Schwarzen eine politische Manifestation gegen bestehende gesellschaftliche
Verhältnisse beinhaltet, als einzige oder fast einzige erlaubte, nicht sanktionierte Möglichkeit im Jahr dem Unmut über die sozialen Zustände Ausdruck zu
verleihen. Die damit verbundene Verzweiflung einerseits sowie andererseits
der Mut, Stolz, erarbeitetes Selbstbewußtsein und Solidarität in der Unterdrückung und die Vielfältigkeit in diesem Ausdruck bemerken sie nicht.
Ebenfalls ist ihnen entgangen, wie kreativ schwarze Identität in diesen
sechs Tagen ihren Ausdruck findet und nur in diesen sechs Tagen im Jahr gesellschaftlich anerkannt wird. Sie sehen nicht, daß die Seele des Karnevals die
schwarze Kultur ist, sehen nicht die Absurdität, daß die Kultur von den weißen
Brasilianern die restlichen 359 Tage im Jahr fast durchgängig verabscheut
wird.
Die Anerkennung, welche die Schwarzen im Karneval erfahren, findet
zum einen in Form einer konsumierenden Haltung der Kunst, Musik und Tänze
durch die einheimischen Weißen statt sowie durch die zwiespältigen lasziven
Annäherungen und Bewunderungen der schwarzen Haut, der schönen Mulattin,
des muskulösen schwarzen Tänzers. Zum anderen ist die Bestätigung durch die
Bewunderung und Einladung zum Bier und andere kleine finanzielle Vorteile
durch die begeisterten weißen Touristen gewährleistet und wird jedes Jahr
größer, da immer mehr Touristen, bedingt durch erfolgreiche Werbestrategien
sowie den Trend der Ethnoreisen, anreisen, teilnehmen und konsumieren.
Der Erfolg für die Schwarzen ist nicht von Dauer, nach zehn Tagen beginnt das alltägliche Dilemma, der Überlebenskampf in der Einzelkämpfergesellschaft von neuem, nun mit leeren Taschen, aber voller guter Erinnerungen
an die ekstatischen Tage und Nächte, für viele mit der Befriedigung, sich vollständig oder nahezu vollständig ausgelebt zu haben und für alle Bedürfnisse
ein Ventil gefunden zu haben. Ein bitterer Beigeschmack bleibt für viele, die
sich bewußt sind, von allen Weißen nur exotisch bewundert worden zu sein.
Die Quelle der Kraft war die Solidarität mit Gleichgesinnten und die Darstellung der eigenen afrikanischen Schönheit.
Allerdings haben sich in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem
Tourismus einige Schwarze durch Professionalisierung der Karnevalskultur und
deren Umfeld (Tanzkurse, etc., wie beschrieben) Möglichkeiten geschaffen,
sich soziale sowie ethnische Identität zu erarbeiten und zu verbinden. Sie haben durch die Ausübung der damit verbundenen Berufe (siehe bloco Olodum,
im Kapitel blocos afro, 4.3.1.2) Status geschaffen in ihrem eigenen, dem
„schwarzen Raum“.
238
Im Karneval werden nicht nur erotische Bedürfnisse ausgelebt, auch angestaute Aggressionen, Haß, Neid, Eifersucht, Rache und Wut können zum
Ausdruck kommen und die dafür benötigten Opfer finden.444 Abenteuerlust,
Lust auf Verwandlung, Rollenspiel, kindliche Ausgelassenheit und Gelächter
werden ausgelebt. Die Darstellung und das Ausleben sonst unterdrückter Emotionen und Persönlichkeitsbestandteile wie z.B. Exhibitionismus, Narzißmus,
Geschlechtsumkehrungen, Transvestizismus u.v.a. erfolgen und können das
Ego wenigstens kurzfristig befreien, bevor es sich wieder an die gewohnten
rigiden Formen des gesellschaftlichen Alltaglebens anpassen muß.
Manch einer, der ans Ende seiner körperlichen Kräfte gelangte und wie
alle zuviel Geld ausgegeben hat, ist ebenfalls froh, wenn Karneval überstanden ist, weil der menschliche Energiehaushalt die damit verbundenen Anstrengungen auf Dauer nicht bewältigen kann und dann die „Erholung“ und
Regeneration im gewohnten, regelmäßigen Alltag zum Zyklus dazugehört und
eine Form der Verläßlichkeit, auch wenn nicht unbedingt befriedigend und
lustvoll, darstellt.
Meist werden in der Karnevalsliteratur die Umkehrungsaspekte die der
Karneval beinhaltet, analysiert, wie der „dumme Arme“, der den „klugen König“ spielt, der „Kluge“, der sich als „Narr“ gibt, der „Mann“, der sich als
„Frau“ verkleidet, und viele anderen Variationen dieses Themas. Dadurch,
daß alle das Gegenteil dessen, was sie sind, ausleben, ihren Status umkehren,
sollen sie danach wieder im Einverständnis das alte Reglement bestätigen, und
dies geschieht in einer anderen Zeitspanne als der normalen, was damit wiederum die normale Zeit des Jahreszyklus bestätigen und erneuern soll. Alle
am Ritual teilnehmenden Personen sollen gleich sein, und die Hierarchie des
normalen Reglements soll zu Gunsten einer Anarchie für die Zeitspanne des
Festes aufgehoben werden.445
Das Fest hat Ventilfunktion für unterdrückte Emotionen, die jetzt ausgelebt werden durften, wie viele der Befragten bestätigten. Einen Hauch von
scheinbarer, aber wohl organisierter Anarchie haben alle geschnuppert, und
444
Die gewalttätigen Ausschreitungen während des Karnevals sind vielfältig und immens. So,
wie die einen den sinnlichen Genuß friedvoll suchen, scheint für genauso viele Personen aller
Hautfarben die aggressive Form notwendig und lustvoll zu sein, und die dafür benötigten Erlebnisse werden aktiv gesucht und herbeigeführt, selbst unter Miteinbeziehung der fast ausschließlich für die Schwarzen bestehenden Gefahr, dafür im Gefängnis zu landen.
445
Vgl. Turner (1969 und 1989), sowie Bachtin 1969. Turner untersuchte vorwiegend die gesellschaftlichen Strukturen in afrikanischen Stammeskulturen. Besonderes Augenmerk richtete er auf das Phänomen der „Übergangsrituale“. Hierbei kommt es zu einer vorübergehenden
Auflösung der bestehenden Gesellschaftsstruktur. Die zeitweilige Auflösung der bestehenden
sozialen und materiellen Unterschiede sollte Initiationscharakter haben und zudem für die
Gemeinschaft, die nach den Feierlichkeiten die gleichen Strukturen wie zuvor wieder aufnimmt, erneuernde Funktionen haben. Als theoretisches Konzept mag die Ritualtheorie interessant sein, nur während des realen Festes des baianischen Karneval sind keinesfalls alle
gleich, die Anarchie existiert in dieser Form nicht. Im baianischen Karneval ist so weit als
möglich alles bestens organisiert, und gleichzeitig wesentlich chaotischer als das alltägliche
Leben. Ein riesiges Polizeiaufgebot achtet darauf, daß keinerlei anarchistische Verhältnisse
entstehen können. Die reichen Weißen feiern immer noch isoliert, zwar zum Teil auf der Straße, aber vom „Pöbel“, vom Volk durch Sicherheit garantierende Kordeln getrennt.
239
jeder hat sich in dem Rahmen, in dem es ihm möglich war, mehr Freiheiten
körperlich-sinnlicher Art auf der Kontaktebene herausgenommen, als dies im
Alltag möglich ist. Das gilt für die einheimischen Gastgeber wie für die angereisten Touristen.
Karneval kann als „Rite de Passage“446 angesehen werden, der im zyklischen Kalender der jeweiligen Gesellschaft eine spezifische Erneuerungsfunktion hat. Mit Karneval findet die Ausgliederung aus dem „normalen“ Leben
statt, hier das Ausleben der sinnlich-fleischlichen Genüsse, um diese dann am
Aschermittwoch sterben zu lassen447 und sich danach mit geistiger Hingabe der
Fastenzeit und der Vorbereitung aufs Osterfest zu widmen und sich in das alltägliche Leben wieder einzugliedern.448
Der baianische Karneval trägt ebenfalls all diese Aspekte in sich, jedoch
die Bewertung der christlichen Fastenzeit spielt für die Jüngeren kaum mehr
eine Rolle, das Karnevalsende mit dem Aschermittwoch beinhaltet für sie eher
den Tod einer persönlichen Freiheit und das wieder-Eintauchen in die weniger
lustorientierte Routine des Arbeitslebens oder des Überlebenskampfes und
Ende des freien Lebens auf der Straße.
In Literatur und Beschreibungen über den baianischen Karneval wird
nicht zum Ausdruck gebracht, welche Anstrengungen das tropikalische Fest
der Sinnenfreuden für jeden einzelnen mit sich bringt. Das Hauptproblem für
viele sind die ungenügenden Finanzen, das Feiern kostet seinen Preis. Für viele sind schon die Buskosten zum Zentrum der Stadt ein Problem, das kaum und
schon gar nicht für sechs Tage zu bewältigen ist.
Jedoch handelt es sich hierbei meist um die Bewohner der Außenbezirke, der favelas, die auf dem Fest im Zentrum der Stadt ohnehin nicht erwünscht sind, ohne die das Fest als solches aber gar nicht existieren würde.
Viele müssen arbeiten und können sich das Feiern gar nicht leisten, da sie
sonst ihre unsicheren Jobs verlieren würden. Andere sind glücklich darüber,
sich einen oder zwei Abende des Feierns erlauben zu können, vielen gelingt
nicht mal das. Die kurzen sinnlichen Freuden sind meist mit immensen finanziellen Anstrengungen verknüpft.
Der Aspekt der „Fleischeslust“ des Festes wird in den Medien im In- und
Ausland klischeehaft ins Maßlose übertrieben und demzufolge von den fremden Zuschauern auch so erlebt, bzw. ihr Augenmerk von vornherein darauf
gelenkt.449 Manch anderes wie bestehende soziale Mißstände können dadurch
446
Vgl. Gennep 1986 (1909), der viele Feste als wichtige Bestandteile der „Rites de Passage“
beschrieb.
447
Weiteres zu Umkehrritualen siehe: Gadamer 1986; Turner 1982; Parkin, Caplan und Fisher
1996; u.a.
448
Vgl. Moser 1986 und Bachtin 1969.
449
Im Gegensatz zur Werbung zum Karneval von Rio de Janeiro wird Körperlichkeit und Sinnlichkeit nicht fast nackt und schamlos eindeutig einladend dargestellt, sondern ästhetisch sublimiert, verbunden mit den afrikanischen Trachten, Tänzen und Musik, Kontraste zu Rio und
240
erfolgreich vertuscht werden, was durchaus im Interesse der baianischen
Festorganisatoren ist.
Meist wird übersehen, daß Karneval das getreue Abbild aller Aspekte
des baianischen sozialen Lebens und der rigiden hierarchischen Gesellschaft
darstellt. Die schon erwähnte Doppelmoral, welche die Gesellschaft dominiert, findet hier ihren Ausdruck im Verhalten der Geschlechter, der Hautfarben und sozialer Schichten zueinander.
Die ideologische brasilianische „Rassenharmonie“, welche die rassistische Realität vertuschen soll, wird bei genauerem Betrachten der Verhaltensweisen im Karneval durchschaubar. Wie üblich amüsieren sich die weißen Reicheren und Reichen sowie die in- und ausländischen Touristen, und viele
Schwarze und Marginalisierte arbeiten dafür hart für eine kaum erwähnenswerte Entlohnung. Dabei behandeln sich beide Parteien erstaunlicherweise
dennoch einigermaßen freundlich.450
Verschiedene Varianten des Umgangstons, die in den Gesprächen
durchgehaltene, erstellte oder erzwungene Hierarchie, die Anpassung vieler
Schwarzer dabei und ihre Akzeptanz der bestehenden gesellschaftlichen Hierarchie macht Gespräche zu hohlen, inhaltslosen Fassaden, welche die Machtund Ohnmachtsverhältnisse widerspiegeln. Sprache ist einer der subtilen Mechanismen, mit welchen Machtverhältnisse manifestiert werden.
Auch der Umgang mit dem Touristen im Karneval spiegelt alle Varianten
dieser Umgangsformen, bzw. Formen der Befreiung davon. Hier können ebenfalls subtile Racheversuche einiger Schwarzer an Weißen stattfinden, wie
durch manche Aussagen von Festteilnehmern deutlich wurde. Der primäre und
hauptsächliche Feind der Schwarzen ist der brasilianische Weiße, mit dem
traditionelle Machtverhältnisse bestehen. Rache am Touristen, am Nichtwissenden und Nichtverstehenden, der diesem Status zufolge eher ein machtloses
Kind ist, für die Taten der machtvollen, bzw. als mächtig erachteten brasilianischen Weißen, gehen am eigentlichen Ziel vorbei und können nur zur kurzfristigen Aggressionsentladung nützlich sein.
Manche der Schwarzen wollen sich ebenfalls für die gesamte Vergangenheit der Versklavung rächen, wobei sie hierfür alle Weißen als verantwortlich erachten. Durch das MNU ist für viele Schwarze rassistisches Verhalten
der Weißen in allen Bereichen bewußt geworden, und es werden Lösungsmöglichkeiten aus dem Dilemma gesucht. Die damit zusammenhängende, gerade
stattfindende Kommerzialisierung der schwarzen Kultur, vor allem im Karne-
der Straßenfestcharakter betont. Ethnotouristen werden somit angesprochen, aber viele erwarten doch irgendwie die „Rio-Sensationen“, da sie nicht unterscheiden können.
450
Bei Gesprächen mit nordamerikanischen schwarzen Touristen, die der Sprache nicht mächtig
waren, stellte sich heraus, daß selbst sie den bestehenden Rassismus verharmlosen, da sie den
freundlichen Umgang auf der Straße im Heimatland unter Menschen mit verschiedenen Hautfarben nicht kennen und als absolut positiv wahrnehmen. Erst im Laufe der Zeit und verbunden mit persönlichen Erlebnissen, kann klar werden, was sich unter der hübschen Oberfläche
in Wahrheit verbirgt.
241
val, Unterhaltungs- und Freizeitsektor, Formen der modernen Sklaverei451
werden kritisiert, und Aggressionen bleiben in diesem Prozeß der Bewußtseinsbildung nicht aus.
Der Tourist kann dabei nicht unbedingt wertfrei betrachtet und empfunden werden, er ist und bleibt zwiespältiges Objekt. Nur durch Kennenlernen, Sympathiebildung und Freundschaft könnte mit ihm ein Umgang gefunden
werden, in dem er zum akzeptierten Subjekt (Individuum) werden könnte.
Dies ist aber durch seine kurze Anwesenheit kaum möglich und zudem keinesfalls realistisch.
Der Tourist bemerkt nichts von den angesprochenen Hintergründen von
Verhaltensweisen, die im Umgang mit ihm eine tragende Rolle spielen, und
bleibt bei seiner oft schon vorher aufgestellten Bewertung der baianos als exotische Gastgeber, was all die Erwartungshaltungen beinhaltet, die er hat
und die an früherer Stelle beschrieben wurden. Die meist aufrechterhaltene
baianische, liebenswürdige und, wie veranschaulicht, oberflächliche Freundlichkeit verbirgt vor ihm perfekt alle der verschiedenen existierenden Realitäten und demonstriert eher die eingeübte Anpassungsfähigkeit zu allen
Mißständen, deren viele der Gastgeber fähig sind.
4.11
Wallfahrten zum Karneval
Reisen zum Karneval in verschiedenen Ländern und Städten werden in Europa
ebenfalls als organisierte Reisen angeboten. Vielen Deutschen genügt die traditionelle Mainzer Fastnacht nicht, sie wollen exotische Erlebnisse für alle
Sinne erleben. Dies trifft für die Reise zum baianischen Karneval zu und äußert sich individuell verschieden. Mit dem herkömmlichen Sinn von Karneval
hat dies alles nichts mehr zu tun, und dies wird auch nicht erwartet. Karneval
in Salvador, mit seiner Vielfältigkeit, ist für alle Touristen primär ein sinnliches und ekstatisches Reiseabenteuer.
4.12
Samba, die Verbindung der Gegensätze
Während des Karnevals wird der tägliche Überlebenskampf von denen, die sich
amüsieren dürfen und können, vergessen und in kurzzeitiges Glück und in
Freude umgewandelt. Alle Formen des Spiels, der Ausgelassenheit können öffentlich, auf der Straße, stattfinden. Das Individuum vereinigt sich mit der
Masse des Volkes auf der Straße und gibt sich Empfindungen von gemeinsamem Rausch hin, bei dem es aufhört, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Die
Grenzen zwischen Selbst und anderen verschwimmen hier.
451
In vielen der verschiedenen brasilianischen Tageszeitungen werden über soziale Probleme im
Land berichtet, die sich seit 1888, der Abschaffung der Sklaverei nicht verändert haben. Die
Form der modernen Sklaverei ist eine andere, und das Wort wird im allgemeinen nicht mehr
benutzt. Für die Betroffenen, Macht- und Rechtlosen, die in ärmlichen Bedingungen überleben, sind die Verhältnisse keineswegs besser. Für den Weißen dient es als moralische Entlastung, das Wort „Sklaverei“ dafür nicht zu verwenden.
242
Laute rhythmische Trommelmusik, die Unmöglichkeit, dabei verbal zu
kommunizieren, gemeinsames Tanzen und Singen, all dies trägt zur kollektiven sinnlichen Ekstase bei. Sie ist erwünscht; ohne sie würde das Fest nicht
den Erwartungen entsprechen und keine Befriedigung schaffen können.
Im Alltag marginalisierte und unterdrückte Personen können für diese
Zeit zu Königinnen und Königen werden, im Zentrum aller Aufmerksamkeit
stehen, bedingt durch ihre erlernte und lang eingeübte Kunstfertigkeit im Metier der Schwarzen: Tanz und Musik, Beherrschung des Körpers, perfekt und
kreativ ausgedrückt. Danach müssen sie oftmals ein Jahr von diesem kurzen
Erfolg zehren.
Die langfristigen Proben zum Karneval in einer Gruppe Gleichgesinnter,
welche die kreativen Künste und die damit verbundene Kultur anerkennen,
wirkt identitätsstiftend. Tanz und Musik waren wichtige Elemente des schwarzen Widerstands in der Geschichte Bahias und sind es im heutigen, meist passiven Widerstand, geblieben.
Der ursprüngliche, in Rio de Janeiro beheimatete Karnevalstanz ist der
samba. Samba wird von jung und alt, zusammen und alleine, in kleinen, großen Gruppen und als Paar getanzt.452 Samba wird im Mutterleib, später dann
in der Wiege und auf dem Schoß der Mutter gelernt. Samba wird bei allen nur
denkbaren Festen, an allen möglichen Orten getanzt. Als verbindendes Element der verschiedenen miteinander kommunizierenden Personen und Wesen
hat samba Grenzen überwindende Wirkungen. Er wird beim candomblé und
bei den unterschiedlichsten Zusammenkünften, Festen, Feierlichkeiten und
anderen Angelegenheiten im Zusammenspiel mit den verschiedensten Instrumenten wie Trommel, Pandeiro und Viola getanzt. Mit samba wird aus jedem
Tanz ein Fest. Samba soll als Aphrodisiakum wirken.453
Samba kam mit den Sklaven aus Afrika, hat also seinen Ursprung in der
afrikanischen Kultur.454 Abends in ihren Sklavenquartieren begannen die
Schwarzen Kreise zu bilden, zu singen, zu trommeln und samba zu tanzen. Die
Weißen empfanden den Tanz damals schon als erotisch, und das Klischee der
tanzenden sinnlichen Mulattin fand dort seinen Ursprung. Samba entstand in
der marginalen Kultur und eroberte im Laufe der Zeit die Salons der reichen
Weißen, wurde gesellschaftsfähig und anerkannt und breitete sich nicht nur in
Brasilien aus. Trotzdem geht mit ihm immer noch etwas Anrüchiges, da Sexuelles einher, er wird dem männlichen Bereich der Straße zugeordnet, was beinhaltet, daß die angepaßte und kontrollierte Frau zu Hause ihn nicht, bzw.
nur mit ihrem Mann tanzen soll.
452
Über den nicht mehr zu klärenden afrikanischen Ursprung des Wortes gibt es verschiedene
Deutungsversuche. Es ist anzunehmen, daß er als erstes in Bahia getanzt wurde, bevor er nach
Rio de Janeiro kam. Vgl. Pinto 1991:106-111).
453
Vgl. Parker (1991:151).
454
Siehe Jahn:1986.
243
Mit den Füßen gibt man beim samba den schnellen Rhythmus, das Becken bewegt sich in lasziven, sexuell anmutenden Bewegungen, und Brustkorb
und Arme schwingen dabei mit. Der Körper ist dabei völlig entspannt, und das
Gesicht lächelt. Die tanzende Person soll graziös und charmant aussehen. Der
ganze Körper ist dabei in Bewegung und vibriert rhythmisch und harmonisch.455 In Salvador und Bahia, Brasiliens Afrika, ist Tanz weit mehr als samba, er beinhaltet unzählige Varianten afro-brasilianischer Tanzformen, die
ständig abgeändert und neu gestaltet und entwickelt werden.
Elemente aus anderen Tanzkulturen werden neu integriert, und jeder
Karnevalsbloco entwickelt zu jedem Karneval neue Kreationen. Seit einigen
Jahren ist der samba-reggae (axé-Musik) in Mode, eine Kombination aus samba
und dem jamaikanischen Reggae im Grundschritt, dem ebenfalls unzählige
Ausdrucksvarianten beigefügt werden. Charakteristisch ist bei diesem Tanz,
daß sich, wie bei vielen traditionellen afrikanischen Tänzen, Reihen von Personen gegenüber stehen und synchron Tanzbewegungen ausführen, wobei sie
sich dabei nicht oder höchstens nur ganz kurz und beabsichtigt bei einer bestimmten Sequenz berühren.
Alle Tanzsegmente haben dabei eine bestimmte Bedeutung, die dem
Betrachter ohne kulturelle Kenntnisse nicht klar sind. Es kann z.B. die Sonne
umarmt werden oder Kraft aus der Erde geschöpft werden, und oft handelt es
sich dabei um getanzte Gebete. Die brasilianischen Elemente, die sich mit den
afrikanischen verbunden haben, haben ihren Ursprung in den brasilianischen
orixá-Tänzen. Manchmal werden ganze Segmente eines bestimmten orixáTanzes getanzt, bei anderen Tänzen sind es nur einzelne Körperhaltungen und
Gesten, die mit den orixás im Zusammenhang stehen.
Tänze verschaffen dem Menschen Zugang zum Heiligen (nach Weidig
1984), die tänzerische Ekstase im candomblé fungiert als Gebet. Bei manchen der baianischen Tänze und Lieder scheint es sich um Gebete der Massen
an das Leben, ihre Schöpfer und an die körperlich-sinnliche Lebenskraft zu
handeln, die im profanen Rahmen auf der Straße ekstatisch und gemeinschaftlich vollzogen werden. Mit der tänzerischen Darstellungsform im Karneval
werden religiöse Inhalte der afro-brasilianischen Kultur gelebt und bekommen
einen ständig neuen Ausdruck, die mit dem Trend der jeweiligen Zeit lebendig
erhalten werden und wandelbar sind. Sie werden beständig kreativ umgesetzt
und erneuert.
456
Religiöse Betätigung ist nicht ausschließlich an heilige Orte wie candomblé-terreiros und Kulttempel geknüpft und ebenfalls nicht unbedingt mit
reiner, ausschließlich religiöser Hingabe verbunden, wie wir es z. B. aus der
katholischen Kirche kennen. Somit ist der baianischen Karneval ebenfalls als
455
Ausführliche Beschreibung und verschiedene Variationen des getanzten samba sowie deren
choreographische Beschreibung siehe Pinto (1991: 149-159).
456
Vgl. Koch (1995:11), zitiert Weidig 1984, die weitere Beispiele von verschiedenen Ethnien
anführt, bei denen diese Funktion des Tanzes ersichtlich sind.
244
eine Darstellungsform von alltäglicher und vielseitiger Volksreligiösität zu betrachten. Auch dies erschließt sich dem Auge des Touristen nicht von selbst.
Tanz ist eine kulturanthropologische Konstante, welche die Menschheit
in ihrer gesamten Geschichte begleitet und bei der Ausbildung von Ordnungen,
wie Menschen miteinander umgehen, und Ritualen eine zentrale Rolle
spielt.457 Für den rituellen Umgang der Geschlechter sowie für erotische Reglementierungen, Ästhetisierungen, Sublimierungsleistungen u.v.a. kann Tanz
und Köperausdruck als Symbol gelten und wird von Mitgliedern der Gemeinschaft als solches ebenfalls verstanden. Oder mit den Worten von Mary Douglas (1974:99):
„Der Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper
als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der
(durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsordnung manifest. Zwischen dem sozialen
und dem physischen Körpererlebnis findet ein ständiger Austausch von Bedeutungsinhalten statt, bei dem sich die Kategorien beider wechselseitig stärken. Infolge dieser beständigen Interaktion ist der Körper ein hochgradig
restringiertes Ausdrucksmedium.“
Der Körper präsentiert gesellschaftliche Symbole, und dies gilt gleichermaßen für den Tanz. In der normativen, ästhetischen und symbolischen
Bedeutung reflektiert das Tanzverhalten gesellschaftliche Strukturen. Eine
Veränderung der Gesellschaft bringt ebenso eine Veränderung der Tänze und
Tanzgewohnheiten mit sich. Der Körper ist grundsätzlich die Ausgangsbasis
jeglicher Kommunikation.458
Tanz ist Symbolsprache und mit Ritualen unmittelbar verknüpft und
somit kaum getrennt zu diskutieren. In Ritualen wird die Kommunikation von
mehreren Menschen gemeinschaftlich sowohl ausgeführt als auch reglementiert. Damit und durch ihre ständigen Wiederholungen werden Ordnungen erschaffen, die verbindend für die Mitglieder einer Gemeinschaft sind. Ihre Inhalte betreffen die Kommunikation untereinander sowie die Kommunikation
zwischen Menschen und den jeweiligen Gottheiten, an welche sie glauben. Im
Ritual werden Verhaltensweisen zu festgelegten, verbindlichen Mustern für
die jeweiligen Teilnehmer. Die kollektiven Rituale tragen zur psychischen Stabilisierung bei, und dies gilt bei religiösen Ritualen ebenso wie bei profanen
Ritualen.459
457
Vgl. Koch (1995), die Entwicklungen und Symboliken des Tanzes an Hand von Beispielen
in europäischer Gesellschaft durch die Geschichte betrachtet und hier ebenfalls erotischekstatische sowie religiös-ekstatische Momente und Inhalte als ausschlaggebende Faktoren,
die mit den Funktionen des Tanzes einhergehen, analysiert.
458
Vgl. Koch (1955:16-37). Tanz wird von ihr u.a. als symbolische Transformation von Erfahrungen gesehen, was in allen Gesellschaften eine große Rolle gespielt hat und heute noch
spielt und eine der Grundformen von menschlicher Kommunikation darstellen soll.
459
Beim candomblé z.B. werden Ängste und Entscheidungsunsicherheiten erfolgreich eingedämmt, und Personen mit Problemen können Lösungshilfen erhalten. Wie in diesem Zusammenhang beschrieben, wirkt die gemeinschaftliche Kommunikation, das kollektive Erleben
heilend und besänftigend auf den einzelnen, der sich nicht mehr allein fühlt und somit z.B.
seine Marginalität leichter ertragen kann. Das gleiche gilt für die gemeinschaftlichen im Kar-
245
Die tänzerisch ritualisierten Bewegungen koordinieren Raum und Zeit.
Sie werden ihrer Beliebigkeit enthoben, formalisiert und ständig wiederholt.
Ihnen werden verschiedene, meist allgemein verständliche Symbole zugeordnet, symbolische Bedeutung wird geschaffen. Zeit wird durch den dem Tanz
zugefügten Rhythmus definierbar.460 Ungerichtetete Kreativität, Chaos und
Gesetzlosigkeit bekommen durch Tanz und Rhythmus Form und Struktur und
werden erklärbar und somit handhabbar.
Baianischer Karneval wäre ohne Tanz, Rhythmus, Trommeln und Musik
undenkbar. Für die Mitglieder der Gesellschaft wie für die außenstehenden
Touristen wird der Tanz primär als erotisch-sinnlicher Ausdruck von Lebensfreude erlebt und beschrieben. Andere symbolische Inhalte wie Ausleben von
Aggressionen, Gewalt, verschiedene Formen der kollektiven Kommunikation,
Massenemotionen, Ekstase sowie das Ausleben religiöser Gefühle sind unmittelbar mit diesen körperlichen Ausdrucksweisen des Tanzes verbunden, werden als solche aber nicht unbedingt bewußt erlebt. Das gleiche gilt für Tanz
als Protest, was vorwiegend in verschiedenen Ausdrucksarten bei Jugendgruppen zu beobachten ist wie z.B. beim Reggae.
Aus Jamaika wurde der Reggae importiert, der von Peter Tosh (1981)
als „spirituelle“ Musik definiert wurde. Peter Tosh sendete in seinen Liedtexten Botschaften ähnlich denen von religiösen Gurus aus. Reggae soll hypnotisieren, ekstatisch wirken und in andere Bewußtseinszustände führen. Die Kraft
der Musik soll für mystisches Exerzieren, Meditation und Anbetung genutzt
werden. Visionäre Kommunikation der Jugendlichen wurde beim Reggae zur
Rassenideologie, dem Rastafarianismus.
In Salvador schloß sich seit den 80er Jahren eine Gruppe Jugendlicher
zusammen, deren Gemeinschaft politische Inhalte hat. Außer Reggae zu hören
und Marihuana zu rauchen, unterscheiden sie sich äußerlich in ihrer Aufmachung, Kleidung und Rasta-Locken. Sie verbreiten Anti-Rassismus-Ideologien,
wie es ebenfalls seit dem letzten Jahrhundert in Jamaika üblich ist.
Diese politisch-religiöse Bewegung interpretiert die Bibel ethnisch, wobei Äthiopien das Land sei, das ihnen versprochen sei. Sie bilden bis heute
eine Subkultur in Salvador, mit der Basis eines gemeinsamen Lebensstils, wobei sich der Reggae immer mehr verbreitete und Eingang in die Karnevalsmusik, den heutigen samba reggae fand. Reggae wurde für viele eine Informationsquelle über schwarze Kultur. Die Reggaeinterpreten zelebrieren das
Schwarzsein, und der Reggae dient als Identifikationsmodell.
Beim salvadorianischen Rastafarismus fällt seine Nähe zum Pentecostaisglauben auf. Die bedeutsame Taufe mit Wasser, Abwendung von mateneval erlebten Tanzrituale. Das Gefühl der Miteinander-Verbundenseins, die gemeinschaftlich
erlebten Emotionen reißen heraus aus der sonst im Alltag oftmals empfundenen Isoliertheit
des Individuums in seinem alleinigen Kampf, das Leben zu bewältigen.
460
Koch (1995:21-22) beschreibt den psychologischen Halteeffekt, den der Rhythmus enthält.
Das tanzende Individuum darf sich ungebremst gehen lassen und wird durch die Strukturgebung durch den Rhythmus trotzdem nicht der Grenzenlosigkeit überlassen.
246
riellen Werten, Gründung einer Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern
sowie Interpretationen der Bibel theoretischer Art. Die Gleichheit von allen,
gleichberechtigte Verhältnisse und Gründungen von Wahlverwandtschaften
werden in den Reggae-Texten gefordert. Bei den Rastafaris wird die Lösung
der gesellschaftlichen Probleme jedoch nicht in der Kirche, sondern in der
Praxis und im Glauben gesucht.461
In Jamaika wurde der Reggae, die Musik vom Volk, welcher die Misere
transformieren soll, zur nationalen Hymne. Er wurde mit dem Tourismus
kommerzialisiert, und dieser Vorgang wiederholt sich nun ebenfalls in Salvador, ein Jahrzehnt später. Reggae wird nun ebenfalls von weißen Jugendlichen
konsumiert, welche aber die Schwarzen diskriminieren und mit den Inhalten
der Texte und der Ideologie absolut nichts zu tun haben.
4.12.1 Gesänge für die Seele
Die zu den Melodien gesungenen Texte haben unterschiedliche Inhalte, wobei
zwei Varianten dominieren: Die Hymne an die Liebe, sinnlich-erotische Freuden mit dem anderen Geschlecht bei Tänzen und Festen sowie Texte, die soziale Ungerechtigkeiten anprangern und vom Leid des alltäglichen Lebens und
Überlebenskampfes berichten. Im Zusammenhang mit beiden Textinhalten
werden oftmals ein, mehrere oder alle orixás verehrt.
Wie die Gesangstexte aller Kulturen, haben auch sie kulturspezifischen
Gehalt und sind Bestandteil der oralen Tradition und werden von Generation
zu Generation weitergegeben und modifiziert. Mit Liedtexten werden historische Gegebenheiten festgehalten, Mythen und Legenden und religiöse Glaubensinhalte tradiert. Gegenwartsbezogene Begebenheiten und darauf bezogene Kritik sowie verschiedene Emotionen werden damit ebenfalls ausgedrückt
und mitgeteilt.
Pinto (1991:143-149) beschreibt den Humor, Spott und Witz, der in
samba-Texten zum Ausdruck kommt, welcher der afro-brasilianischen Kultur
eigen ist und oft mit obszönen Inhalten und Wortspielereien verknüpft wird.
Samba-Texte werden auch abwertend, wie alle Elemente der afrobrasilianischen Kultur, als „folkloristische Texte“ bezeichnet und bewertet,
als Ausdruck einer „spontanen Kultur“ ohne Tiefe.
Die ersten schwarzen Karnevalslieder und Texte stehen eng mit dem
afoxé (Candomblé da rua) in Zusammenhang, haben primär religiösen Charakter und ähneln den candomblé- Liedern,462 was sowohl Rhythmus, Tanz als
auch Textinhalte betrifft. Der Rhythmus dabei signifiziert immer einen der
orixás. Die Mitglieder eines blocos fühlen sich oft speziell mit einem orixá besonders verbunden, und das terreiro, an das sie angelehnt sind, ist einem spe-
461
Vgl.: Gomes da Cunha (1993:120-137).
Vgl. und weitere Ausführungen und Beispiele zu Musik, Liedtexten und candomblé Lühning
(1990).
462
247
ziellen orixá verbunden. Die Texte werden teilweise in Yoruba gesungen, wie
aus dem rituellen Kontext im candomblé- terreiro hervorgeht.
Seit 1974, seit der Gründung von Ilê Aiyê, sind politische und soziale
Textinhalte mit gesellschaftskritischen Komponenten sowie Texte zu den afrikanischen Wurzeln, welche für die Schwarzen Identität schaffend sind, stark
vertreten. Andere Texte betonen die Schönheit der Schwarzen, als Antwort
der von den Weißen aufgestellten Diskriminierung, welche mit „boa aparençia“ für die weiße Rasse ausgedrückt wird. Die Kultur, welche sich sowohl
durch die Texte als auch die Musik ausdrückt, ist im stetigen Wandel begriffen, keinesfalls statisch und greift ständig neue Elemente auf, auch wenn ein
hoher Anteil an Traditionsbewußtsein besteht.
Kontakt zu Afrika und kulturellen Elementen der dortigen Ethnien werden von den Afro-Brasilianern erwünscht und angestrebt und stellen einen
wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Bereich der Inspirationsquelle dar. Die
neueren Vermischungen mit Reggae, karibischem Merengue, nordamerikanischem Soul und Gospel sind in dieser Art zu deuten. Es bestehen heute, bedingt durch leichtere Reisebedingungen, wesentlich mehr Kontakte, Berührungspunkte und Austausch zur Karibik und den Vereinigten Staaten und der
dortigen schwarzen Musik als zu den verschiedenen Ländern Afrikas.
Bei den verschiedenen Textinhalten ist es oft schwierig, die gesamte
Bedeutung und den tieferen Sinn zu erfassen. Auch wenn die einzelnen Worte
und Sätze verständlich sind, enthalten sie oftmals Anspielungen auf Gegebenheiten, welche nur für eine Gruppe von oft wenigen Personen im gesamten
Sinn erfaßt werden können. Dies ist für die brasilianischen Zuhörer kein Problem, es handelt sich für sie dann einfach um Wortspiele, deren Sinn nicht verständlich ist, aber trotzdem Spaß macht.
Im Interesse der politischen Machthaber wird versucht, die Anzahl der
gesellschaftskritischen Texte gering zu halten, und blocos, welche vorwiegend
die Liebeshymnenvariation pflegen, werden weit mehr gesponsort, während
die blocos mit politischen Liedinhalten sanktioniert werden, soweit dies im
Rahmen der Möglichkeiten der Präfektur von Salvador steht.463
Reggae aus Jamaika mit seiner Tradition der gesellschaftskritischen und
antirassistischen Texten gehört momentan zur Jugendbewegung. Inzwischen
wird er auch von weißen Jugendlichen verehrt, die nun ebenfalls mit Bob Marley-Emblemen auf ihren T-Shirts herumlaufen, dessen Lieder singen, aber
nicht im Entferntesten etwas mit gesellschaftsverändernden Strömungen zu
tun haben. Viele der Individualtouristen aus den reicheren Ländern konsumieren und lieben Reggaemusik in Verbindung mit der baianischen Sonne und Urlaubsgelassenheit.
463
Vgl.: Gomes da Cunha (1993), der diverse Beispiele der Kontrolle der Medien über Textinhalte des blocos anführt.
248
Grundsätzlich sind die 90er Jahre, wie schon erwähnt, durch die AxéMusik geprägt, was den größten Kontrastpunkt zur Karnevalsmusik aus Rio de
Janeiro bildet. Techno ist bei den Teenagern aus Salvador in Mode gekommen
sowie neuerdings Rapmusik, die mit gesellschaftskritischen Texten verknüpft
wird, bedingt durch die Orientierung und Anlehnung an die Vereinigten Staaten. Dies gilt für die Jugendlichen aller brasilianischen Großstädte.
Im großen und ganzen wird zu Karneval vorwiegend von weißen Gesellschaftsschichten die Kategorie sinnlicher Liebeslieder mit spöttischen und ironischen Elementen mit Textinhalten, welche an deutsche Schlager erinnern,
bevorzugt gehört. Die Karnevalsorganisatoren üben Einfluß auf die Auswahl
der Lieder aus. Kritische Texte, oftmals ebenfalls eingebettet in anspruchsvollere musikalische Kreationen, werden seltener gespielt, auch wenn sie die
schöneren und anspruchsvolleren sein sollten.
Die Jury entscheidet beim Karneval, welche Lieder am schönsten sind,
und trifft ganz klare Entscheidungen zu Gunsten der romantischen und humorvollen Schlager, die gesponsort werden. Viele Schwarzen schätzen die gesellschaftskritischeren Variationen, welche mit ihrer eigenen Identität zu tun haben mehr. Touristen mögen verständlicherweise vorwiegend die Lieder, deren
Melodien am eingängigsten sind.
4.13
Capoeira: Kampf und Tanz
„Capoeira haben wir aus Afrika mitgebracht. Unsere Vorfahren, die von den
weißen Portugiesen wie Vieh behandelt wurden und versklavt, unterdrückt,
geschändet, ausgebeutet, erschlagen und ermordet wurden, haben sich, schlau
wie sie waren, damit eine Waffe erschaffen, welche listiger und intelligenter
als die Waffen der Weißen waren.
Natürlich war es verboten, eine Kampftechnik zu erlernen und auszuüben.
Aber das Tanzen haben sie uns nicht verboten. Während den Arbeitspausen
und abends, wann immer die Sklaven die Zeit dazu fanden, bildeten sie Kreise, in denen sie tanzten. Die draußen im Kreis klatschten in die Hände und
sangen Lieder, und im Kreis tanzten zwei Personen miteinander. Erst sambade-roda und den wiegenden Grundschritt ginga und wenn kein Weißer in der
Nähe war und die Hände den Rhythmus schneller machten, Capoeira.
Capoeira wurde, wie es heute auch sein soll, rhythmisch mit tänzerischen Bewegungen gekämpft. Der eine greift an, und der andere wehrt ab. Dabei wurden viele Bewegungen auf dem Boden oder in Bodennähe ausgeführt, wie
man es aus der capoeira angola kennt. Der Weiße war kein beweglicher
Mann, hat ja auch kaum gearbeitet und stand immer mit der Waffe, dem Gewehr in der Hand in Brusthöhe herum. Da ist es natürlich einfach, ihm von unten einen rasteira (bras.: Bein weg ziehen) zu geben. Und bevor er sich versah, lag er auf dem Arsch. Da hilft ihm das Gewehr auch nichts mehr. Alle
Schläge werden mit den Beinen ausgeführt, die Beine sind unsere Waffe.
Oder du trittst ihm in die Eier. Er schaut gerade aus nach vorn in Höhe seines
Gewehres, du bist ganz schnell auf dem Boden auf den Armen und holst mit
einem Bein gezielt, kräftig und schnell aus. Was macht er dann mit seinem
Gewehr? Er muß sich die gequetschten Eier festhalten. Du kannst ihm zudem
sein Gewehr noch abnehmen. Und husch, bist du weg, ehe er sich versieht.
Oder du haust ihm noch schnell eins mit dem anderen Bein in die Fresse.
Vielleicht haben sie sich von den Tieren inspirieren lassen. Vielleicht von
kämpfenden Käfern, Insekten und Skorpionen. Mit den Techniken der capoeira kannst du allem ausweichen, und zwar ganz schnell. Du wirst geschmeidig
249
wie eine Schlange, schnell wie eine Gazelle, und wenn du die richtige List
(malícia) gelernt hast, bist du unschlagbar. Im Dschungel bist du sofort weg
und in Sicherheit. Die Weißen, mit ihrer Kleidung, ihren Waffen, ihrer Behäbigkeit und ihrem dickem Bauch, weil wir für sie gearbeitet haben, konnten
sich im Wald nicht bewegen. Sie hatten ihre Umgebung nie wahrgenommen
und wurden nie damit vertraut. Sie meinten einfach, ihre Gewehre seien allmächtig gegen unsere bloßen Körper. Sie hielten uns für dumme Affen. Mit
unserer List und Tücke haben sie nicht gerechnet.
Du schärfst deine Wahrnehmung und lernst auf die kleinste Bewegung richtig
zu reagieren. Dabei verlierst du jede Angst, denn du merkst, daß du gut bist,
daß jeder deiner Muskeln gut ist und dir gehört und dir gehorcht. Wenn du
dann noch weg willst und täglich mehr Haß bekommst auf deinen Sklaventreiber, ihn beobachtest und merkst, wie dumm er ist, verliert du jede Furcht
vor ihm und seiner albernen „Feuerwaffe“. In der Zeit, in der er auf dich zielt,
bist du längst wo ganz anders, als er es vermutet.
Du hast wieder gelernt, deine Arme zu benutzen, auf allen Vieren zu gehen
und Dich zu bewegen wie deine Vorfahren, die Affen. Du mußt deinen ganzen
Körper benutzen, dabei lernst du ihm zu vertrauen. Damit haben die Weißen
nicht gerechnet. Wir waren ihnen überlegen, und wir waren viele.
Sie dachten, wir tanzen, üben irgendwelche afrikanischen Negerbräuche aus.
Wenn einer in die Nähe kam, gab einer von uns, der alles beobachtete, ein
Zeichen, und wir haben den Rhythmus verlangsamt und haben dann wieder
einfach nur getanzt. Da konnten sie zuschauen, das war überhaupt nicht verdächtig. Gingen die Weißen weg, haben wir den Rhythmus beschleunigt und
wieder kämpfen geübt. Und so war das immer.
Wenn sie einen doch erwischten, dachten sie, wir hätten aufeinander eine Wut
gehabt, und haben uns das gegenseitige Schlagen verboten.
Capoeira hat eine lange Tradition und feste Regeln. Wir wollen uns nicht gegenseitig verletzen, wie es viele tun, die es als Sport ansehen und nur Aggressionen loswerden wollen. All die Angeber, die Schwächlinge, die so tun, als
wenn sie stark wären. Sie haben keinen Charakter. Wir haben unsere Ethik im
Kampf. Es geht nicht darum, wer den anderen zusammenschlägt, sondern wer
geschickt und listig ist. Das ist Charakterschulung.
Wer eben nicht zuschlägt, ist der Bessere. Der, der gut ausweichen kann und
seinen Gegner schont, der ist gut. Zu zeigen, daß du es wirklich kannst, aber
es nicht tust, daß du es nicht nötig hast. Mit einem Zentimeter gehst du mit
deinem Schlag an ihm vorbei, da weiß er genau, daß du hättest treffen können,
wenn du gewollt hättest. Das ist Kunst. Zuschlagen kann jeder. Aber andeuten, daß du treffen könntest und es trotzdem nicht zu tun, das ist capoeira, das
ist die richtige capoeira, wie es unsere großen Meister gekonnt und gelehrt
haben.
Dazu mußt du den Charakter deines Schülers formen. Die meisten heute
kommen, um zu lernen, ein starker Mann zu sein, schlagen, prügeln, Muskelprotz sein. Dabei sind sie so dumm, Affen. Du mußt geduldig wie mit Kindern
mit ihnen sein und ihnen immer wieder erklären, um was es geht. Sie müssen
das alles überwinden lernen, und viele wollen das eben gar nicht. Sie werden
nie richtige capoeiristas werden. Aber leider denken deshalb viele, die so was
zu sehen bekommen, capoeira wäre brutaler Kampf.“
(Mestre B., Salvador)
Der etymologische Ursprung von capoeira liegt im Dunkeln. Es ist bekannt, daß capoeira von den Sklaven als erstes im Recôncavo, auf den Zucker-
250
rohrplantagen gespielt wurde, und ist seither in ganz Brasilien als Kampftanz
der Afro-Brasilianer bekannt.464
Mit den Worten von Onori (1988:9) wird capoeira für Europäer deutlich
umschrieben:
„Capoeira verbindet so Gegensätzliches wie Kampf und Tanz, Gewalt und
Ästhetik, Spiel und tödlichen Ernst, Ritual und Spontaneität, choreographische
Strenge und Bewegungsimprovisation, Magie und Realitätssinn, Körperschulung und Lebensphilosophie.“
Capoeira ist ein Element afro-brasilianischer Kultur, welches Widerstand der Schwarzen gegen die Repressionen der Weißen ausdrückt. Dies bezieht sich auf alle Formen der Ausübung. Seit den 30er Jahren wurde capoeira
in Akademien institutionalisiert, und es wurde versucht, daß er als nationaler
Sport Anerkennung gewinnt. Seit den 60er Jahren ist capoeira von der brasilianischen Gesellschaft „anerkannt“ und wird sogar von den Forças Armadas
(Militär) akzeptiert.
Capoeira hat sich im Laufe der Jahre modifiziert. Zwei Hauptströmungen, die seit den 30er Jahren zu unterscheiden sind, sind capoeira angola von
Mestre Pastinha, das traditionelle, mehr zum Boden hin orientiert, und das
capoeira regional von Mestre Bimba, welchem mehr akrobatische Elemente
beigefügt wurden und bei dem Positionen in aufrechter Haltung zu einem oftmals schnelleren Rhythmus als beim capoeira angola dominieren.465
Capoeira kann heute nicht mehr einheitlich als die zwei Stilgruppen angola und regional angesehen werden. Seit den 80er Jahren, die ausschlaggebend für die Bildung von schwarzem Bewußtsein waren, hat es sein Image
verwandeln können und ist für eine nun größere Gruppe von capoeiristas zur
Schaffung von schwarzer Identität wichtig geworden. Heute, mit stetig anwachsendem Tourismus, entstehen beständig neue Kreationen und Formationen. Im capoeira regional kann man nun außer akrobatischen Elementen ebenfalls Spuren aus anderen Kampfsportarten entdecken wie aus dem Kickboxen, Karate u.a.
Salvador hat zudem eine weitere Form des capoeira zu bieten, das capoeira da rua, organisiertes capoeira mit einer besonderen Gruppendynamik,
dargeboten auf der Straße und am mercado modelo, dem ehemaligen Sklavenmarkt, heute touristischem Zentrum für baianische Souvenirs. Es wird von
den Akademien sowie der Bevölkerung nicht geachtet, die teilnehmenden Personen haben den Ruf, Kriminelle, Schläger und Asoziale zu sein. Sie haben sich
mit ihrer capoeira-Darbietungen für Touristen einen Überlebensraum geschaf-
464
Vgl. Pinto (1991:42-48), der die Ansicht vertritt, die Bezeichnung Kampftanz sei nicht korrekt, da für capoeira schon immer das Wort jogo (Spiel) benutzt wird. Allerdings umschreibt
die Bezeichnung Kampftanz zwei der hauptsächlichen Elemente, welche das capoeira-Spiel
ausmachen, zu denen sich Lieder, Rhythmus, das Spielen von Musikinstrumenten, Gesang
und Klatschen gesellen.
465
Die umfassendste sozio-ethnographische Beschreibung zum ursprünglichen Capoeira angola
wurde von Rego 1968 erstellt.
251
fen und erhalten von den Touristen wenigstens Anerkennung in Form von
Kleingeld.
Capoeira da rua wird am Strand, in Parks, in den Stadtzentren und im
subúrbio, in allen öffentlichen Räumen zu verschiedenen Gelegenheiten gespielt. Vor den Kirchen, die von Touristen besucht werden, ebenso wie in verschiedenen Luxus- Hotels und Restaurants bieten unterschiedliche Gruppierungen folkloristische Darbietungen dar, bei denen vor allem akrobatische und
kämpferische Elemente, die Geschicklichkeit und Sportlichkeit demonstrieren,
hervorgehoben werden.
Seit einiger Zeit organisieren sich viele Jugendliche der schwarzen Unterschicht nun in Akademien, Vereinigungen und Vereinen sowohl in Brasilien
als auch im Ausland. Somit wurde ein Rahmen der Professionalisierung geschaffen. Manche dieser Gruppen schlossen sich politischen Organisationen an
und erweiterten ihren Überlebensraum so auf verschiedenen Ebenen.
Heute begleitet capoeira die modernen Veränderungen der Gesellschaft
in der Form, daß es mit Symbolen der Ethnizität operiert, für seine Mitglieder
einen ihnen entsprechenden „schwarzen Raum“ (espaço negro) schafft, in
dem die Werte der eigenen schwarzer Kultur als wahre Werte empfunden
werden können und negative weiße Wertungen nicht mehr ins Gewicht fallen.
Verschiedene Modelle von ethnischen Gruppen mit verschiedenen Organisationsformen bestehen nun, die ebenfalls verschiedene politische Belange für
sich in den Vordergrund stellen.
Capoeira in Salvador sowie im Rest der Welt kann nicht als homogener
Ausdruck baianischer Kultur interpretiert werden und manifestiert sich politisch und ideologisch unterschiedlich. Mit dem Export von capoeira entstanden
in der „ersten Welt“ viele kleine Inseln baianischer Kultur, wo sich die dort
lebenden Brasilianer vereinigen können. Die meisten der teilnehmenden westlichen Schüler haben nur eine geringe Ahnung von dem kulturellen Inhalt dessen, was sie lernen.
„In Wirklichkeit ist es eine Schande, wie sich capoeira ausgebreitet hat. Es
war einmal eine schöne blonde, blauäugige Touristin, eben exotisch, aus der
„ersten Welt“, die sich in einen capoeirista verliebte und ihn nach Nordamerika (Europa?) mitnahm. Und wie sollte er dort überleben? Nun, er war nicht
auf den Kopf gefallen und vermarktete das einzige, was er konnte: capoeira.
Er gründete eine Akademie und brachte den Westlern capoeira bei. Dem folgten bis heute viele, und es ist wirklich schrecklich, aber wahr, alle aus Liebesgründen oder um von hier wegzukommen. Dabei ist capoeira hochpolitisch.
Das sollte der wirkliche Grund sein, capoeira in der Welt zu verbreiten. Was
die alles unterrichten, weiß ich auch nicht, für mich hat vieles nichts mehr mit
capoeira zu tun. Schau’s dir an, Elemente vom Kickboxen, Kung Fu und was
weiß ich nicht alles. Dabei schlagen sie sich die Köpfe ein. .“
(Mestre B., Salvador)
252
Man kann, wie von Araújo (1994:31) vorgeschlagen, diese Sparte des
„marginalen“ Berufes466 zum nicht formellen ökonomischen Markt Brasiliens
zählen, wobei dazu die existierenden capoeira-Akademien in allen städtischen
Zentren gerechnet werden können. Damit wurde sozusagen ein Markt der
Symbole geschaffen. Dies kann mit den heute verwendeten Schlagwörtern
negritude und baianidade umschrieben werden und umfaßt auch andere damit
zusammenhängende „ethnische“ Berufe, wie den der acarajé-Verkäuferin auf
der Straße, religiöse Spezialisten wie mães-de-santo und pães-de-santo, Musiker und Tänzer.
All diese Ausübenden von marginalen Berufen versuchen sich einen gesellschaftlichen Status und eine gesellschaftliche Identität anzueignen und
dies mit der Schaffung einer, ihrer eigenen, ethnischen Identität zu verbinden. Vor allem in der Tourismusbranche ist dies gelungen, wie ebenfalls an
anderen Stellen beschrieben. Manche Schulen schufen sich einen speziellen
Arbeitsraum in den Bereichen Kultur, Erziehung und Folkloredarbietungen.
Alle korrespondieren mit verschiedenen Diskursen, welche ihnen erlauben,
ihren eigenen Raum besser im symbolischen Wettstreit auszubreiten und zu
vermarkten.
Alle Schulen der verschiedenen capoeira-Richtungen versuchen unterschiedliche Symbole zu vermarkten, jede Schule sucht für sich eine Marktlücke im Bereich des Marktes der Körperkultur und schönen Künste zu finden
und zu füllen. Dabei betont jede Gruppe für sich, die reine und pure Form der
capoeira auszuüben, und benutzt diese Bewertung, um sich besser als die anderen zu verkaufen bzw. sich selbst gegenüber den anderen aufzuwerten.
In diesen Bereich fallen ebenfalls die cordãos (Kordeln, bzw. Gürtel in
verschiedenen Farben), welche von den Meistern des capoeira regional an ihre
Schüler gegeben werden, wenn sie eine bestimmte Schulung erfolgreich absolbiert haben. Mit dem farbigen Gürtel wurde eine Hierarchie geschaffen,
welche die Fähigkeiten des einzelnen im Vergleich zu anderen innerhalb der
eigenen Gruppe als auch von fremden Gruppen deutlich hervorheben sollen.
Mit der Erreichung eines bestimmten Grades an Fertigkeit, welche dann an der
Farbe des Gürtels abzulesen ist, hat die betreffende Person bessere Möglichkeiten, sich zu vermarkten, und kann zudem einen höheren Status und damit
bedingt mehr Anerkennung innerhalb und außerhalb der Gruppe erlangen.
Für sie alle ist die Indústria de espetacúlo e do lazer (Freizeit- und Vergnügungsindustrie) zum einen eine hervorragende Möglichkeit, aus der Marginalität heraustreten zu können. Zum anderen finden sie politische Bestätigung
für die Jugend- und Kinderarbeit sowie Arbeit mit Straßenkindern, welche sie
leisten sowohl im In- als auch im Ausland. Dies schafft außer dem neuen Status neue finanzielle Horizonte sowohl Chancen, in anderen brasilianischen
466
Aráujo (1994) benutzt hier die Begriffe des „marginalen“ und des „ethnischen“ Berufes.
Diese Begriffe werden von den Sozialwissenschaftlern in Salvador den Berufen, die mit afrobrasilianischen Künsten und Kultur zu tun haben, zugeordnet. Die damit aufgestellten Kategorien sind m.E. so nicht stimmig und pauschalisierend.
253
Großstädten damit Arbeit zu finden, als auch in der finanzkräftigeren „ersten
Welt“ damit neue Vermarktungsmöglichkeiten zu kreieren. Damit hängt ebenfalls die Vermarktung von Capoeira-Musikinstrumenten als baianischem Souvenirartikel, die Veröffentlichung von Büchern, Schallplatten, CD´s, Photos und
anderem, was den capoeira-Bereich tangiert, zusammen.
In der Realität der brasilianischen Gesellschaftshierarchie hat sich der
niedrige soziale Status des capoeiristas jedoch unverändert gehalten. Kein
Vater der classe média oder alta würde seiner Tochter erlauben, einen erfolgreichen capoeirista zu heiraten, geschweige denn befreundet zu sein. Die finanziellen Möglichkeiten der sich vermarktenden capoeiristas sind nach wie
vor beschränkt und dürften kaum, abgesehen von ein paar Ausnahmen, über
Gehälter der classe baixa hinausragen.
Moralische und soziale Fähigkeiten werden nach wie vor von den höheren Schichten bei einem capoeirista als nicht vorhanden eingeschätzt. Seinem
alten Ruf, unkontrollierter Schläger, Dieb und Faulenzer zu sein, ist er noch
nicht entronnen. Er wird weiterhin als Feind der Gesellschaft und Schmarotzer
stigmatisiert. Innerhalb seines sozialen, ethnischen Umfelds sowie bei einigen
gesellschaftskritischen Intellektuellen werden seine beschriebenen Fähigkeiten heute mehr als früher anerkannt.
Capoeiristas, die im Ausland leben, berichten alle, daß sie nicht zurückgehen wollen, auch wenn sie Sehnsucht nach der Heimat und ihrem sozialen Umfeld haben, da sie keinerlei Anerkennung für ihre künstlerischen und
edukativen Fähigkeiten erhalten. Die Diskriminierung der capoeiristas innerhalb der baianischen Gesellschaft besteht uneingeschränkt im gleichen Maße
wie die Diskriminierung aller Schwarzen.
Eines hat sich jedoch deutlich verändert: Durch die neue Identitätsschaffung kann der capoeirista sich für sich selbst mit ganz anderem
Selbstbewußtsein empfinden und dies nach außen tragen. Dies gilt ebenso für
alle afro-brasilianischen Künstler Bahias, die sich einen neuen sozialen Status
erworben haben. Dies wird von den baianischen Weißen ungern gesehen. Sie
fühlen seine Statusveränderung als Bedrohung, da der Schwarze auf diese Art
und Weise ihnen näher rückt, identischer mit dem eigenen Verhalten wird und
somit von ihnen ihr Feindbild evtl. in Frage gestellt oder verändert werden
muß.
Capoeiristas wie viele Künstler in der Sport- Kultur- und Freizeitbranche, werden durch Touristen aufgewertet. Es besteht in Salvador ein spezieller capoeira-Tourismusmarkt mit Touristen aus vielen Ländern der ersten
Welt. Inzwischen, 1996, werden in Deutschland von einem Reisebüro schon
Pauschalreisen für capoeira-Kurse nach Salvador angeboten, einhergehend mit
tropikalischen Strandferien. Eine genauere Zahl derer, welche für capoeiraKurse nach Salvador reisen, war nicht zu ermitteln, jedoch trifft man seit
mehreren Jahren in allen zentral gelegenen Akademien in Salvador zur Sommerzeit ein paar von ihnen an.
254
Sie werden von den mestres gerne gesehen, da sie Einnahmen garantieren und der Statusaufwertung dienlich sind. Der Kontakt zum Ausländer aus
der „ersten Welt“ wird vom sozialen Umfeld wahrgenommen und in Verbindung zu finanziellen Einnahmen und zumindest kommerziellen Fähigkeiten des
capoeiristas gesetzt. Dies erwies sich ebenfalls als politisch verwertbar, durch
ihr bekundetes Interesse und ihre Anwesenheit konnte und kann erfolgreich
bei der Präfektur Salvadors um „ethnische“ Raumerhaltung in der Altstadt, im
Pelourinho, geworben werden.
Die alt eingesessenen capoeira-Schulen, meist mit traditionellem Hintergrund, konnten dadurch als historische Einrichtung, neben den neu errichteten Restaurants und Bars der Weißen, bestehen bleiben. Dies erschien der
Präfektur für dem Tourismus nützlich.
Sie sind in den Reiseführern der Stadt von Bahiatursa ebenso wie manche candomblé-terreiros und neu entstandene afro-brasilianischen Tanzschulen als kulturelle Sehenswürdigkeiten bzw. Freizeitaktivitäten erwähnt. Bleiben konnten in der Altstadt nur Afro-Brasilianer aus diesen ethnischen kulturellen Bereichen, welche sich einen neuen Status und neues Selbstbewußtsein
im Zuge der Bewegung der 80er Jahre (bras.: negritude e baianidade:
Schwarz-sein und baiano-sein) in den 90er Jahren aneignen konnten. Sie waren in der Lage, sich politisieren und ihre Rechte geltend zu machen. Die,
welche sich politisch äußern lernten oder/und kulturelle Fürsprecher wie z.B.
Caetano Veloso oder Gilberto Gil und andere Intellektuelle und Künstler aus
der brasilianischen Linken für sich gefunden hatten, haben für ihr (Bleibe-)
Recht gekämpft. Wer nicht nachweisen konnte, für den Tourismus von Bedeutung zu sein oder sich entsprechend vermarkten zu können, wurde aus dem
Pelourinho hinaus befördert.
Salvadors Altstadt hat sich gänzlich und nur im Zusammenhang mit dem
Tourismus und der damit zusammenhängenden Politik des ehemaligen Gouverneurs Antonio Magalheis verändert. In diesem Zusammenhang hat capoeira
wie alle der erwähnten afro-brasilianischen Künste einen neuen Markt im Bereich des Tourismus erobert. Sie bieten dem Touristen genau das, was sich
dieser wünscht: Exotik in jeder Preisklasse.
4.13.1 Solidarität mit den Unterdrückten
Touristen, die in Kontakt mit capoeira kommen, fühlen sich in erster Linie von
der Exotik der Personen, der Musik und des „Kampftanzes“ angezogen. Warum
sie sich ihm, für sie eine Bewegungs- oder Sportart unter vielen, anschließen,
kann damit im Zusammenhang stehen.
Sie betonen wie die werbenden capoeira-Lehrer die Einzigartigkeit der
capoeira gegenüber anderen Sportarten: daß sie den Rhythmus, die Musik und
das Stattfinden im Kreis innerhalb einer Gruppe als Bereicherung empfinden.
Der Körper wird dabei gut durchtrainiert, und die Person erlernt Selbstverteidigungselemente, die fürs Leben und stattfindende Auseinandersetzungen
wichtig sein können.
255
Einige der westlichen Schüler wie auch mestres der capoeira beschreiben therapeutische Fähigkeiten der capoeira, welche das Selbstbewußtsein
stärken und bewirken, daß sich die betreffende Person besser gegenüber anderen behaupten lernt und dies auch in alltäglichen Lebenssituationen, welche nichts mit körperlichem Kampf und Auseinandersetzungen zu tun haben,
sich positiv auswirkt. Standhaftigkeit, Durchsetzungsvermögen und Instinkt für
Gefahrensituation sowie Behendigkeit und Schnelligkeit sollen geschult werden, und dies ist meist eine harte Schule.
Wer sich freiwillig in seiner Ferienzeit einem militärisch anmutenden
Drill aussetzen möchte, ist in einigen der capoeira-Schulen in Salvador gut
aufgehoben und wird auf seine Kosten kommen. Wer bei tropischen Temperaturen zähneknirschend über den Fußboden robben möchte bis zum Zusammenbrechen oder kurz davor, weiß, wo er seine überschüssige Energie gelassen hat und hat dabei zudem das unschlagbare Abenteuererlebnis, in einer
Gruppe von modernen Wilden spielerisch gegen sie oder mit ihnen gekämpft
zu haben. Er verbindet sich mit den Abkömmlingen der ehemaligen Sklaven
und kämpft in seiner Phantasie gemeinsam mit ihnen gegen die Portugiesen
oder andere Unterdrücker.
Die Solidarität mit den Unterdrückten hebt sein FerienSelbstwertgefühl, schafft ein Gefühl von „edel und gut“, im Gegensatz zum
„bösen gringo“, dem Sohn bzw. Enkelsohn der ehemaligen Eroberer aus der
ersten Welt. Manch einer fühlt sich zu Hause in seinem europäischen Alltag
und erlebter Sozialisation ebenfalls unterdrückt von bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und Personen und erlebt mit den afro-brasilianischen
Marginalisierten dadurch eine emotionale Nähe, welche in ihm unbewußt Solidarität weckt.
Andere Motive, welche Touristen zu capoeira führen, sind die Suche
nach Angsterlebnissen und deren Bewältigung. Dieser postmoderne Abenteuergeist, ausgehend von der Basis eines absolut geregelten Lebens innerhalb
einer Überflußgesellschaft mit eher gezüchteten Wohlstandsgesellschaftsproblemen, beflügelt manch einen. Exotische Erlebnisse, bei welchen Angst erfahren und bewältigt wird, beleben die betreffende, im Alltag oftmals gelangweilte Person. In vielen Angsterlebnissen wird Ekstase gesucht und erlebt.
Die Beziehungen zwischen afro-brasilianischen mestres de capoeira und
westlichen Schülern entsprechen Dienstleistungsverhältnissen und erwartungen. Mit der Gruppe der capoeiristas der jeweiligen Akademie entstehen keine dauerhaften Beziehungen. Sie sind vielmehr häufig geprägt von
Neid und finanziellen und/oder amourösen Erwartungen der Einheimischen
gegenüber dem Fremden. Er wird oftmals als Eindringling erlebt, und seine
Solidarität, die Solidarität von einem völlig Ungleichen in Ferienstimmung,
wird angezweifelt.
Die mestres fordern ihre Gruppe auf, sich freundschaftlich im Umgang
mit den Fremden zu verhalten, von denen allein sie profitieren. Die Gruppe
erlebt die mestres oftmals besonders bemüht um die Fremden und fühlt sich
256
selbst zurückgesetzt. Die Anforderungen der mestres an die Gruppenmitglieder sind groß und die Schulung und geforderte Disziplin streng. Mit dem Touristen verfährt der mestre milder, und er muß sich den Reglementierungen
der Akademie nicht unterwerfen, solange er bezahlt.
Der Umgang der Gruppenmitglieder mit den Touristen ist unterschiedlich; manch einer hofft in die erste Welt mitgenommen zu werden wie andere
capoeiristas vor ihm oder hofft eine lukrative Sommerliebe zu ergattern. Andere verhalten sich eher abweisend und sondern sich von den westlichen Schülern ab. Manch einer zeigt spielerisch seine überlegene körperliche Geschicklichkeit und sein Können und nutzt sich bietende Gelegenheiten, dem fremden
Anfänger einen kleinen mehr oder weniger schmerzhaften Hieb zu versetzen.467
4.14
Reisen und Ekstase
Reisen kann für den Zuhausegebliebenen durchaus als suspektes Unterfangen
angesehen werden, da vielerlei außer-alltägliche Phantasien damit verknüpft
sind, in denen bedrohliche wie lustvolle Gefahren lauern. Sich die außeralltägliche, sakrale Zeit, die des Reisens, zum Alltag zu machen, kann negative Bewertungen, Neid oder übermäßige Bewunderung von den zu Hause Gebliebenen nach sich ziehen. Das Fremde realistisch einzuschätzen scheint
niemandem möglich zu sein.
In der Fremde lauert Unbekanntes, und Xenophobie ist ein verbreitetes
Phänomen, sowohl unter Reisenden als auch bei denen, die zu Hause weilen.468 Die aus den verschiedenen Medien stammenden Reise- und Abenteuerberichte, Fiktionen, produzierten Klischees, eigene Urlaubsberichte sowie Erinnerungen an jugendliche Mutproben und manche der gehörten Märchen und
Mythen tragen ebenso zur Phantasieerzeugung bei.469
Die modernen Reisemotive der Bewohner der westlichen, technischen
Welt, sei es Europa oder die Vereinigten Staaten, sofern die nötigen finanziellen Mittel vorhanden, scheinen ihre Individualität und Vielfältigkeit zu betonen.470 Sie entspringen den Traditionen und Werten vergangener Zeiten, ihren
Idealen, Idolen, Weltanschauungen und Wegweisern. Das Steigern von Prestige
des einzelnen in der Gemeinschaft durch die Erfahrung des Reisens scheint
467
Ich möchte bei all dem Besagten nicht negativ verallgemeinern, es gibt sowohl Einheimischen als auch Touristen, für die Beschriebenes nicht zutrifft. Die von allen Befragten zu allen
Punkten beschriebene Harmonie entpuppte sich jedoch bei genauerer Analyse als absoluten
Scheinharmonie. Ich habe hier die allgemein von allen Seiten verdrängten Positionen ausgesprochen.
468
Vgl.: Osterkamp (1996:85-198).
469
Siehe hierzu Menschenfresser, Bikinis und Frauenpos am Strand, Karneval und religiös ekstatische Ereignisse und Wunder.
470
Smiths (1977:2-3) Unterteilung der Touristen in fünf verschiedene Typen stellt eine Vereinfachung dar, mit deren Benutzung die Gesamtheit der Motive nicht erfaßt werden können.
257
durchgängig zu sein,471 das Undurchschaubare, Geheimnisvolle, Suspekte ebenfalls.
Es ist nicht erforderlich, daß der Reisende, wenn er seine Reise antritt,
sich das oder die Motive bewußt macht: Zur psychischen, physischen und geistigen Entspannung kann die Unbewußtheit hilfreich sein. Die Verdrängung
scheint so zu funktionieren, daß wahlweise verschiedene Motive in bestimmten Situationen von ihm geäußert werden. Je nachdem, was der Reisende
glaubt, welche Werte der ihn nach Motiven Fragende schätzt, ebenso wie seine beabsichtigte Selbstdarstellung, all das beeinflußt seine Aussagen.
Nicht nur Freud472 plagte sich damals mit diesen und ähnlichen Dingen,
Bewußtem und Unbewußtem; es ist ebenso Leid und Freud vieler Ethnologen
und auch von mir. Nichtsdestotrotz erscheint mir „das Unbehagen in der Kultur“ des Reisenden eines der wichtigsten, wenn auch nicht unbedingt geäußerten Motive der heutigen Reisenden nach Salvador da Bahia zu sein.
Reisen kann einen Bereich des Überschreitens des Normalen und Alltäglichen sein und ein Transzendieren darstellen, wie z.B. von den sibirischen
Schamanenreisen berichtet wird.
Dort sind diese Phänomene der Ekstase im Rahmen der Gesellschaft erwünscht und erfüllen verschiedene, der Gemeinschaft und dem darin integrierten Individuum nützliche Funktionen. Der Schamane begibt sich in Ekstase,
und die Gemeinschaft nimmt passiven Anteil daran.
Auch der Tourist reist und überschreitet seine alltägliche Welt. Gerät er
in ekstatische Zustände? Der ekstatische Erlebnisse suchende Tourist und seine
Gesellschaft können sich durch ähnliche Vorgänge eher voneinander entfernen. Die meisten der Motive, die in diesem Zusammenhang zum Tragen kommen, scheint sein Unbewußtes produziert zu haben, und/oder sie sollen unbewußt sein und bleiben.
Wie geschildert, gehören zur Gruppe der bewußten Reisemotive, die
befriedigt werden wollen, Entspannung, Sonne, Befriedigung von sinnlichen
Genüssen verschiedenster Art, Kennenlernen, Kultur, Sport, Neugierde, Abenteuerlust, religiöse Anliegen, u.a. Der Ort der Wahl muß heutzutage, bedingt
durch Last-Minute-Flüge, nicht mehr genauer in Betracht gezogen werden,
wenn er einiges des Erwünschten vorweisen kann, was sich am Beispiel Salvador dann auf Palmen, Strand und Sonne reduzieren läßt. Ebenfalls von Bedeutung ist die Faszination von Fremden, wie folgendes Zitat verdeutlicht:
„Der Deutsche als Beispiel, sucht nicht das sich Wiedererkennen im Brasilianer, er will nicht, daß beide gleich sind, dann hätte der Fremde seine ihm zugeordnete Faszination verloren. Das Exotische soll und muß exotisch bleiben,
sonst verliert er die Lust am Objekt „Brasilianer“.
(L., Brasilianerin, Soziologin, Berlin)
471
Siehe hierzu ebenfalls Graburn (1977: 23-26).
Freud 1930 in (1994:29-109). Interessant hierzu ist ebenfalls Erdheim (1990:9-31), welcher
der Frage der Sinngebung nachgeht, die zu einem Kulturwandel gehört.
472
258
Bei beiden Gruppen, Touristen und baianos, vermengen sich bewußte
und unbewußte Motive beständig. Die verschiedensten Wünsche und Hoffnungen mit individuellen Einfärbungen, aber auch Ängste und Befremdung sind
mit den Kontaktpartnern verknüpft. Beide Gruppen flüchten sich in Unbewußtheit und möchten meist ihre wahren Motiven für Kontaktaufnahmen verbergen. Ausnahmen bilden nur rein geschäftliche und reine Dienstleistungskontakte.
4.15
Candomblé und touristisches Spektakel
„Heute grenze ich mich ab, gegen die Welt der Weißen und deren Werte. Ich
habe meine schwarze Identität, meine orixás, meine candomblé-Gemeinschaft,
meine Wurzeln, Kultur, meine eigenen Werte. Tja, ich muß immer noch für
sie arbeiten, gegen ein Hungerlohn, aber wenn ich diesen Raum verlasse, gehe
ich in meine schwarze Welt, und jetzt bin ich stolz darauf und glücklich, mit
meinen Gleichgesinnten. Leider denken nicht viele Schwarze so. Wir müssen
noch viel arbeiten, damit sie kommen und erkennen, daß ihre Kultur schön ist
und daß ihre orixás gut sind. Viele wollen nicht schwarz sein und keine orixás
haben.“
(N, filha-de-santo und Mitglied des Movimento Negro, Salvador)
Das Movimento Negro (M.N.U.) stärkt die Identität der Schwarzen durch
die Revitalisierung der kulturellen Werte und Institutionen ihrer afrikanischen
Wurzeln. Der candomblé gewinnt seit den 70er Jahren durch das M.N.U an
Anerkennung. Bei verschiedenen mães und pães führt dies dazu, daß sie manche Rituale nach afrikanischem Vorbild umgestalten und das „back to the
roots“ anhand von Literatur und Diskussionen fördern. Sie wollen das reinste,
ursprünglichste candomblé praktizieren. Daß dieser Prozeß umstritten ist, versteht sich von selbst. Es ist zudem ein Beispiel, wie dem Zeitgeist unterworfene Neuerungen integriert werden. Die Konkurrenzen zwischen den einzelnen
terreiros und Linien des candomblés werden oftmals durch die Streitfrage bestimmt, wer das reinste, ursprünglichste candomblé vertritt.
Die früher unbewußt vollzogene Identitätsfindung und -stiftung der
Schwarzen im candomblé wird jetzt in den Diskussionen der Intellektuellen
des MNU thematisiert und soll so die Massen erreichen. Dies betrifft nicht nur
den candomblé, sondern alle Bereiche der Afro-Kultur, wie z.B. Tanz, Musik
und andere Künste. Mães-de-santo z.B. treten jetzt in Kongressen der Universität auf und stellen sich und ihre terreiros dar. Neuerdings werden die Rassendiskriminierung und das soziale System mit den Ungerechtigkeiten öffentlich kritisiert.
Die breite Masse wird noch nicht erreicht und kann die Werte nicht verinnerlichen. Wer in einer der favelas wohnt, hat meist nicht die Zeit noch das
Geld, ins Zentrum zur MNU zu fahren, geschweige denn die bildungsmäßigen
Voraussetzungen zu politischen Diskussionen. Das beste Mittel, sie zu erreichen, stellen immer noch die Liedtexte der Karnevalsvereinigungen der
Schwarzen dar, sofern sie Themen zur Identität proklamieren. Die Kinder,
259
welche in den Trommelgruppen solcher Vereine zusammenkommen, haben
große Chancen, sich heute mit ihrem Schwarz-sein identifizieren zu lernen.
Auch mit der Reafrikanisierung bleibt die Gefahr bestehen, sich nicht
weiter mit sozialpolitischen Themen und der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Die äußeren Zwänge bleiben bestehen. Zu gewissen nicht alltäglichen
Zeiten, z.B. bei öffentlichen Festen ist der/die selbstbewußte schöne Schwarze in afrikanischen Gewändern und Dreadlocks heute gern gesehen (meist als
Sexualobjekt) und sich ihrer Identität bewußt. Das sagt jedoch nichts darüber
aus, was im Alltag geschieht, wenn das afrikanische Gewand in den Schrank
geräumt ist und das Arbeitsleben aus Straßenfeger- und Putzfrauen-Dasein in
Abhängigkeit von den Weißen seinen Fortgang nimmt.
4.15.1 Zur Kommerzialisierung des candomblés und
Einschätzung der beobachteten Veränderungen
„Wenn Magie den Glauben beinhaltet, daß das Bestätigen oder Erstellen von
Ordnungen - kulturgegebener wie auch individueller Art - Angst zu bannen
und Hoffnungen zu verstärken vermöge, so erwartet sie also von ihren Ritualen zum mindesten psychologische Wirkungen; viele Beispiele deuten aber an,
daß mancher sich auch materielle Effekte verspricht. ...“
(Boesch 1983:103)
„Weißt Du, der candomblé ist mir schon suspekt. Aber jetzt gehen alle mal
hin, um sich die Zukunft lesen zu lassen. Es ist vielleicht lustig, wenn eine
mãe-de-santo dir deine Zukunft erzählt. Ich weiß, da kann nichts dran sein,
aber wissen will ich’s schon. Ich gehe eh nicht alleine hin, was soll mir auch
passieren. Mãe-de-santo S. soll gut sein, da waren meine Freundinnen auch.
Sie hat ein hübsches terreiro, und über sie wurde auch ein Buch geschrieben.
Und sie soll nicht teuer sein. ... Ich möchte schon gerne wissen, ob ich endlich
mal zu Geld komme. ...“
(B., Psychologin, Salvador)
Seit neuestem ist es bei der gehobenen Mittelschicht schick, sich einmal
von einer mãe-de-santo ein jogo-de-buzius machen zu lassen. Bestimmte
mães-de-santo sind gerade in Mode, was damit zusammenhängt, ob ihr terreiro einen gewissen reicheren Standard hat und sie ihr Image gut öffentlich repräsentiert. Armut und Elend will der Mittelstand bei dem Besuch eines terreiros nicht sehen.
„Das terreiro von Gantois hat’s geschafft. Schau mal, wie hübsch das jetzt ist,
und alle mães-de-santo und filhas-de-santo können jetzt so arrogant sein. Ich
kann mir nicht mal mein Dach decken lassen! Die haben sich gut verkauft,
und die Präfektur bezahlt ihnen jetzt alles. Bahiatursa schickt ihnen Busse voller Touristen, und dafür haben sie den schönen Platz bekommen. Das terreiro
„Casa Branca“ und andere ebenfalls. Aber zu mir nach Matatu schicken sie
niemanden. Tja, man muß nur wissen, wie man’s macht. Ich jedenfalls bin für
die, die mich brauchen, da, und mir ist egal, ob sie viel Geld haben, ich arbeite
mit allen. Das terreiro Gantois nimmt nur noch die Reichen. ...“
(D., mãe-de-santo, Salvador)
Seit es candomblé-terreiros gibt, hat die Notwendigkeit bestanden, sie,
die Feste, Kultgegenstände, Essen, Opfer etc. zu finanzieren. So wie sie es
geschafft haben, trotz Verbot im Verborgenen zu existieren und sich auszubreiten, haben sie sich ebenfalls finanziell meist über Wasser gehalten. Inner260
halb eines Systems, Landes und einer Kultur führen politische und soziale Veränderungen zwangsweise zu Veränderungen der Traditionen. Die heutigen
Möglichkeiten, Geld zu verdienen, unterscheiden sich demgemäß von der Vergangenheit.
Das Geschick der einzelnen mãe-de-santo und candomblé-Gemeinschaft
führte dazu, daß einige regelrecht prunkvolle terreiros in Salvador und Umgebung existieren. Zum Teil haben sie sich im Lauf der Zeit eine reiche Klientel
oder Protektoren unter der weißen Mittel- und Oberschicht zulegen können.
Andere wiederum konnten ihre Traditionen nicht weitergeben und sind von
der Bildfläche verschwunden.
Manch eine mãe-de-santo kämpft gleichfalls um ihr Überleben wie viele
andere der Marginalisierten. Ebenso haben viele der Armen ihre Mitgliedschaft
zu einem terreiro aufgegeben, da sie die Kosten für Rituale und Opfer scheuen, bzw. nicht in der Lage sind, sie aufzubringen. Manch einer will den Weg
der Initiation bis zum pai de santo bzw. mãe-de-santo nicht mehr gehen, da
die lebenslangen Verpflichtungen viele finanzielle Opfer mit sich bringen, die
nicht unumgänglich sind. Somit hat ebenfalls ein armes terreiro in einem armen Stadtteil weniger gute Überlebenschancen als die, welche über eine reichere oder gemischte Klientel schon verfügen.
Heute bestehen, wie oben im Zitat angedeutet, bedingt durch überregionale Aufwertung der terreiros durch die Intellektuellen sowie durch das
Interesse der Tourismusbranche und der Politiker, welche Tourismus forcieren
und die Touristen selbst, für manche, die das wünschen, andere Möglichkeiten. Nach wie vor gibt es ebenfalls terreiros, die sich strikt gegen Tourismus
und damit verbundene Vermarktungsmöglichkeiten abgrenzen.
Bei der erfolgten Aufwertung des candomblés durch die genannten Faktoren bleibt es jedoch zweifelhaft, ob sie von Dauer ist, und vor allem ob das
heutige öffentliche Interesse am candomblé eine dauerhafte und tatsächliche
Aufwertung darstellt. Was heute modern ist, wird morgen mit Füßen getreten?
Vielen ist es nicht klar, daß das ihnen geltende Interesse, zum Teil heute auch in den Medien formuliert, nur Teil einer Vermarktungsstrategie darstellt, bei der sie in der Position des zu vermarktenden Objektes sind. Ihr negatives Image wird meist nicht berührt davon, nach wie vor wird candomblé
von classe média und alta als „coisa de negro“ (Negerangelegenheit) und
„magia negra“ angesehen. Die Vermarktung beinhaltet Folklorisierung und
Reduzierung des candomblé-Komplexes auf Stereotypen wie Trance-tänze und
weiße Trachten.
Manche mães-de-santo, denen die stattfindenden Prozesse klar sind,
versuchen dabei einfach „ihre eigenen Schäfchen ins Trockene zu bekommen“. Die Konkurrenten, welche keinen Teil vom Kuchen abbekommen, sind
neidisch und kritisieren die Erfolgreichen als kommerziell und den Linien untreu und unterstellen ihnen, daß sie die Pflichten ihrer Ämter nicht mehr gewissenhaft ausführen. Der Prozeß der Kommerzialisierung wird von ihnen als
Kulturverlust dargestellt. Andere mães-de-santo stellen die Anpassungsfähig261
keit, das heißt Bereitwilligkeit zur Vermarktung des candomblé auch in dem
stattfindenden Vermarktungsprozeß positiv, als völlig normal, selbstverständlich und zeitgemäß passend dar.
„Für mich sind Reiche und Arme gleich. Ich nehme von niemandem mehr
Geld. Touristen und Besucher müssen eh nichts geben, und Spenden nehme
ich nicht an. Wir vom candomblé geben, ohne etwas zu wollen. Wer hat dir
gesagt, wir würden Geld nehmen? ...“
(M., mãe-de-santo , Salvador)
Die Eigeninterpretation der vom Prozeß betroffenen Personen kann
nicht unberührt bleiben, wenn sich ihre Klientel verändert. Sie bemerken, daß
ihre Klientel nun vielfach aus Schaulustigen anderer Gesellschaftsschichten
besteht, allerdings, im Gegensatz zu früher, nun mit angefülltem Portemonnaie. Die Art und Weise, darauf zu reagieren, ist unterschiedlich, es scheint
jedoch, daß die dazu gehörenden Gefühle, die beinhalten, daß die eigenen
Glaubensvorstellungen und Bräuche mißachtet oder von Voyeuren nicht ernst
genommen werden, verdrängt werden.
Keine der betroffenen Personen gibt zu, daß er heute mehr Geld verdient oder mehr Spenden erhält. Keiner will den Neid der anderen heraufbeschwören. Wer sich in den Brennpunkt öffentlichen Interesses stellt, hat gelernt, sich persönlich bescheiden und die Interessen des MNU formulierend, zu
präsentieren. Geldspenden finden meistens im Heimlichen statt. Eine Ausnahme bildet das folgenden Zitat einer mãe-de-santo:
„Komm, ich führe dich jetzt in den Raum von Oxum. Leg ihr ein paar Geldscheine hin. Knie dich vor ihren Altar und bitte sie um das, was dir wichtig ist.
Sie wird dir das dann erfüllen. ...“
(P., mãe-de-santo, Salvador)
Das öffentliche Interesse an ihren, zuvor der Diskriminierung unterworfenen Tätigkeiten bedeutet einen Prestigezuwachs. Dennoch bleibt festzustellen, daß breite Teile der Bevölkerung, inklusive Intellektuelle, weiterhin große Vorurteile gegen den candomblé haben. Die rassistischen Strukturen der
brasilianischen Gesellschaft haben sich nicht verändert, und es bleibt fraglich,
wann und unter welchen Bedingungen sie sich verändern werden.
Die in die candomblé-terreiros strömenden Touristen werten diese gesellschaftlich auf, da sie als fremde, reiche Weiße aus scheinbar höheren sozialen Schichten kommen und trotzdem sich den bestehenden Regeln (mehr oder weniger) respektvoll unterwerfen. Vielen, aber nicht allen, ist klar, daß
das Motiv der Touristen dafür kein dauerhaftes Interesse darstellt, sondern
meist aus bloßer Neugierde und Spaß an Exotik geschieht.
„Wenn ein terreiro Touristen empfängt, bietet es meistens Folklore dar.
Nichts Echtes. Weil das ist zu schade. Da steh ich ja als tanzende Negerin auf
der Bühne. Das geht für mich an der Sache vorbei. ...Die machen große Augen. Ja, an dem Abend haben sie was gesehen. ...“
(J., mãe-de-santo , Salvador)
262
„Nein, die kommen nicht, weil sie uns exotisch finden. Sie haben Interesse an
unserer Kultur. Stören tun sie nicht. Wir sind offen für alle. Das Fest läuft mit
ihnen oder ohne sie gleich ab. Als Voyeure empfinden wir sie nicht. ...“
(D., mãe-de-santo, Salvador)
Tatsächlich wird der Festablauf durch die Anwesenheit von Touristen in
manchen terreiros erheblich verändert, vor allem dann, wenn sie in Massen
auftreten. Die Räumlichkeiten sind nicht dafür präpariert.473 Auch wenn, wie
meistens das Gegenteil formuliert wird, fühlen sich die Mitglieder der Gemeinschaft gestört, und es scheint, als ob die Gastfreundschaft fast an ihre
Grenzen stoßen würde. Neid auf die privilegiert behandelten Touristen, die
z.B. als erstes und am meisten zu essen und zu trinken bekommen, ist bei Mitgliedern der Gemeinschaft eine der zu beobachtenden Reaktionen.
In den kleinen und abgelegenen terreiros, wohin sich nur wenige Touristen getrauen und verirren, ist zu bemerken, daß die Aufmerksamkeit der
Festbesucher deutlich abgelenkt wird und in Wirklichkeit der Tourist im
Brennpunkt des allgemeinen Interesses steht.
Allen ist klar, daß der Tourist nicht oder in den seltensten Fällen wiederkommen wird. Er wirkte jedoch in den psychischen Komplex der Kultbesucher ein. Er wird bewirtet, erhält freundlich einen der wenigen Sitzplätze,
und man produziert sich vor ihm mit Verhaltensweisen, die man früher vor
den Augen der Weißen verborgen hatte. Allgemein wird geäußert, daß der
candomblé offen für alle sei und Fremde nie stören und man sich den Veränderungen, welche die Zeit mit sich bringe, heute Touristen, problemlos anpassen könne und wolle. Zudem gäbe es genug Feste unter Ausschluß der Öffentlichkeit, bei denen man unter sich sein könne.
Das Fremdsein macht Angst auf beiden Seiten, sowohl bei den Kultmitgliedern als auch bei den Touristen. Man kann sein Gegenüber nicht einschätzen, da Kontakte, schon zeitlich bedingt, nicht derartig gestaltet werden können, daß sich die Beteiligten wirklich kennenlernen. Die Afro-Brasilianer haben als Erfahrung gelernt, daß Weiße ihre Kultur nicht achten, im Zweifelsfall
verfolgen und fast durchgängig rassistisch sind.
Die weißen Touristen kommen aus einer Zivilisation, welche die
Schwarzen ebenfalls nicht achtet und sie über Jahrhunderte in verschiedener
Art und Weise ausgebeutet hat. Sie betrachten sie meistens auch als minderwertiger, weniger intelligent, abergläubisch, arbeitsunlustig etc. Obwohl sie
diese Bewertungen meistens versuchen zu verbergen, werden sie von sensiblem Gegenüber wahrgenommen.
473
In einem terreiro beobachtete ich drei Omnibusse voller Touristen. Die Räumlichkeiten waren dafür natürlich zu klein. Weil aber diese Menge an Personen erwartet wurde, verlegte man
den ersten Teil des Zeremoniells in den großen Hinterhof. Dort gab es für alle zu essen, was
im normalen Ablauf eines orixá - Festes nie vorgesehen ist. Danach, im terreiro, hatten nicht
mehr alle Mitglieder des candomblé Platz. Es reichte kaum dafür aus, daß die filhas-de-santo
tanzen konnten. In Trance ist niemand gefallen, das schien nicht vorgesehen zu sein. Zudem
wurde das Fest innerhalb der Räumlichkeit auf eine Stunde begrenzt.
263
Eine sprachliche Kommunikation ist von vornherein ausgeschlossen.
Keiner kennt die Kultur des anderen. Die Touristen haben schlicht Hinweise
aus den Reiseführern, sich die schönen candomblé-Tänze einmal anzuschauen,
bei denen es sich um religiöse Veranstaltungen zu Ehren afrikanischer Gottheiten handele.
Die Schwarzen schließen sich innerhalb ihrer Gemeinschaft zur kollektiven Angstbewältigung zusammen, z.B. um dem im Alltag bestehenden Gefühl
des Außenseiterseins und Ausgebeutetseins Geborgenheit und Solidarität durch
die Gruppenzugehörigkeit von Gleichen gegenüberzustellen. Nun dringen diese
Weißen und Fremden in den eigenen Rückzugsort ein und konsumieren hier
eineinhalb Stunden Exotik. Es liegt nahe, daß daraus Aggressionen gegen die
Fremden entstehen können. Vor allem, wenn sie sich zudem noch unangepaßt
verhalten, wie z.B. durch Nichtbeachtung bestimmter Verhaltensregeln zur
Achtung der orixás , welche jedem einheimischen Kultteilnehmer geläufig
sind. Wie wird mit den daraus entstehenden Aggressionen umgegangen?
Eine der Methoden mancher mães-de-santo, damit für sie zufriedenstellend umzugehen, ist, eine finanzielle Zuwendung des Touristen erbitten, denn
Geld, das man gebrauchen kann, tröstet jedenfalls kurzfristig über nicht erfolgte Achtung hinweg. Des weiteren baden manche in dem Gefühl, wichtig
geworden zu sein, Nachbarn und Kultteilnehmer nehmen zur Kenntnis, daß
reicher, bz. als reich und einflußreich vermuteter, weißer Besuch das Haus
betreten hat, und damit ist für das terreiro und die betreffende mãe-de-santo
eine Imageaufwertung erfolgt, die für das andere entschädigt.
Bei meinen Besuchen in einem terreiro mußte ich oft lange, trotz vereinbarter Zeit, warten, wurde wieder weggeschickt und auf andere Tage vertröstet, und meine harmlosen Fragen wurden nicht beantwortet. Viele aufwendige und teure Reinigungsrituale wurden mir nahegelegt und immer wieder die Hoffnung geschürt, daß doch einmal Fragen beantwortet würden. Die
alte gesetzte mãe-de-santo umgab sich dabei immer mit würdevoller Gelassenheit und tat so, als ob sie mich einfach nicht verstehen würde.
Ihre Tochter, mit der ich mich häufig unterhalten hatte, schrie mich eines Tages an, was uns Weißen eigentlich einfallen würde, immer Angelegenheiten, die uns nichts angehen, erforschen zu wollen. Ihre Situation innerhalb
der Familie hatte für mich immer den Anschein der gähnenden Langeweile
erweckt, und Mutmaßungen der Unzufriedenheit mit ihrer Situation, sowie
Mangel an Geld und Möglichkeit, ihre Zeit sinnvoll und befriedigend auszufüllen, hatte sie bestätigt. Zudem wollte sie ebenfalls studieren, hatte aber, bedingt durch finanzielle Situation und Hautfarbe, beschränkte Möglichkeiten.
Ihr Neid mir, meinen Freiheiten und Möglichkeiten gegenüber, welche
die ihren bei weitem überschritten, zudem verbunden mit dem Vorteil der
weißen Hautfarbe, konnte sie nun endlich in Aggression verwandeln und an
mir auslassen. Dadurch, daß sie mich wegschickte, mußte sie sich nicht mehr
mit ihrer Situation und ihren Wünschen auseinandersetzen, sondern konnte
ihren angepaßten und nicht geliebten Alltag weiterleben.
264
Neid sowie Aggression gegenüber weißen Touristen und Reisenden wurde nie zugegeben. Ich selbst wurde jedoch oftmals in verschiedensten Situationen Zeuge davon, bzw. selbst davon betroffen, wie oben erwähntes Beispiel
veranschaulicht. Es wurde durchweg abgestritten und meine Idee davon für
abwegig gehalten. Zum einen zeigt dies die Unbewußtheit im Umgang mit gesellschaftlichen Phänomenen und Problemen, zum anderen die Verdrängung
von unangenehmen Gefühlen, wie sie Aggressionen und Neid darstellen.
Über die jeweilige mãe-de-santo, die Autoritätsperson, wurde von Mitgliedern ihrer Gemeinschaft ausgesagt, daß sie aggressives Verhalten nicht
dulden würde und bei Mißachtung ihrer Gebote Sanktionen zu erwarten wären. Nach meiner Erfahrung kann sie auch die andere Möglichkeit ihrer Machtposition wahrnehmen, indem sie sich mir gegenüber als sanftmütig darstellt
und ihre Aggressionen gegenüber Fremden an die Mitglieder ihres terreiros
deligiert und von ihnen ausleben läßt.
Des weiteren zeigt sich hier wie in vielen Bereichen, in denen AfroBrasilianer aus der Unterschicht und Touristen oder auch einheimische Weiße
aus höheren Schichten aufeinander stoßen, scheinbar angepaßtes, ängstliches
und geducktes Verhalten der Schwarzen gegenüber den weißen Personen.
Ventile, wie die durch dieses Verhalten angestauten Aggressionen ausgelebt
werden, gibt es viele, wie ich in den Kapiteln Karneval (4.2) und Capoeira
(4.13.) dargestellt habe.
Viele der Afro-Brasilianer fühlen sich jedoch immer noch ohnmächtig
und ausgeliefert gegenüber den Weißen sowie gegenüber ihrer Situation. Sie
sind dann unfähig, Kräfte zu entwickeln und ihre Depression zu überwinden.
Sie fügen sich in ihre Ohnmacht und lassen Ungerechtigkeit und unfaires Behandeln von Seiten der Weißen über sich ergehen.
Andere, welche die Möglichkeiten, ihre Identität und ihr Selbstbewußtsein auszubilden, nutzen können und fördern, stehen heute stolz und aufrecht
in der Gesellschaft da, bewegen sich meist in ihrem eigenen ethnischen Raum
und führen ihre eigenen Berufe im afro-brasilianischen kulturellen Bereich
aus. Sie werden von den weißen baianos meist nicht gern gesehen, da ihr
Selbstbewußtsein als Bedrohung erlebt wird. Die Schwarzen sollen die konventionellen Rollen weiterleben, denn die Weißen sind nicht bereit, ihre Machtpositionen aufzugeben. Die Nicht-Achtung der Weißen der afro-brasilianischen
ethnischen Berufe wie z.B. der mãe-de-santo, ist in diesem Zusammenhang zu
betrachten. Die weißen Touristen ahnen nichts von alledem.
Die schwarzen candomblé -Kultmitglieder der Unterschicht haben Informationen über Touristen, teils von Bekannten, teils aus dem Fernsehen. Es
sind überlegene Weiße, die aus einer reichen Welt kommen, sich eine Reise
leisten können und in der Regel mit einem Reiseführer, der sich um sie kümmert, umher spazieren. Welche Wünsche und Hoffnungen erzeugt der kurze
Kontakt?
265
Nach fast allen Aussagen der von mir Befragten werden auch Wünsche
und Hoffnungen verdrängt, die jedoch bei anderen Begebenheiten und Begegnungen, für die Touristen meist nicht ersichtlich, ihren Ausdruck finden.
„Natürlich wäre es hübsch, wenn ein Tourist kommen würde und mich mal
nach Europa mitnehmen würde. Ich würde dort Wahrsagen, jogo-de-buzius
legen und mir davon den Aufenthalt finanzieren und Sachen kaufen. Einmal
hatte mir einer das vorgeschlagen, aber es ging damals nicht. ...“
„Schau Dir meine Tochter an, ist sie nicht bildhübsch? Leider ein bißchen
dick geworden in der letzten Zeit. Sie ist filha-de-santo im Gantois. Ich finde
das gut, weil dort viele Touristen hinkommen. Heute abend geht sie mit einem
Franzosen weg, den sie dort kennengelernt hat, der mit einer Gruppe dorthin
kam. Und manchmal bringt sie auch jemanden von ihnen hierher. Leider sind
meine anderen Töchter nicht so schön. Aber bei ihr, das kann noch was werden. Erst mal muß sie weniger essen. ...“
(D., mãe-de-santo, Salvador)
„Mein pai (de-santo)! Du bist ein schlechter Vater! Ihr hast du Wein gegeben
und uns nicht. Du bist dafür verantwortlich, daß es uns gut geht, sonst suchen
wir uns einen anderen. Bei einem Fest wie diesem mußt du uns zu essen und
zu trinken geben. Laß sie doch bezahlen!“
(Kultmitglied bei einem candomblé-Fest, Muritiba.)
Die Mehreinnahmen durch Touristen in den terreiro werden nicht umverteilt, für die Mitglieder der Gemeinschaft bedeutet ihr Erscheinen erst mal
einen Mehraufwand an Vor- und Nachbereitungsarbeiten und beinhaltet das
Teilen von Essen und Getränken, wobei die Touristen immer als erste das Beste serviert bekommen und danach die Schwarzen das Essen und Trinken, was
davon übrigbleibt.474
Der candomblé ist keine missionierende Religion, die um Mitglieder
wirbt und das Glück im Himmel oder auf Erden verspricht. Es ist ausgeschlossen, daß Touristen Mitglieder der Gemeinschaft werden, sie werden zudem
bald abreisen und nicht mehr wiederkommen. Demzufolge kann kaum erwartet werden, daß sie später zur Kasse gebeten werden, geschweige denn, daß
die Mitglieder der Gemeinschaft daran teilhaben könnten.
Die Schwarzen haben die Weißen, wie im Alltag, dem sie eigentlich im
terreiro entfliehen wollten, freundlich bedient. Wie im Alltag wurden ihre
Dienstleistungen von den Weißen schlecht, bzw. gar nicht vergolten. Manchmal haben sie wenigstens ein freundliches Lächeln dafür bekommen, wenn der
befremdete Tourist überhaupt dazu in der Lage war. Sie haben sich bei ihrer
religiösen Ausübung, ihren Tänzen, dem Erscheinen ihrer Götter, begutachten
lassen. Die kulturelle Ausbeutung, die modernste Form der Ausbeutung heute,
kommt hier massiv zum Tragen.
Vielleicht sollen die Geschenke von Bahiatursa und die damit verbundene Imageaufwertung des jeweiligen terreiros als Entschädigung dafür genügen.
474
Ich habe keinerlei Belege, was eine mãe-de-santo an Touristen verdient. Wie oben schon
erwähnt, wurde von allen abgestritten, von Touristen Bezahlung oder Spenden erhalten zu haben. Allerdings habe ich oft beobachtet und am eigenen Geldbeutel erlebt, sowie aus Erzählungen der Touristen erfahren, daß Spenden und Bezahlungen die Regel darstellen.
266
Vielleicht werden die Gefühle der Abwertung auch erst später bei der candomblé-Gemeinschaft im terreiro ihren direkten Ausdruck finden und Protest
dagegen erhoben werden, wenn noch mehr Touristen ihre Plätze überschwemmt haben.
Wenn die Touristen sich über das im terreiro beobachtete Geschehen
austauschen und unterhalten, wird der Eindruck verstärkt, daß die AfroBrasilianer Perlen vor die Säue geworfen haben dadurch, daß sie die Touristen
bei den Ritualen zuschauen ließen.
Sie konsumierten Magie, ein seltenes exotisches Reisemitbringsel, welches ihr existierendes Bild vom abergläubischen Wilden, der mit irgendwelchen Geistern verkehrt, bestärkt. Bedingt durch fortschrittliche Reiselektüre
und Presseinformationen in der westlichen Welt, ist manch einer der Touristen geneigt, die Schwarzen und ihre Kultur bzw. Folklore, denn mehr bekamen
sie meist nicht zu Gesicht, positiv zu bewerten. Im großen und ganzen bestehen aber Vorurteile gegen Schwarze weiter und werden weitergegeben.
„Die glauben an Geister, die dann kommen und verhexen. Da muß man aufpassen. Die sollen dich umbringen können. Also damit will ich nichts zu tun
haben. Wenn sie irgendwas von dir haben, können sie dich umbringen mit ihren Geistern, Zaubersprüchen, Nadeln und so. ...Dann tanzen sie wild, da sollen wohl die Geister anwesend sein. Dabei sollen sie auf die Erde fallen,
schreien und toben. Ich hab’s ja Gott sei Dank nicht gesehen.“
„Laß dich bloß mit sowas nicht ein. Das ist Hexerei, das ist gefährlich. Ich will
hier auch heil wieder wegkommen. ...“
(deutsche Touristen, Salvador)
„Turismo é o diabo“ (Tourismus ist der Teufel.). Stimmen wie diese
sind selten und werden fast ausschließlich von Intellektuellen, die von der
Marktwirtschaft unabhängig sind, sowie von schwarzen Mitgliedern der MNU
geäußert. Religionsausübung ist etwas Persönliches, vielleicht sogar Intimes.
Personen geben sich Gefühlen und hier ihren orixás hin und dies äußert sich
individuell verschieden, mit verschiedener Intensität.
Mein Eindruck, daß viele der befragten Personen, die äußerten, es sei
ihnen egal, ob Touristen zugegen seien, ihre Gefühle dazu verbergen wollten,
welche Bedeutung in Wirklichkeit ihre Religionsausübung für sie darstellt, hat
sich durch Interviews und Beobachtungen bestätigt. Durch Aussagen, wie mir
ist egal, wer zugegen ist und zuschaut, werden innige Beziehungen dazu verborgen, und Personen geben sich den Anschein, unverletzlich zu sein. Zudem
bestimmt die mãe-de-santo, wer zugegen sein darf, und die hierarchisch gegliederte Gemeinschaft fügt sich dem widerspruchslos.
Wahre Gefühle und Ansichten werden verborgen, da in der Hierarchie
höher Stehende nicht kritisiert werden und keine sinnlose Auseinandersetzung
provoziert werden soll. Somit ist eigentlich vorherbestimmt, welche Antworten auf meine Fragen bezüglich der Anwesenheit der Touristen zu erwarten
waren. Durchbrochen wurde dies nur außerhalb des terreiros in anderen Zusammenhängen, wenn ich als Vertrauensperson gewertet wurde; d.h. nach
langer Zeit der Bekanntschaft.
267
Die Erfahrung vieler filhas-de-santo ist, daß ihre Gefühle eh nicht beachtet werden und es im Gegenteil wesentlich härtere Konsequenzen mit sich
bringen kann, wenn der Feind, als welcher der Weiße sich nun meistens zeigt,
über die wahren Gefühle Bescheid weiß und damit Mittel zur Verletzung in der
Hand hat. Die Schwarzen erleben sich ausgeliefert an eine gesellschaftliche
Realität, welche sie wenig oder gar nicht zu beeinflussen vermögen.
Stärkung der Marginalisierten kann im Rückzug von dem Weißen erfolgen, im eigenen ethnischen Raum, den man eigentlich beschützen muß. Die
Konfrontation im „weißen Raum“ schwächt die Schwarzen, denn der Feind ist
stärker und demonstriert seine Macht. Kontakt wird oftmals so erlebt, daß er
nur dann, wenn unbedingt nötig, wie z.B. bei der Arbeit, erfolgt oder eben in
oberflächlichen kurzen Situationen.
Die candomblé-terreiros bieten für Kultmitglieder und Klientel den
Rahmen einer moralischen und menschlichen Gemeinschaft in einer ihnen gegenüber unmenschlichen Gesellschaft. Diese moralische Gemeinschaft wird
mit den Touristen nicht hergestellt. Die Wertung der candomblé-Mitglieder
über die Touristen, ob sie einen Teil menschlicher oder unmenschlicher Gesellschaft darstellen, ist unterschiedlich und erfolgt oft unbewußt und wunschorientiert.
4.15.2 Folklorisierung durch Tourismus
Die Touristen produzieren nach der kolonialen Enteignung nun eine kulturelle;
zugleich aber auch eine Anerkennung, die zur Aufwertung der afrobrasilianischen Kultur auch innerhalb Brasilien führt. Die kulturelle Enteignung
geschieht auf vielen Ebenen eigentlich immer ohne das Bewußtsein der Touristen, die damit beschäftigt sind, ein breitgefächertes tropikalisches Ferienprogramm zu genießen, und etwas anderes nicht sehen wollen, da dies dabei störend wirken würde.
Die afro-brasilianischen Gastgeber gehen damit freundlich oder
manchmal spöttisch um, schützen sich durch Unbewußtheit und setzen sich
damit nicht auseinander. Es ist eh nichts zu ändern, und dies ist der Preis, den
sie, wieder die Schwarzen und immer Ausgebeuteten, zu bezahlen haben, für
die kleinen materiellen Vorteile und eventuellen kurzfristigen Aufwertungen,
die der Tourismus einigen von ihnen bietet. Für die weißen baianos, die wirklich am Tourismus verdienen, existiert diese Frage als Thema keinesfalls.475
Mit dem Tourismus tritt die Professionalisierung von religiösen Spezialisten sowie künstlerisch tätigen Personen in sinnlichen, körperorientierten
Bereichen wie Tänzern u.a., ein. Die damit einhergehende Vermarktung fordert allerdings eine Entqualifizierung von Räumen und Orten.
Was als Befreiung erscheint wie in diesem Zusammenhang die Aufwertung durch materiellen Profit, entwertet zugleich die Orte, wo das Zusam-
475
Paulo G. von Bahiatursa
268
mentreffen und die Vermarktung stattfinden. Auch Orte sind identitätsstiftend
und -erhaltend und erfahren durch die Prozesse, die mit dem Tourismus einhergehen, für die Personen, die ihnen Werte verliehen haben, eine Entsakralisierung. Die Touristen betreten die Orte und verhalten sich dort touristisch.
Dies beinhaltet alle Varianten, die man sich darunter vorstellen kann.
Die Touristen suchen nicht nur exotische, körperlich-sinnliche Ekstase
wie oben beschrieben, sondern sind im gleichen Maße von exotisch-religiöser
Ekstase angezogen. Zum einem beeindruckt sie die Andersartigkeit des religiösen Ausdrucks in Bahia, die eine verschiedene optische Ästhetik und rituelle
Vielfalt im Gegensatz zu ihnen bekannten Religionen in ihren Ländern ausstrahlt. Zuhause sind sie mit protestantisch nördlicher Kühle in den Kirchen
bzw. entritualisiertem Katholizismus vertraut, beide nicht sinnlich orientiert.
Teilt man die soziale Welt in einen profanen und einen heiligen Bereich, stellt sich die Frage, in welchem sich die Touristen befinden. Begeben
sie sich vom profanen in den heiligen, den sie in ihrer eigenen Gesellschaft
nicht finden?
In unserer Alltagssprache beinhaltet die Benutzung der Wörter „mein
Heiligtum“ oft etwas Materielles, z.B. „mein Computer, meine CD-Sammlung,
u.v.a.m. ist „mein Heiligtum“. Ähnlich verhält es sich mit dem Wort magisch,
„magische Ausstrahlung“ „magisch angezogen sein“ ist man in der „ersten
Welt“ von materiellen Gütern oder der erotischen Ausstrahlung einer Person
oder anderen Werten, die mit geistigen Inhalten wenig oder gar nichts mehr
zu tun haben.
„Das magische Bahia mit all seinen Heiligen“, einer der Slogans, womit
Touristen angeworben werden und der Bahia interessant machen soll, spielt
auf religiöse Werte an, beinhaltet aber ebenfalls die materiell orientierte
Wertzuordnung dieser Wörter. Für die Afro-Brasilianer sind die „Heiligen“ allgegenwärtig wie im Kapitel 2 beschrieben, was andeutet, daß Religion und
Religionsausübung einer komplett anderen Wertigkeit im Leben des einzelnen
zugeordnet werden als bei uns. Davon bekommt der Tourist nur sinnlich erfaßbare Äußerlichkeiten wie schöne Tänze, Festgewänder, Gesänge, Trommelschläge und Speisen mit.
Für die Touristen handelt es sich somit bei der passiven Teilnahme an
der Ausübung von Religiosität der Gastgeber um ein Konsumgut, welches die
Ferienzeit mit einem weiteren exotisch-sinnlichen Erlebnis anfüllt und aufwertet und zudem von ihnen selbst ablenkt.
Eine andere Gruppe von Touristen äußert „spirituelles“ Interesse an
den baianischen Religionen. Werten Touristen ihre Reise und Reiseerlebnisse
durch die Einordnung unter „spirituelle“ Motive auf? Manche äußern das sogar
freiwillig, sie fühlen sich dadurch auch als bessere Touristen als die anderen,
die meisten lehnen es jedoch ab.
Die Vermarktungsstrategien von Bahiatursa haben längst diese touristischen Bedürfnisse aufgegriffen und verschiedene Kreationen von vermarktba269
rer Religion ins Leben gerufen. Nicht nur sie wissen, daß Salvador an Interesse
gewinnt, wenn ein breites Spektrum an exotisch-sinnlichem und exotischreligiösem Erleben existiert. Künstler und religiöse Spezialisten aller Art,
Shopping-Center, Restaurants, Touristenführer u.a. haben dies ebenfalls aufgegriffen und vermarkten erfolgreich jegliche Art von spirituellen Gütern.
Die Hinwendung zur Vermarktung dieser neuen Konsumobjekte ist in
den letzten Jahren erfolgt und ständig anwachsend. Dies ist vergleichbar mit
dem „Jahrmarkt der Esoterik“ in westlichen europäischen Ländern, nur daß es
sich bisher im Tourismussektor vornehmlich um Elemente der von mir hier angeführten Religionen handelt.476
Folkloredarbietungen z.B. im Restaurant Senac und Solar de União gehören nach dem Genuß einer typisch baianischen Mahlzeit zur Pflichtübung
eines jeden Touristen. Das sieht wie folgt aus: baianische Fischertänze und –
gesänge, während die Darsteller an den Fischernetzen ziehen; baianischer
Stocktanz, maculelê, beim dem zwei Personen rhythmisch auf erhobene Holzstäbe schlagen; Schwerttanz, bei dem die Funken sprühen, capoeira, orixáTänze und danach zum Abschluß afro-brasilianische karnevaleske Tänze und
Musik der jeweiligen Saison, bei dem die Touristen zum Mittanzen aufgefordert werden.
Die einzelnen orixás erscheinen in ihren jeweiligen ihnen zugeordneten
festlichen Gewändern und Farben und Kultutensilien. Dabei wird sanfte Trance in den Bewegungen nach einiger Zeit angedeutet. Xangô erscheint und
tanzt mit einer dramatisch wirkenden Feuerschale, die wie die extra schummerige Beleuchtung eine magische Atmosphäre fabrizieren soll. Die speziell in
orixá-Tanz ausgebildeten Künstler geben die jeweiligen Laute der orixás von
sich, und die jeweiligen Gesänge und Rhythmen erklingen. Weniger spektakuläre orixás wie Oxalá , der sich wie ein alter Mann bewegt, werden nicht vorgestellt. Erklärt wird gar nichts, wer nicht seinen privaten Touristenführer bei
sich hat, wird unter Umständen nie erfahren, was er zu sehen bekommen hat.
Die Tänzer erhalten wie üblich ein „salário mínimo“ im Monat für die
sechs Mal in der Woche stattfindenden Veranstaltungen, das Restaurant und
die Tourismusagenturen und -führer verdienen am Folklorespektakel.
Orixá-Tanz- und Trommelunterricht wird seit ein paar Jahren für Touristen, ebenfalls in der Altstadt, angeboten. Sie können Ferienkurse belegen
und erlernen dabei die Grundrhythmen der orixás. Auch hier werden Informationen spärlich weitergegeben, die schwarzen Lehrer aus der Unterschicht
können kein Englisch, und nur wenn einer des Portugiesischen mächtiger Tou-
476
Für die Bevölkerung sieht dies wieder anders aus. Im März 1996 gab es einen Markt der
Esoterik in Salvador mit Vorführungen einzelner religiösen Gruppierungen aus allen möglichen esoterischen Bereichen vieler Kulturen der Welt . Tarotkarten, Horoskope, heilende
Kristalle, Räucherstäbchen, Buddhastatuen etc. wurden verkauft, und Hare KrischnaAnhänger sangen, spielten Musik und warben um Anhänger. Buddhistische Meditationen
wurden nahegelegt und Literatur zu all diesen Themen angepriesen. Diese Messe wurde fast
ausschließlich von der weißen Mittel- und Oberschicht besucht, die dort konsumierte.
270
rist anwesend ist, erfahren die Schüler die selben Informationen, die auch in
den besseren Reiseführern über den candomblé nachzulesen sind.477
Die Lehrer haben vor der Zeit des Ethno-Tourismus nur in candombléterreiros getanzt und sich jetzt professionalisiert. Sie sind candombléMitglieder und sehen deutlich, daß die Touristen sich meist nur für die Schönheit der Tänze und körperliche Betätigung interessieren. Ebenfalls nehmen
Tänzer aus anderen Ländern, die sich weiterbilden, am Unterricht teil, sowie
neuerdings, wie schon erwähnt vereinzelt, weiße Mittelstandsfrauen. Die
Tanzlehrer erhalten wiederum ca. ein salário mínimo, und die Tanzschulenbesitzer entsprechend dem Umsatz natürlich wesentlich mehr.
Die angestellten Tänzer und Lehrer sind über den neu eröffneten Markt
mit ihrer Kultur froh, weil sie so überhaupt die Möglichkeit haben, zu arbeiten
und Geld zu verdienen. Der Kontakt zum weniger oder unterschwellig rassistischen weißen Touristen beinhaltet eine Aufwertung für ihn. Damit daß er als
exotisches Objekt angesehen und samt seiner für ihn Identität stiftenden Kultur vermarktet wird, was wiederum eine Abwertung beinhaltet, geht er mit
„baianischer Gelassenheit“ um und rächt sich auf subtile Art und Weise im
Training an einzelnen Touristen, z.B. durch Verweigerung von Informationen.
Abends auf den Plätzen, umgeben von vielen kleinen Bars und Restaurants, finden Musikveranstaltungen statt, und hier wird seit der Restaurierung
der Altstadt meist von baianischer Mittelschicht und Touristen konsumiert. Die
musikalischen Künstler von Salvador treten hier auf, kleine Theaterstücke
werden gespielt, und 1996 wurde eine neue Art Unterhaltungsshow für Touristen entwickelt. Man fügte nun Elemente aus Rio de Janeiro hinzu, die in der
„ersten Welt“ bekannt und scheinbar beliebt sind.
Ein paar halbnackte, gesäßwackelnde Frauen tanzten zum typischen
Rio-Samba, und um dem doch ein bißchen Bahia beizufügen, traten dazu orixá-Tänzerinnen in orixá-Gewändern auf, die ebenfalls, in sich gekehrt lächelnd, Rio-Samba tanzten. Den Touristen hat es gefallen, die Barbesitzer waren mit ihrem Umsatz zufrieden. Vielleicht setzt sich nun die neue Tanzkreation in der Zukunft fort, und im folgenden Jahr vielleicht wird dann die orixáTänzerin sich während des Tanzes ihrer orixá-Kleidung entledigen und im
knappen Bikini dastehen.
Was sich bewährt beim Touristen, wird weiter vermarktet und entwickelt werden, und die Kreativität der Gastgeber in diesem Bereich ist bemerkenswert. Die Touristen werden exakt beobachtet, ihre Bedürfnisse sondiert
und sofort neue Befriedigungsstrategien entwickelt. Auch amerikanische Popmusik, Jazz, Blues und Soul sind seit zwei Jahren als Konzerte zu genießen
sowie Disco-Music für den, der es lieber aus der Konserve mag. Der Tourist
genießt eine enorme Auswahl, es kann nie langweilig werden, und für jedwelchen Geschmack existiert ein Angebot oder wird sofort geschaffen. Die Bezah-
477
deutschsprachig: Busch, Schäber, Wilke, 1992 und Schäber, 1993.
271
lung der Künstler ist so gering und die schwarzen, arbeitslosen Künstler derart
zahlreich, daß auch der kleinste Barbesitzer sich die Shows leisten kann.
Die Künstler, die in harter Konkurrenz versuchen, das Notwendigste für
ihr Überleben zu erarbeiten, sind offen für musikalische Einflüsse aus aller
Welt und kreieren ständig neue Kompositionen, neue Rhythmen. Der Tourist
erfährt genußvoll, daß sich nichts wiederholt, jegliche Routine im Sommer, im
Ausnahmezustand, scheint ausgeschlossen zu sein.
Ein orientalisches Wahrsagezelt befindet sich 1996 neuerdings ebenfalls
auf dem Hauptplatz des Pelourinhos. Hier kann der Tourist sich in orientalisch-baianischer Atmosphäre ein Kaurimuschelorakel werfen lassen oder auch,
je nach Geschmack, europäische Tarotkarten legen lassen. Der Barbesitzer,
der den Platz zur Verfügung gestellt hat, verdient.
Die kleinen Lädchen in den Straßen des Pelourinhos vermarkten baianische Kunst. Gemälde tropischer Landschaften, tanzender weißgekleideter baianas, hübsch restaurierter barocker Häuser der Altstadt, portugiesischbarocker Kirchen und Bilder von exotischen, manchmal halbnackten Mulattinnen sind begehrte Souvenirs.
Einen großen Bereich jedoch bildet die Darstellung der orixás, die sowohl als Gemälde als auch aus Metall, Ton und Keramik, in allen möglichen
Größen- und Darstellungsvarianten sowie Stilrichtungen, angeboten werden.
Auch hier verhält es sich wie überall, die weißen Ladenbesitzer verdienen
daran einen wesentlich höheren Anteil als die schwarzen Künstler, von denen
viele froh sind, ein salário minimo zu erhalten. Viele dieser weißen Ladeninhaber besitzen zudem Restaurants, Bars, Pensionen und Häuser, ein Besitz
wurde zum nächsten gefügt.
Andere kleine Läden verkaufen afro-brasilianische Souvenirs aus dem
Musik- und candomblé-Bereich, berimbaus, pandeiros, große und kleine
Trommeln, agogôs usw. Des weiteren werden orixá-Postkarten zum Versenden
und kleine Hefte, die Abbildungen und Erklärungen zu ihnen beinhalten, angeboten.
Am Rande der Straßen sitzen fliegende Händler mit selbst angefertigtem Schmuck und Kleidung mit afrikanischen Mustern, T-Shirts mit Bob Marley-Aufdrucken, dem jamaikanischen Rastafari-Idol der schwarzen Befreiungsbewegung, T-Shirts mit baianischen und selbstverständlich orixá-Motiven. Es
wird überall mit der “Magie“, die dem jeweiligen Gegenstand innewohnt, geworben, kaum ein Stück, das nicht an die ständige Präsenz der orixás oder an
die überall beschriebene Magie des Ortes erinnert.
Bahia aller Heiligen, der tropikalische Wunderort, der sich in der
Scheinwelt des Ausnahmezustands und Ferienparadieses präsentiert, wird von
allen Gesellschaftsschichten erfindungsreich vermarktet. Mit den mehr oder
weniger heimlich angebotenen Drogen soll man der „Magie“ besser gewahr
werden, und die verschiedenen Objekte sollen den Touristen immer an die
exotisch-religiösen Vibrationen in der Luft Bahias erinnern.
272
In den hauptsächlich von Touristen besuchten Straßen und Gassen werben umbanda-Wahrsager ebenfalls um Kundschaft, jedoch nicht sehr erfolgreich, da die Sprachbarrieren hoch sind und ein Übersetzer benötigt wird. Wer
dies kann von den Touristenführern, führt seine Klientel dorthin, wenn sie gewillt sind. Die Neugierde zur Teilnahme jedenfalls ist groß.
Eines der größten Einkaufszentren, das Shopping Barra, vermarktet seit
1995 ebenfalls zur Karnevalszeit Kultutensilien verschiedener Art und alle oben erwähnten Gegenstände sowie das Werfen eines Kaurimuschelorakels in
einem dafür geschaffenen kleinen Zelt mit orixá-Utensilien. Ansonsten ist das
Shopping-Zentrum ausschließlich auf die Bedürfnisse der Weißen orientiert,
und die Artikel entsprechen meist der Mode der „ersten Welt“,, es erscheint
absurd in dieser Umgebung, nun Kunst der sonst, bedingt durch ihre meist fehlenden finanziellen Mittel, ausgeschlossenen Schwarzen zu entdecken.478
Perfekt wird exotisch-sinnliches Erleben mit religiösen Bedürfnissen
verknüpft. Die Gastgeber scheinen ihre Gäste und deren Bedürfnisse auf vielen
Ebenen erkannt zu haben, die Touristen selbst geben ihre nun wohl vorhandenen Bedürfnisse nicht zu. Jedoch, wo ein Markt besteht und funktioniert, muß
dementsprechend ebenfalls ein Bedürfnis des Konsums vorhanden sein, denn
sonst würde der Mark keineswegs florieren.
Vielleicht handelt es sich hierbei um ein übriggebliebenes Relikt aus
vergangenen Pilgerzeiten, als dies eine der wenigen ehrlichen Reiseberechtigungen darstellte, die das Individuum vor seiner Gesellschaft zugeben konnte.
Manch ein Tourist erzählt stolz über den „spirituellen“ Gewinn, den er aus der
Reise gezogen hat, bzw. das „spirituellen“ Bedürfnis, welches der Reise
zugrunde lag. Sie scheinen die Reise und Reiseerlebnisse dadurch aufzuwerten
und/oder dadurch zu rechtfertigen, daß sie diese unter „spirituellen“ Gesichtspunkten betrachten.
Was an Festen früher auf Pilgerfahrten und an Pilgerorten geschah,
welche ekstatischen Bedürfnisse gesucht und befriedigt wurden, unterscheidet
sich vielleicht ebenfalls nicht groß von heute und dem, was der moderne „Pilgerort“ Salvador von Bahia aller Heiligen zu bieten hat. Die Formen der nicht
alltäglichen Pilgerfeste unterliegen dem jeweiligen Zeitgeist, der Mode und
den sich verändernden Bedürfnissen sowie Bedürfnisdefiziten des Individuums
und müssen zudem im Zusammenhang mit seinem jeweiligen kulturellen Hintergrund betrachtet werden.
Religiöse Zuwendung dient immer der Angstbewältigung, deren Ursache
verschiedene Gründe haben kann, jedoch immer im Zusammenhang mit der
jeweiligen Gesellschaft, in der das Individuum lebt, zu betrachten ist. Angst
entsteht in der jeweiligen Sozialisation, den dazugehörigen gesellschaftlichen
478
Mitglieder der nicht finanzkräftigen Unterschichten flanieren jedoch ebenfalls ab und zu
durch die Einkaufszentren und scheinen dadurch emotional irgendwie am Konsum Anteil genommen haben. Es wird viel darüber gesprochen, im Shopping-Center gewesen zu sein, da es
Anerkennung bei andern weckt und somit der eigenen Aufwertung dient. Dies gilt wiederum
für alle Schichten.
273
Bedingungen und den biologischen Voraussetzungen, d.h. den damit zusammenhängenden Ängsten vor Krankheit und Tod.
Alle Mitglieder aller Gesellschaften haben hierbei die gleichen Bedürfnisse, nämlich Umgang mit ihren Ängsten zu finden. Kulturflüchtende
Angstbewältiger wie „spirituell“ interessierte Touristen sind der Ansicht, andernorts als zu Hause ihre Probleme besser zu bewältigen zu können, bzw. vor
ihnen fliehen zu können.
Dies ist zum einen einleuchtend, da, fern vom Alltag mit seinen aktuellen Problemen unter azurblauem Himmel, warmer Luft, Meeresrauschen und
den hier nicht als Sünde bewerteten tropikalisch-exotischen Genüssen, die
Ängste nun folgerichtig bewältigt erscheinen. Zum anderen handelt es sich um
einen Trugschluß, denn eine dauerhafte Bewältigung kann auf keinen Fall erfolgen, spätestens bei der Rückkehr nach Hause machen natürlich exakt die
selben Dinge in der eigenen Kultur, in Alltag und Arbeitswelt Angst, wie vorher.
Die erlebten religiösen Rituale können nicht erneuert werden, da die
religiösen Spezialisten, die zugehörige Gemeinschaft und die dazugehörige
Atmosphäre fehlen. Es gibt jedoch ein Angebot an anderen „exotischesoterischen“ Ritualen in der westlichen Welt, das Ersatz schaffen soll.
Für die Einheimischen bilden die Feste, religiöser wie profaner Art,479
eine Sublimierung von Trieben, eingebettet in ihr kulturelles Gefüge. Die Feste faszinieren die Touristen, weil sie eine Entsublimierung erzeugen können.
Dies liegt daran, daß sie in ihrem Heimatland eine nicht befriedigende Sublimierung durch die Entfremdung durch Bürokratie, Verwaltung und Arbeit erfahren.
Körperlichkeit und Sinnlichkeit werden verdrängt, bzw. kommen höchstens in leistungsorientierten und mit Konkurrenzkampf verknüpften Sportarten
und änlichen Freizeitbeschäftigungen zum Ausdruck. Sie werden jedoch wenig
lustvoll und sinnlich und meist nicht kollektiv erlebt.480 Freizeitgestaltung in
unserer Kultur ist anders organisiert und mit anderen Werten, von Grund auf
weniger spontan, mehr reglementiert, eher intellektuell ausgerichtet und an
starrere Regeln verbunden.481 Die Sublimierung gelingt jedoch nicht vollstän-
479
Profan und sakral läßt sich hier nicht trennen, da die meisten Feste eine Vereinigung von
beidem darstellen und Bedürfnisse in beide Richtungen befriedigen. Vor allem durch den
Einfluß durch Tourismus wurde der profane Bereich expandiert, wie die erwähnten Beispielen
verdeutlichen. Im Bereich der Vermarktung von religiösen Festen sind die Gastgeber ständig
ebenso innovativ wie in den oben genannten der touristischen Sphäre zuzuordnenden.
480
Meiner Ansicht nach wird durch das kollektive Erleben von Freuden sowie Leid die Identität
des Individuums gestärkt und bestätigt und dadurch Gefühle der Isoliertheit und der daraus resultierenden Ängste reduziert bzw. bewältigt.
481
In Subkulturen und marginalen Gruppierungen sowie manch exotisch-„spirituell“ orientierter
Gemeinschaft wird, zum Teil auch unter Beihilfe von Drogen, versucht, ähnlich wie baianisch-tropikalistisch, eben mehr körperlich-sinnlich orientiert, die gemeinsame Zeit zu gestalten. Darauf erfolgt jedoch keine allgemeine öffentliche Anerkennung, die Subkulturen müssen
unter sich, ausgesondert bleiben, und das Gefühl des „Outsider-seins“ bleibt bestehen, bzw.
274
dig, da sie in der Art, wie sie stattfindet, nicht befriedigt, und deshalb kehren
die Triebe, bzw. damit verbundene Unzufriedenheit und damit einhergehend
Gefühle von Defiziten wieder.
Die der baianischen Gesellschaft zugrunde liegenden festgelegten Regeln und Konventionen werden bei Festen durchbrochen, und dies wird allgemein anerkannt, gefördert und ist durchwegs erwünscht und erlaubt. Das
sonst festgelegte Individuum darf sich im kollektiven Einverständnis außerhalb
der sonst gültigen Norm bewegen. Bei religiösen Festen darf es in Ekstase alle
möglichen Verhaltensweisen, die sonst unerwünscht sind und sanktioniert
sind, ausagieren. Sei es im Zustand des ere, der mit kindlich und zurückgezogenem oder albernem, kicherndem Gehabe einhergeht, mit Exú, für den obszönes, sexuell freizügiges Benehmen charakteristisch ist, oder mit Xangô und
Yansã, die ihren Agressionen freien Lauf lassen können. Dafür erfährt es kollektive Bewunderung und Rückhalt.
Auch bei profanen Festen kann sich der einzelne sinnlich und körperorientiert ausleben, und mit kollektiver Erlaubnis sonst verbotene, streng reglementierte Geschlechter- und soziale Schichtenkodices durchbrechen. Die Gesellschaft funktioniert mit dieser Doppelmoral und vielleicht nur so, weil damit Ventile für immense Konflikte geschaffen wurden, die sonst anders und
mit vielleicht unüberschaubaren Aggressionen behaftet, zum Ausdruck kommen würden, bzw. das Machtgefüge der Herrschenden wirklich bedrohen
könnten.
Das beste Beispiel dafür bildet der Karneval, der zehn Tage andauernde
Ausnahmezustand, bei dem alles, bzw. fast alles erlaubt ist und ohne den die
Gesellschaft in der Art, in der sie funktioniert, vielleicht nicht funktionieren
würde. Er ist mit der gleichen Doppelmoral behaftet, es leben die einen ihre
unbefriedigten Wünsche und Gefühle aller Art aus, und dies funktioniert nur
und nur ausschließlich darum, weil wieder andere dafür arbeiten und dafür
ausgebeutet werden.
Trotzdem können sich Individuen aller Schichten mit verschiedenen positiven und negativen Gefühlen ausleben, und der Tourist, wenn er seine Irritation durch die für ihn extrem fremden Zustände überwindet, wird sich dem
kollektiven Rausch hingeben und für ihn ähnliches, vielleicht in anderer Art
erleben und sich hier, begrenzt auf diesen Ort und diese Zeit, von seinem kulturellen Ballast befreien. Er wird sich in für ihn außergewöhnlichen, nicht alltäglichen und nur außerhalb seiner Kultur stattfinden könnenden, ekstatischen
Zuständen bewegen.
Vielleicht hat dies zur Folge, daß er durch all das Neuerlebte Teile seiner Identität in Frage stellt, da er Sinnlichkeit daheim nicht in dieser Art und
Weise erlebt. Allgemein ist zu erwarten, daß dies nicht geschieht, da er, wie
beschrieben, die Auseinandersetzung mit sich selbst, seiner Kultur und Gesellschafft neue Schuldgefühle und beinhaltet zudem oftmals Trotz an der Gesellschaft bzw. an
eigenen unbewältigten Familienstrukturen.
275
schaft im allgemeinen verdrängt und, vielleicht wie sein baianischer Gegenspieler ebenfalls, verdrängen muß, um die Alltäglichkeiten und äußeren Umstände, denen er erliegt oder meint zu erliegen, zu ertragen.482
4.15.2.1
Brasilien exportiert mehr Musik als Kaffee
Was der baianische Gastgeber alles für den Touristen verändert und inszeniert
hat, bemerkt der Urlauber nicht, ebensowenig wie dessen Motive, die ihn dazu
führten. Seine Schaulust und Neugierde wurden und werden in vielen Bereichen befriedigt. Er ist so begeistert von der baianischen Kultur mit den ihm
gebotenen ekstatischen Momenten, daß er etwas davon mit nach Hause nehmen will.
Diese Bedürfnisse hat sein Gastgeber erkannt, geschürt und vermarktet
baianische Kultur nun erfolgreich an die Touristen und neuerdings ebenfalls an
dessen Heimatländer. Dabei spielt der Musiksektor die größte Rolle, und dies
paßt in die neue Welle der „ethno- und world-music“ in Europa. Durch die Musik werden ekstatische Elemente transportiert, die in Rhythmus, Melodien und
Gesänge gebunden sind. Brasilianische und vor allem baianische Musiker und
Bands werden in den letzten Jahren immer häufiger nach Europa eingeladen
und faszinieren nicht nur schon dort gewesene Touristen, sondern locken ebenfalls neue nach Bahia.
Trommel, Tanz- und capoeira-Workshops werden in Europas Städten erfolgreich angeboten und vermarktet, oftmals unter der Bezeichnung des Kulturaustausches bzw. des Kennenlernens brasilianischer, explizit baianischer
Kultur. „Die Trommelrhythmen aus dem Erbe des candomblés faszinieren mit
einem kultischen und tanzanimierenden Swing.“ Mit diesen und anderen Worten warb z.B. die Veranstaltungsreihe „Axé Brasil“ 1994 in Berlin wohl erfolgreich, für die afro-brasilianische Gruppe Ilê Aiyê und deren Musikveranstaltung: „Die Nacht der schwarzen Schönheit“. Die Exotik des baianischen Tropikalismus, explizit dessen magische Komponente ist in der nördlichen Hemisphäre in einigen Freizeit- und Kulturangeboten zu einem faszinierenden
Thema geworden.
Karnevaleske Veranstaltungen in Amsterdam, Rotterdam, Kopenhagen,
Zürich und seit 1996 auch in Berlin (Karneval der Kulturen mit der baianischen
Musikband Olodum als Hauptattraktion) mit dem Thema: „Tropikalismus aus
Brasilien“ scheinen genau den Nerv der Zeit zu treffen und mit den Werbestrategien der baianischen und europäischen Tourismusorganisatoren übereinzustimmen.
482
Den Mut zu Veränderungen hat er meist nicht, und die Möglichkeiten dazu sind immer mit
immenser persönlicher Arbeit, und Kräfteaufwand verbunden, vergleichbar vielleicht mit harter langjähriger Arbeit, die mit einer Psychoanalyse oder anderen Selbsterkenntnisprozessen
einhergeht und anderen Entwicklungen, die viele Schritte der Veränderung des gewohnten
Raumes bzw. Verhaltensmuster bedingen und erst mal Einbußen von Sicherheit mit sich bringen, bevor neue selbstbestimmte Sicherheiten und Zufriedenheiten entstehen.
276
Die entzauberte westliche Welt, geschlagen mit dem Fluch der Sonnenlosigkeit, läßt sich jetzt vom farbenfrohen baianischen Tropikalismus bezaubern. Heimgekehrte Touristen können dabei noch einmal in Erinnerungen
schwelgen, und neue Touristen werden angeworben.
4.15.3 Professionalisierung der afro-brasilianischen
religiösen Spezialisten und Künstler
Auf dem Markt hat sich, wie sich daraus entnehmen läßt, eine größere Szene
der baianischen Ekstase-Kultur-Importeure und -Exporteure entwickelt. Zum
Teil handelt es sich um Personen aus der Tourismusbranche Salvadors, zum
Teil um baianische Geschäftsleute, die erkannt haben, daß sich der Tourismus
Salvadors gut und einträglich entwickelt und sich dabei die Merkmale Bahias,
die afro-brasilianische, bzw. afro-baianische Kultur vermarkten lassen.
Ausländer der „ersten Welt“, welche in diese Branche eingestiegen
sind, sind oftmals kulturelle Überläufer, die sich von ihrer eigenen westlichen
Kultur distanzieren und die baianische Kultur verherrlichen. Besitzer von Reisebüros schließen sich dem Trend der Vermarktung „des magischen Bahias“ an
und bieten capoeira, Tanz- und Trommelworkshops und candombléVorführungen nun schon im Vorfeld als festen und hauptsächlichen Bestandteil
der zu buchenden Reise an. Man kann sich nun eigens dafür organisierten Reisen ins dafür präparierte Bahia anschließen.
Die damit verknüpfte, in den verschiedenen Kapiteln mehrfach beschriebene Spezialisierung und Professionalisierung der afro-brasilianischen
Kulturschaffenden aus allen erwähnten Bereichen stellt für viele Personen
eine Chance dar, der Marginalität zu entfliehen. Der Prozeß beinhaltet jedoch
keine dauerhafte Anerkennung im eigenen Land, bei den eigenen Mitgliedern
der Gesellschaft. Gesellschaftliche Aufwertung der „ekstatischen schwarzen
Kunst“ bleibt für die meisten weißen baianos unerwünscht. Sie wollen an der
Vermarktung der afro-brasilianischen Kultur alleine verdienen und benutzen
die Afro-Brasilianer für diese Zwecke. Die erfolgende Ausbeutung wird als diese allgemein nicht erkannt, bzw. die Vermarktungsstrategien sollen nicht
transparent werden.
Chancen, dies zu durchbrechen, bestehen für die Afro-Brasilianer, indem sie sich die Prozesse gemeinsam bewußt machen und sich nicht der Illusion hingeben, durch Schaffung neuer Verdienstquellen gesellschaftliche Probleme gelöst zu haben, wie z.B. MNU, Olodum und Ilê Aiyê anstreben. Afrobrasilianische Kultur ist in Mode und wird im Moment auch von weißen Brasilianern konsumiert. Jedoch kann man daraus ebenfalls nicht schließen, daß es
sich um einen andauernden Zustand handelt, der Berufe und Verdienste zukunftsträchtig sichern würde.
Durch die Medien wird die Mode forciert und bestimmt, und es ist eigentlich voraussehbar, daß es sich dabei nicht um einen Dauerzustand handelt. Viele Afro-Brasilianer in der Tourismusbranche und den ethnischen Berufen sind froh darüber, daß sie jetzt überhaupt etwas verdienen im Gegensatz
277
zu früher, wo sie keinerlei oder in anderen Bereichen wesentlich geringere
Chancen hatten. Aber ihre Verdienste sind, gemessen an dem Lebensstandard,
der eigentlich zu erfüllen wäre, nach wie vor zu gering, und für viele ist keinerlei Verbesserung in Aussicht.
Das gesellschaftliche Problem der Ausbeutung bleibt bestehen, die Verdienste der Unterschicht, zu denen sie meistens nach wie vor gehören, beruhen auf einem salário minimo oder wenig mehr. Die Wertung des Künstlerberufes ist gering geblieben, außer es handelt sich um einen „Superstar“ in der
Musik- oder Sport-Branche. Die baianische Gesellschaft, konstruiert von Weißen, ist so strukturiert, daß die Weißen die höheren Verdienstchancen haben,
und dies wollen sie sich erhalten. Nicht umsonst sieht man keine oder kaum
schwarze Politiker, welche in der Realität bisher als einzige die Interessen der
Schwarzen vertreten.
Die Schaffung von dauerhaftem Selbstbewußtsein und einer Identität
für die Afro-Brasilianer kann nur aus ihren eigenen Reihen erfolgen. Hierbei
sind die blocos afro und afro-brasilianischen Kultstätten wegweisend, wie beschrieben. Sie betreffen immer noch nur einen geringen Teil der Bevölkerung,
sind aber im langsamen Anwachsen begriffen. Das Erziehungswesen ist apolitisch, im Gegenteil, politische Meinungsbildung und Kritik am System sind
nicht erwünscht, und von den Herrschenden wird nach wie vor angestrebt, die
breite Masse des Volkes aus Unter- und Mittelschicht ungebildet und unpolitisch zu halten.
Auch die Medien präsentieren die Interessen der classe alta e branca.
Bildung durch die Medien ist rar und politische Informationen spärlich. Die
Afro-Brasilianer werden in den Medien fast durchwegs negativ dargestellt oder
ihre Existenz verleugnet. Telenovelas ( unterhaltende Fernsehserien), Werbung und andere Filme erhalten den Anschein, daß nur Weißsein positive Lebensqualitäten beinhaltet. Wenn überhaupt Schwarze zu sehen sind, steht
dies immer im Zusammenhang mit Gewalt und Problemen für die Weißen.
Das Bild vom „bösen Schwarzen“ wird nach wie vor aufrechterhalten
und nur dann, als unterhaltender oder einheizender Künstler, im außeralltäglichen Ausnahmezustand wie im Karneval und bei bestimmten Festen
positiv verändert, wenn er dadurch für den „guten Weißen“ zu vermarkten ist.
5 Ausblick
Thema der vorliegenden Arbeit war die Analyse des Tourismus als kulturverändernder Faktor in Salvador da Bahia. Dabei richtete sich mein Augenmerk
primär auf die verschiedenen Motive, die zur Kontaktaufnahme zwischen Bevölkerung und Tourist führen. Darüber hinaus beinhaltet diese Studie eine Untersuchung der afro-brasilianischen Kultur und deren Verhältnis zur dominanten Gesellschaft. Unter den afro-brasilianischen Religionen stellt sich insbesondere der candomblé als Mittelpunkt dar, um den herum sich die anderen
kulturellen Schöpfungen ranken.
278
Ziel meiner Arbeit war es zu zeigen, wie sich durch den aktuellen
Einfluß von Tourismus in Salvador religiöse und profane Feste und die Identität, bzw. das Selbstverständnis der Afro-Brasilianer verändern. Die von Touristen besuchten Feste sind kulturelle Leistungen, die mit allen anderen Merkmalen der Kultur untrennbar verknüpft sind.
Der Tourismus hat in Salvador die Folklorisierung vieler Elemente der
afro-brasilianischen Kultur und deren Vermarktung vorangetrieben. Dennoch
hat sich der Tourismus auf das Selbstbewußtsein der Afro-Brasilianer positiv
ausgewirkt, da Fremde aus anderen Kulturen ihre Künste und Arbeit höher
bewerten als die eigene Gesellschaft. Gleichzeitig wurden aber Wünsche und
Hoffnungen geweckt, die an der gesellschaftlichen Realität Bahias scheitern
müssen.
Die überwiegend weiß geprägten, dominanten Schichten der salvadorianischen Gesellschaft haben einen durch Angebot und Nachfrage bestimmten
Markt afro-brasilianischer Kulturleistungen geschaffen. Die Nachfrage stimulieren sie gezielt durch touristische Werbekampagnen, das Angebot stellen sie
durch die kreativen und körperlichen Leistungen der überwiegend schwarz
geprägten, unteren Schichten zur Verfügung.
Beide, gesellschaftlich erfolgreiche Weiße und diskriminierte Schwarze
sind in der neu geschaffenen Tourismusbranche aufeinander angewiesen. Hier
spiegeln und wiederholen sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die
seit der Zeit der Sklavengesellschaft Gültigkeit haben. Sie stellen sich in vielen Bereichen so dar, als sei lediglich die Titulierung der Afro-Brasilianer als
„Sklaven“ abgeschafft worden.483 Der Lohn der Schwarzen übersteigt selten
oder nur kurzfristig während der touristischen Saison den Rahmen des gesetzlichen Mindestlohns, dem heute etwa 100 Dollar entsprechen.484 Sie befinden
sich in einem andauernden Kampf ums tägliche Überleben.
Die in diesem Zusammenhang entstandene Kategorie der afrobrasilianischen „ethnischen“ Berufsgruppen, welche nun national und international das Symbol der baianidade485 präsentieren, wurde in meiner Arbeit analysiert.
Dabei stellte sich heraus, daß sie in der gesellschaftlichen Hierarchie
meist die gleichen Statuspositionen einnehmen wie ihre Vorfahren in der Sklavenhaltergesellschaft. Nur durch beträchtliches politisches und gesellschaftliches Engagement werden sie sich künftig einen angemessenen Platz in der
Gesellschaft erstreiten können.
483
Die verschiedenen neuen Bewegungen der Schwarzen dagegen, wie die MNU, wurden in
Kapitel 4 dargestellt und behandelt. Noch haben sie die breite Masse der Bevölkerung nicht
erreicht, haben jedoch zukunftsweisenden Charakter.
484
Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Lebenshaltungskosten in Brasilien sich heute in vielen
Bereichen an ein europäisches Niveau angeglichen haben.
485
Baianidade: das „baiano-sein“; Vgl. Kapitel 3.3.1.2.
279
Im Moment erliegt Salvador mit der kulturellen Vermarktung der afrobrasilianischen Künste einem neuen Mythos, dem Mythos der kulturellen Demokratie, welcher auf dem Mythos der Rassendemokratie aufbaut.486 Dieser
Mythos wurde von der Tourismusbranche und den Intellektuellen Salvadors487
geschaffen. Dadurch, daß sich der Alltag „der anderen, der zahlenmäßig überlegenen Minderheit“, der Afro-Brasilianer, keineswegs positiv verändert, wird
deutlich, daß es sich um einen Mythos handelt. Weder die Restaurierung berühmter candomblé-terreiros (z.B.: Menininha de Gantois, deren nun weiß
getünchtes terreiro als nationales Vorzeigeobjekt für den Tourismus herhalten
muß), noch die folkloristische Vermarktung afro-brasilianischer Kulturleistungen, wie beispielsweise Ästhetisierungen von Trance-Tänzen aus dem candomblé, zeugen von wirklicher Wertschätzung afro-brasilianischer Kultur. Dies äußert sich in der Bewertung der erwähnten Tänze als:
„obszöne, bzw. sinnliche Negertänze, welche bei der Ausübung einer
schwarz-magischen Religion von Marginalen, Asozialen getanzt werden“.
(E., Arzt, Salvador)
Hinsichtlich der Frage nach dem Stellenwert des candomblé innerhalb
der baianischen Gesellschaft ergaben sich folgende Schlüsse: Ausgangspunkt
der afro-brasilianischen Kultur war und ist der candomblé. In diesem „ethnischen Raum“ erfolgte und erfolgt unverändert die Stärkung des afrobrasilianischen Individuums in einer gleichgesinnten Gemeinschaft.
Mit der heutigen Zurschaustellung des candomblés während des Karnevals auf der Straße wurde die Idee geboren, wie die Werte schwarzer Kultur
national und international gefeiert werden könnten. Zudem haben die afoxés
und blocos afro eine Gegenreaktion auf den „weißen“ Karneval geschaffen.
Das offene Bekenntnis zu ihrer eigenen Kultur und deren öffentliche
Darstellung war maßgeblich für die Entstehung eines neuen Selbstbewußtseins
der Schwarzen verantwortlich. Auch wenn es noch nicht alle betrifft und in
der erwähnten Form nur für eine kurze, sich jährlich wiederholende Zeitspanne stattfindet, deutet sich ein Wandel an. Die Auswirkungen davon betreffen
jedoch noch nicht alle Bereiche des Aufeinandertreffens zwischen Schwarz
und Weiß.
Einwohner aus allen Schichten Salvadors berichteten mir, daß
Selbstbewußtsein und Haltung der Schwarzen im Alltag sich stark verändert
486
Vgl.: Bacelar (1995:5).
Im Gegensatz zu früher, als sie sich überlegen mit afro-brasilianischer Kultur als existierendes Phänomen beschäftigten, werden heute die kulturellen Werte positiv bewertet und kulturelle, den Afro-Brasilianern dienliche Projekte von den Intellektuellen theoretisch unterstützt.
Es werden jedoch kaum Diskussionen mit politischen Forderungen und gar praktischen Folgen und Auswirkungen geführt, welche der dunkelhäutigen diskriminierten Bevölkerungsschicht helfen würden. Dabei scheint es sich bei vielen um eine Modeerscheinung zu handeln,
welche parallel zu der erfolgenden Aufwertung der kulturellen ethnischen Künste läuft. Die
Aufwertung wiederum erfolgt aus vermarktungsstrategischen Gesichtspunkten. Es verdient
Beachtung, daß durch das Interesse ausländischer Forscher an baianischer Kultur diese auch
für inländische Intellektuelle interessant wird.
487
280
haben. Was heute durchwegs normal erscheint, vor allem in touristischen
Stadtteilen, daß sie den Weißen erhobenen Hauptes ins Gesicht gesehen und
im Kontaktverhalten eine selbstbewußte Haltung eingenommen wird, sei noch
in jüngster Vergangenheit undenkbar gewesen. Zu diesem Verhalten haben
Tourismus und internationaler Musikmarkt wesentlich beigetragen.488
Die Schwarzen haben es jedoch auch verstanden, in einer ihnen feindlich gesonnenen Gesellschaft ihre Chancen, die ihnen Musik, Sport und andere
Kulturleistungen geboten haben, zu nutzen und selbstbewußt ihren Platz in
der Gesellschaft zu fordern. Dieser Prozeß hat schon begonnen, bevor der
Tourismus ein kulturell oder wirtschaftlich relevanter Faktor war. In dieser
Sichtweise erscheint der Schwarze nicht mehr als ohnmächtiges Objekt, das er
in der Sklavenzeit und den Jahrzehnten danach war, sondern immer mehr als
handelndes Subjekt, das die Spielregeln seiner Gesellschaft begriffen hat und
zum eigenen Vorteil anzuwenden versteht (Ara Ketu, Olodum, Ilê Aiyê, u.a.).
In diesem Sinne ziehen die Schwarzen, angefangen beim Verkäufer am Strand
bis zu Organisationen wie Olodum, beträchtlichen Nutzen aus dem Tourismus.
Seit den Anfängen des blocos Ilê Aiyê sind viele neue Perspektiven für
„Schwarz-sein“ vor allem von der Jugend und für sie geschaffen worden und
weiterhin im Entstehen begriffen. Die Bewohner „schwarzer Territorien“ wie
des Stadtteils Liberdade und eines Teilbereich des Pelourinho sind bewußter
geworden. Jedoch, was bringen die 90er Jahre nun wirklich Neues für die Majorität der Afro-Bahianer? Haben sich die damals euphorisch begonnenen Bewegungen durchgesetzt? Was hat sich nun wirklich verändert?
Tatsache ist, daß die Gruppierungen der Schwarzen Strukturen der dominanten Gesellschaft übernommen haben, wie z.B. ihre Vereine zu formalisieren und zu bürokratisieren.
„Sie haben angefangen, es bleiben zu lassen, eine verrückte Bande zu sein, die
gegen die Rassendiskriminierung schimpft, um ihre Stimme mit offizieller
Rhetorik gegenüber dem Weißen zu erheben.“
(Bacelar 1995:11).
Zudem hat sich gegenüber dem früheren strengen und unvariablen und
im politischen Kampf gerechtfertigten „Schwarz kontra Weiß“ ein neues Element herauskristallisiert, welches in Richtung eines kulturellen „Synkretismus“, orientiert am modernen Modell des „Weltenbürgers“489 weist. Wie dies
488
Daß der internationale Musikmarkt und Tourismus eine Funktion erfüllen, welche eigentlich
die Gesellschaft hätte erfüllen sollen, stellt für diese ein Armutszeugnis dar. Dies wird natürlich von den baianos ungern zur Kenntnis genommen.
489
Was dies beinhalten mag, wird von Bacelar 1995 nicht umrissen; jedenfalls den Phantasien
dazu ist freier Raum gelassen, und dies eröffnet ein neues Diskussionsfeld, da nicht klar ist, ob
dies rein positiv oder nicht gar mit vielerlei negativen Komponenten zu bewerten ist oder sogar nur reines Phantasiekonstrukt darstellt, dem jegliche Einordnungsmöglichkeit in eine existierende oder sich entwickelnde Gesellschaft abgeht. Vielleicht gibt er der Vision eines nicht
mehr als schwarz oder weiß bezeichneten Menschen, was ein Ende der Rassenspezifizierung
darstellen würde, den Namen „Weltenbürger“, oder er setzt an die Stelle des „Mythos der
Rassenharmonie“ die „Vision der Rassenharmonie“.
281
in der Praxis zum Ausdruck kommt, muß in einer weiteren Studie untersucht
und diskutiert werden.
Tourismus wurde hinsichtlich seiner kulturvermittelnder Fähigkeit nur
von einigen Afro-Brasilianern positiv bewertet. Jedoch schon allein bedingt
durch sprachlichen Barrieren, handelt es sich hierbei um eine Randerscheinung. Durch Tourismus, das beinhaltet Kontakt zu einer anderen Kultur, könnte Einblick in eine fremde Kultur, die der Touristen ermöglicht werden. Tatsächlich beschränkt sich dies aber meistens auf die materiellen Güter der anderen Kultur. Tourismus könnte somit den kritischen Umgang mit der eigenen,
hier der baianischen Gesellschaft für deren Mitglieder provozieren.490
Tourismus weckt Bedürfnisse,491 die kaum erfüllbar sind und bei vielen
die Illusion der Kulturflucht, den Wunsch nach Mitnahme in die „erste Welt“
entstehen läßt. Individuell gestaltete Phantasien verbinden sich mit dem Begriff der „ersten Welt“. Auch hier wird ein exotisches Paradies vermutet, in
dem es keine Sünde gibt. Hier gleichen sich die Phantasien der Touristen und
baianos von der jeweils fremden Kultur.
Eine der Konsequenzen dieser Haltung ist die Romantisierung der fremden Kultur von beiden Seiten. Wie in der Darstellung des baianischen Karnevals herausgearbeitet, nehmen die meisten Touristen die Vermarktung der
afro-brasilianischen Kultur nicht wahr. Ebensowenig fällt ihnen die Rassenproblematik, die zu diesem Komplex gehört, auf. Sie sehen beispielsweise
nicht, daß die Kordel der blocos und trios elétricos die exakte Trennungslinie
zwischen Schwarz und Weiß symbolisiert.
Den Luxus der Tourismuskritik leisten sich bestenfalls einige materiell
abgesicherte Intellektuelle. Die Mehrheit jedoch ist auf irgendeine Art mit der
Tourismusbranche verknüpft, und sei es nur in bezug auf Zukunftshoffnungen,
Wünsche und Träume.
Die mystische und mythische Bewertung der afro-brasilianischen Kultur
durch die Touristen, welche sich unter anderem während des Karnevals oder
beim Besuch eines candomblé-terreiros oder schon vor der Reise entwickelte,
kann keinen positiven Einfluß auf das reale und alltägliche Leben der Bevölkerung haben. Touristen demonstrieren Unverbindlichkeit und Austauschbarkeit.
In meiner Forschung legte ich besonderen Nachdruck auf die Befragung
und Beobachtung von Spezialisten innerhalb der afro-brasilianischen Kultur.
Hier gibt es momentan im Bereich der „ethnischen“ Berufe neue Sieger, wie
verschiedene schwarze blocos, die mit ihrer Musik im Modetrend liegen und
490
Dies könnte beinhalten, die positiven Werte einer weniger rassistischen Gesellschaft als Vorbild zu nehmen. Auch die gesellschaftliche Stellung der Künstler in der „ersten Welt“ ist höher bewertet und könnte als Ideal dienen.
491
Die Touristen reisen mit Konsumgütern aus der ersten Welt an. Damit wecken sie materielle
Bedürfnisse, die für die unteren Schichten der baianischen Gesellschaft unerschwinglich sind.
Touristen werden aufgrund der von ihnen mitgeführten Statussymbole mit den mittleren und
oberen Schichten der eigenen Gesellschaft identifiziert und entsprechend „aufgewertet“.
282
für Weiße konsumierbar geworden sind. Nicht die Texte von Ilê Aiyê, welche
nur afrikanische „schwarze“ Elemente betonen, sondern Musikkreationen mit
unkritischem Textinhalt von Olodum, Timbalada und Ara Ketu, sind Beispiele,
die bei der weißen Bevölkerung erfolgreich sind. Sie lassen sich heute breit
vermarkten.
Die Musik von Ilê Aiyê wird eher vom europäischen und amerikanischen
Touristen konsumiert, der sich nicht mit der Musik identifiziert, sondern die
pure Exotik vorzieht. Jedoch sind die oben genannten Gewinner der momentanen Mode unterworfen.
Hinsichtlich der Frage nach den Veränderungen durch den Einfluß des
Tourismus läßt sich sagen:
Bislang haben die 90er Jahre für Bahias breite Bevölkerung noch keine
nennenswerten Veränderungen gebracht. Nach wie vor herrscht große Arbeitslosigkeit im Nordosten Brasiliens. Nach wie vor wird Bahia in anderen Teilen
Brasiliens nicht geachtet, seine Bewohner als ungebildet und faul stigmatisiert.492
Nur eines hat sich verändert. Bahia hat begonnen, sich erfolgreich, d.h.
gewinnbringend, touristisch zu vermarkten. Man fährt auch aus dem inländischen Süden nach Bahia sowohl zu den Traumstränden als auch zum Straßenkarneval. Die Reise macht Bahia jedoch nicht gleichwertig mit anderen Reisezielen wie z.B. einer Reise nach Europa. Sie stellt für weiße Brasilianer eine
relativ preiswerte Reise, inklusive Eintauchen in eine exotische Welt, dar. Für
sie hat dies kein Teilen von Privilegien und ebenfalls keinerlei Anerkennung
der afro-baianischen Kultur zur Folge.
Die neuen „ethnischen“ Berufe sind mit dem Tourismus entstanden. Die
Verdienstmöglichkeiten sind jedoch, gemessen an denen der baianischen Mittel- und Oberschicht, gering. Ein angemessener Lebensstandard, welcher zum
Beispiel medizinische Versorgung, Schulbildung und gesundes Essen beinhalten
würde, ist weiterhin undenkbar.
Die Tourismusagenturen vermitteln ein Bild der baianischen Gesellschaft, in dem Problematiken wie Rassismus, Rassenharmoniemythos, branquiamento, Ausbeutung, Diskriminierung und Geschlechterungleichheit nicht vorkommen. Probleme werden übertüncht, um den schönen Schein für in- und
ausländische Touristen zu wahren, siehe am Beispiel des Stadtteils Pelourinho,
wie in Kapitel 3 beschrieben.
Ekstase und alles andere, was der Tourist mit dem ihn exotisch anmutenden „Schwarz-sein“ identifiziert, sind für ihn zur Schau gestellte Komponenten der afro-brasilianischen Kultur. Er konsumiert ohne Reflektion, entsprechend seinen Ferienbedürfnissen. Bahia präsentiert ihm genau das, was
heute in der internationalen Tourismusbranche in Mode ist. Nicht nur mehr
reine Erholungs-, Sport- oder Bildungserlebnisse, auch nicht nur mehr Ethno492
Vgl.: Bacelar 1995.
283
tourismus mit exotischen Elementen, sondern jetzt Ekstase, die mitreißen und
in andere Befindlichkeiten und Zustände führen soll und gegebenenfalls führen
wird.
In Bahia hat Ekstase für die Mitglieder der Gesellschaft bestimmte
Funktionen, die helfen sollen, den Alltag erträglich zu gestalten, ihm zu entfliehen und gesellschaftliche, soziale und persönliche Probleme zu meistern.493 Für den von außen kommenden Touristen kann Ekstase keine der gesellschaftlich erwünschten Funktionen erfüllen. Für Touristen auf der Suche
nach ekstatischen Erlebnissen bleibt die Teilnahme an den Ritualen des candomblé immer eine private, persönliche Angelegenheit, ohne Konsequenzen
oder Verbindlichkeiten. Candomblé und Ekstase reduzieren sich für ihn auf ein
austauschbares Konsumgut auf dem Markt der esoterischen Möglichkeiten.494
Wie sich aus der Analyse meiner Interviews, Gespräche und Beobachtungen herauskristallisierte, beinhaltet die Reise für viele Touristen die Suche
nach neuen Ritualen.495 Andere wollen wiederum nur Trends konsumieren, das
Gefühl haben, „Trendsetter“ zu sein, indem sie „Neues“ ausprobieren. Dadurch sind sie „etwas Besonderes“. Ihre Ziele sind konsumorientiert, dies erstreckt sich heute über alle neuen und fremden Kulturelemente. Auch in diesem Zusammenhang ist nun Ekstase in Mode und erwünscht. Hierfür eignet
sich die afro-brasilianische Kultur in vielerlei Hinsicht.
Der Massentourismus, der heutzutage ebenfalls ein nicht zu übersehendes Phänomen in Bahia darstellt, ist Ausdruck der Schnellebigkeit und Unverbindlichkeit westlicher Industriegesellschaften und ist Bestandteil einer modernen Freizeitkultur.
Der Tourist entflieht seinem Alltag, seiner Kultur, sozialen Bindungen
und gesellschaftlichen Belastungen. Nach ein paar Wochen wird er dort wieder
hineintauchen und nach wie vor die unveränderten Bedingungen, welche ihn
zu belasten zu scheinen, akzeptieren. Er spielt kurzfristig König oder Königin
und kann sich dabei für eine kurze Zeitspanne überlegen fühlen. Dabei demonstriert er Macht gegenüber Ohnmächtigen. Ein weiteres Problem stellt
sich dadurch, daß der Ausländer aus der ersten Welt von der Bevölkerung
prinzipiell als gesellschaftlich höher stehend bewertet wird. Somit wurde eine
neue irreale, soziale Hierarchie erstellt, denn in Wirklichkeit ist oftmals das
Gegenteil der Fall.
493
Die Funktion des candomblés für die Identitätsbildung der Afro-Brasilianer im eigenen ethnischen Raum sowie andere wichtige Funktionen innerhalb des gesellschaftlichen baianischen
Rahmens wurden ausführlich in dieser Arbeit behandelt.
494
Parallelen zum esoterischen Markt in Deutschland existieren. Vgl. zum deutschen Markt:
Zinser (1989b).
495
Graburn (1977:20) stellte sich diese Frage ebenfalls. Zur Klärung davon stellten sich jedoch
weitere Frage, die er übersehen hat. Warum suchen Touristen neue Rituale? Leidet der Tourist
zu Hause unter gähnender Langeweile? Will er seiner Kultur entfliehen? Werden bestimmte,
z.B. religiöse, kulturelle, soziale und emotionale Bedürfnisse von ihm momentan in seiner
Kultur nicht befriedigt? Touristen verbergen manche unerfüllte Sehnsüchte unter dem Deckmantel der Suche nach „spiritueller Erfahrung“.
284
Mein Anliegen ist nicht, einen Stereotypen des nach Bahia reisenden
Touristen aufzustellen, dem sich alle erforschten Motive zuordnen lassen. Es
wurde jedoch sichtbar, daß viele verschiedene Motive gleichzeitig möglich
sind und dem Touristen ebenfalls vieles möglich erscheint. Dies beinhaltet
wiederum die verschiedensten, individuell gefärbten Verlockungen für ihn.
Bewußte und unbewußte Motive der Touristen können sich zu einem undurchdringlichen Dschungel verdichten. Wer gut verdrängt, muß nicht hinterfragen.
Der gesamte Komplex führte ebenfalls zur Betrachtung der eigenen Gesellschaft, deren Grenzen und Möglichkeiten sich individuell höchst verschieden äußern können. Man kann die Lösung gesellschaftlicher und individueller
Probleme in Geistern suchen, bzw. ihnen übergeben, was dem aktuellen Esoterik-Boom entspricht. Die Problemlösung kann jedoch real nicht durch Geister erfolgen, egal, aus welcher Kultur sie stammen.
Die geschilderte Problematik der Begegnung zwischen Touristen und Einheimischen zeigt, daß ein fruchtbarer Kulturkontakt auch Verständnis und
Sensibilität für „das Fremde“ erfordert. Hier könnten EthnologInnen und ReligionswissenschaftlerInnen Verantwortung übernehmen und im Bereich des
Tourismus sowie im Bereich der Schule und Erwachsenenbildung, Menschen
auf die Begegnung mit dem „Fremden“, sei es in der eigenen oder in einer
fernen Gesellschaft, vorzubereiten.
Durch den Einfluß des Tourismus haben sich in Salvador die Feste massiv verändert. Zum einen sind sie besser organisiert, zum anderen mehr auf
die Ansprüche der Weißen abgestimmt und bekommen zunehmend folkloristischen Charakter. Den Ansprüchen der armen Bevölkerung werden sie immer
weniger gerecht. Getränke, Bier und Essen z.B. werden beständig teurer, wodurch ein Großteil der Bevölkerung nicht mehr oder nur noch eingeschränkt
mitfeiern kann. Vieles wirkt nur noch wie eine Inszenierung für Touristen, was
diese jedoch nicht bemerken können.
Anläßlich einer internationalen Tagung von Tourismusmanagern im
Herbst 1996 wurde in Salvador ein außerplanmäßiger Karneval organisiert, mit
dem Ziel, den baianischen Straßenkarneval noch bekannter zu machen und
seine Attraktivität für den Tourismus zu unterstreichen. Noch gehören Karneval, Samba, Fußball und Capoeira alleinig zur Domäne der Afro-Brasilianer.
Eine zunehmende Kommerzialisierung birgt z.B. jedoch die Gefahr der Verkümmerung des Straßenkarnevals zum reinen Defilee, der Vertreibung der
Schwarzen von den Straßen. Der Karneval von Rio sollte ein warnendes Beispiel sein. Wenn die Weißen die schwarzen Bereiche zu dominieren beginnen,
besteht die Gefahr, daß für die Schwarzen immer weniger übrig bleibt.
Die meisten baianos bewerten Tourismus positiv, da er persönliche Anerkennung und Geld bringt. Doch diese Anerkennung für Personen aus „ethnischen“ Berufen ist zweifelhaft, da sie nicht zu einer Höherbewertung in der
eigenen Gesellschaft führt. Die Abhängigkeit vom Tourismus wird leicht übersehen. Es gibt keine Bestrebungen, die Gewinne aus dem anwachsenden Tourismus in gesellschaftlich relevante Projekte wie Bildung, die medizinische
285
Versorgung oder den Ausbau der Infrastruktur zu investieren oder gar zur Überwindung aktueller sozialer Probleme (beispielsweise zur Reintegration von
Straßenkindern) zu verwenden. Es wäre wünschenswert, aus den verheerenden Folgen, die der „wilde“ Tourismus an anderen Orten gezeitigt hat, Lehren
zu ziehen und durch geeignete Maßnahmen einen kulturell und ökologisch
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40 anos no mundo da mediunidade. São Paulo, Ed. Luz no Lar.
YINGER, MILTON J.
1957:
Religion, society and the Individual: an introduction to the sociology of religion. New York.
ZIÉGLER, JEAN
1972:
O Poder Africano. Elementos de uma sociologia política da Africa negra e de sua diáspora nas Américas. São Paulo.
301
1977:
Die Lebenden und der Tod. Darmstadt.
ZIER, URSULA
1987:
Die Gewalt der Magie. Krankheit und Heilung in der kolumbianischen Volksmedizin. Berlin.
ZINSER, HARTMUT
1985:
1988a:
1988b:
1989a:
1989b:
1990:
1990:
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1993:
Das Problem der psychoanalytischen Mytheninterpretation. In: Faszination des Mythos. Hrsg.: R.
Schlesier. Basel/Frankfurt, Stroemfeld/ Roter Stern.
Ekstase und Entfremdung. In: Zinser (Hrsg.): Religionswissenschaft - eine Einführung, S.274-284,
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Übernachtungen in Hütten am Fluß. Entfremdung und das Fremde - Zur Faszination des Exotischen.
Religionspsychologische Bemerkungen zum Orakel und anderen Divinationsverfahren. In: Fragmente
29/30, S. 183-187.
Wissenschaftsverständnis und Bildungsaberglaube in: P.Antes / D. Pahnke. Die Religionen von Oberschichten. Marburg.
Ekstase. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Hrsg.: H. Cancik. Stuttgart, Kohlhammer.
Besessenheit. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. II, Hrsg.: Cancik. Stuttgart, Kohlhammer.
Symbol und Bündnis - Nachtrag zur Verwendung der psychoanalytischen Symboltheorie in der Religionswissenschaft. In: Foedera Naturai - K. Heinrich zum 60. Geburtstag, Hrsg.: Zinser/Stentzler/Kohl.
Religion auf dem Markt - Das New Age im Rahmen der europäischen Religionsgeschichte. In: Widerspruch - 26/93.
ZWEIG, STEFAN
1994:
Brasilien, ein Land der Zukunft. Frankfurt. (Original 1941).
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Brasilien__________________________________________________ 22
Abbildung 2: Oxalá ____________________________________________________ 70
Abbildung 3: Yemanjá __________________________________________________ 71
Abbildung 4: Oxóssi ___________________________________________________ 72
Abbildung 5: Ogum ____________________________________________________ 73
Abbildung 6: Oxum ____________________________________________________ 74
Abbildung 7: Xangô____________________________________________________ 74
Abbildung 8: Omolu ___________________________________________________ 76
Abbildung 9: Exú______________________________________________________ 77
Abbildung 10: Yansã ___________________________________________________ 78
Abbildung 11: Ossâim __________________________________________________ 79
Abbildung 12: Nanã Buruku _____________________________________________ 81
Abbildung 13: Festa da Boa Morte _______________________________________ 165
Abbildung 14: Tempel von Yemanjá______________________________________ 166
Abbildung 15: Festa da Yemanjá_________________________________________ 167
Abbildung 16: Festa da Yemanjá_________________________________________ 168
Abbildung 17: Festa da Yemanjá_________________________________________ 169
Abbildung 18: Afoxé Filhos de Gandhi____________________________________ 170
302
Abbildung 19: AfoxéKorin Efan _________________________________________ 171
Abbildung 20: Bloco Afro Malê Debalê ___________________________________ 172
Abbildung 21: Bloco Afro Malê Debalê ___________________________________ 173
Abbildung 22: Bloco Afro Malê Debalê ___________________________________ 174
Abbildung 23: Bloco Afro Olodum _______________________________________ 175
Abbildung 24: Bloco Afro Olodum _______________________________________ 176
Abbildung 25: Bloco Afro Ilê Aiyê _______________________________________ 177
Abbildung 26: Bloco Afro Ilê Aiyê _______________________________________ 178
Abbildung 27: Capoeira________________________________________________ 179
Abbildung 28: mãe-de-santo ____________________________________________ 180
Abbildung 29: Karneval________________________________________________ 181
Abbildung 30: Straßenjunge ____________________________________________ 182
Abbildung 31: Pelourinho ______________________________________________ 183
303
7
Glossar
abará
(yorub.) rituelle Speise im candomblé; aus Bohnen, Palmöl, Zwiebeln und Gewürzen bestehend, in einem Bananenblatt gekocht.
abolição
Aufhebung der Sklaverei
abrasileiramento
„Brasilianer werden“
Acarajé
(yorub.) Rituelle Speise Yansãs. Bällchen aus Fradinhos (getrocknete Bohnen) und getrockneten Krabben, in Dendê-Öl fritiert;
typisches baianisches Gericht, das auf der Straße verkauft
wird.
afoxé
(yorub.) Karnevalsgruppe mit Liaison zum candomblé und zu afrikanischen Kulturen.
Aganyu
(yorub.) Sohn von Yemanjá und Oxalá, der seine Mutter vergewaltigte.
Agni
Oder Anyi; Ethnie der Elfenbeinküste.
agogô
(yorub.) Doppelglocke; Musikinstrument
Ambundu
Ethnie in Angola (Zentralafrika).
Ara Ketu
Bloco Afro aus Salvador mit heute international erfolgreicher Band
Ashanti
Afrikanische Ethnie des südlichen Ghanas, Togo und der Elfenbeinküste; von dort gelangten Sklaven nach Brasilien.
Assembléias de Deus
evangelische Pfingstkirche
atabaque
(port.) Faßtrommeln in drei verschiedenen Größen, im candomblé
verwendet. Die größte der drei heißt rum (Begriff aus dem jeje)
axé
(yorub.) Vitalkraft der orixás, die sich in der Natur, Objekten,
Pflanzen, Metallen, Steinen, etc. manifestiert. Sakralen Pflanzen und Tierblut sind im Ritual verwendete axé-Träger. Axé
wird durch die verschiedenen Rituale im candomblé gestärkt
und auf die Menschen übertragen.
ayé
(yorub.) die Erde
babalorixá
(yorub.) Vater einer candomblé-Gemeinschaft; Kultleiter
babá
(yorub.) Vater
Bahia de Todos os
Santos
Bucht aller Heiligen
baiana
(port.) Acarajé- und Abará-Zubereiterin und Verkäuferin; meistens
mit einem Candomblé-terreiro liierte filhas-de-santo, in weißer
Tracht.
Baianidade
„Baiano sein“
baiano
Bahianer
Bangala
Zentralafrikanische Ethnie in Angola
304
Bantu
Sprachgruppe hauptsächlich im westlich zentralafrikanischen
Raum.
Barco
(port.) Boot; Initiationsboot, Gruppe der gemeinsam Initiierten
Barra
Stadtteil in Salvador
barracão
Schuppen
barracas
Verkaufsstände
Barroquinha
Stadtteil in Salvador
batuque
(yorub.) Synonym: Pará; afro-brasilianische Religion in Rio Grande do Sul; auch Tanz. Bras. Bezeichnung für Tänze der ehemaligen schwarzen Sklaven
bazar de caridade
Wohlfahrtsbazar
berimbau
(yorub.) Musikinstrument beim capoeira, aus Kalebasse, Stahlseite
und Stock.
Bloco de trio
Karnevalsverein mit Wagen mit Musikern
blocos afro
schwarze Karnevalsvereinigungen
boa aparençia
„gutes Aussehen“, Synonym für „Schwarze unerwünscht“.
Boa Morte
(port.) Senhora da Boa Morte, katholische Schutzpatronin der
Schwesternschaft in Cachoeira
bori
(yorub.) "dem Kopf zu essen geben", Zeremonie zur Stärkung des
Kopfes; Bestandteil der Initiation
Bornu
Altes Sahel-Reich; ca. im 16.Jh. in Nordnigeria und Niger
bossa nova
bras. Musikstil
Branqueamento
„Weißwerdungsprozeß“
bumba meu boi
Folkloretanz
buscando patrão
auf der Suche nach einem Chef, Patron, Arbeit
caboclo
(port.) Indianergeist, Seele eines indianischen Vorfahrens; auch
Name der bäuerlichen Landbevölkerung des Nordosten Brasiliens, Mischlingen aus Indianern und Weißen.
Caça gringas
Touristinnen-Fänger(Innen)
caça gringos
Touristen-Fänger(Innen)
cachaça
Zuckerrohrschnaps
Cachoeira
ehemaliger Handels- und Sklavenumschlagsort im Recôncavo
cafézinho
kleiner Café
caipira
Landmann
Campo Grande
Platz in Salvador
candombé
afro-brasilianische Religion
305
candomblé
Afro-brasilianische Religion afrikanischen Ursprungs, primär aus
Bahia stammend.
Candomblé de angola
Kult mit angolanischem Ursprung, deren Kultsprache eine Mischung aus Bantu und Portugiesisch ist
candomblé de caboclo
Kult für die indianischen Ahnengeister. In manchen Kultstätten
werden parallel orixás und caboclos verehrt.
Candomblé jeje-nagô
afro-brasilianischer Kult der Jeje und Nagô (Yoruba).
Candomblé nagô-ketu
Kult mit Yoruba-Ursprung mit Jeje-Elementen
candomblé-terreiro
(port.) candomblé-Kultstätte.
Cantiga
(port.) Lied. Beim candomblé haben verschiedene cantigas wichtige Funktionen im Ritualablauf.
Canudos
Ort der politischen „Canudos-Befreiungsbewegung“
capoeira
afro-brasilianischer Kampftanz, den die Sklaven früher im Verborgenen praktizierten. Capoeira wird mit Gesang und afrobrasilianischen Musikinstrumenten begleitet.
Capoeira angola
die ursprüngliche capoeira.
Capoeira da rua
Straßencapoeira.
Capoeira regional
(port.)die spätere regionale, eher akrobatische Capoeira, von
Mestre Bimba in Salvador in den 30er Jahren entwickelt.
Capoeirista
(port.) Person, die Capoeira ausübt.
Caridade
(port.) Nächstenliebe, im Umbanda und Kardezismus betont und
praktiziert.
Casa grande
(großes Haus) Herrenhaus
catimbó
(yorub.) Ursprünglich indianischer Kult, der sich mit afrikanischen
Elementen vermischte und eine der afro-indianischen Religionen im Nordosten Brasiliens darstellt.
Cauri
Kaurimuschel
cavalho
Pferd
caxixí
Korbrassel
ceia branca
weiße Messe
cerveja
Bier
Chapa Diamantina
Gegend im Innern Bahias
Chico Xavier
Francisco Candido Xavier, kardezistisches Medium.
classe alta
Oberschicht
classe baixa
Unterschicht
classe média
Mittelschicht
Congregação Crista
Name von einer der evangelischen Religionen in Brasilien
306
consulta
port.) Beratung; Begriff der für die Konsultation einer Divinationsspezialistin verwendet wird.
Cordas
Seile
cordel
Cordel – Literatur aus dem Nordosten.
Crente
(port.) gläubig, Bezeichnung für Angehörige der protestantischen
Sekten.
Curar
(port.) heilen.
Curuzú
Stadtteil von Liberdade
dança
(port.) Tanz
dando barravento
„Windsperre geben“
dar passes
(port.) Handauflegen, Weihungen, Reinigungen spenden.
Defumação
(port.) Rituelle Reinigung mit Rauch, die im Umbanda angewendet
wird.
Degregado
(port.) Degradierter
Dembo
Möglicherweise Ndembu; afrikanische Ethnie in Zambia.
Dendê-Öl
Palmöl
Don Pedro II.
Brasilianischer Kaiser von 1840-1889, der die Zentralmacht in Rio
de Janeiro stabilisierte.
dono da cabeça
(port.) Herr des Kopfes; der wichtigste orixá, der zu einer Person
gehört.
donos da terra
Landbesitzer
ebó
(yorub.) Opfer für einen orixá
Egba
Ethnie in der Volksrepublik Benin
egun
(yorub.) Mehrzahl eguns; Totengeister.
Egun-Kult
Spezielle den eguns gewidmete Rituale, insbesondere auf der Insel
Itaparica bei Salvador.
eguns
„Totengeister“
ekede
(yorub.) Titulierung einer Initiandin, welche die erste Phase der Initiationszeit durchlaufen hat, aber noch nicht in Trance fällt.
Gehilfin bei öffentlichen Ritualen.
Elegbara
Synonym für Exú
encontro
Treffen
engenho
(port.) Zuckerrohrplantage.
Ere
(yorub.) Infantile Manifestation der Orixás, auch leichte, kindhafte
Trance
escola-de-samba
(port.) Samba-Schule, die den Karnevalsvorbereitungen dienen.
307
espaço negro
„schwarzer Raum“
espírito
(port.) Seele, Geist.
Estado de santo
(port.) Zustand des Heiligen; Zustand bei dem sich die orixás (santos) während der Kulte in Personen manifestieren während einer festgelegten Ritualabfolge.
Euá
(yorub.) orixá; Bruder von Oxum und Yansã.
Ewe
Synonym :Gege und Jeje; afrikanische Ethnie in Südost-Ghana,
Süd-Dahomey und Süd-Togo. Ursprungsethnie vieler brasilianischer Sklaven.
Exú
(yorub.) Synonym: Elegbara, Botschafter zwischen den Menschen
und den Göttern, Hüter der Wegkreuzungen; manchmal gleichgesetzt mit dem Teufel.
Família-de-santo
(port.) Familie der Heiligen; Bezeichnung für eine candombléGemeinschaft, die familienähnliche Strukturen aufweist.
Fantasias
Karnevalskostüme
Fanti
Etnie in Ghana.
favela
Slums, Elendsviertel
fazenda
(port.) Farm, Landgut.
Fazer o santo (feitura)
(port.) den Heiligen machen; Initiation, Einweihungsritus für Kultleiter-Anwärter und Anwärterinnen.
Federação Espírita
Brasileira
spiritistische Föderation Brasiliens
feijoada
bras. Nationalgericht: Bohneneintopf
feitores
Sklavenaufseher, der meist Mestize war
filha-de-santo
(port.) Tochter-des-Heiligen, brasilianische Bezeichnung für weibliche Initiierte, auch iao (yorub.)genannt. Sie wird die geistige
Tochter der Kultleiterin.
Filhas de Oxum
baianischer afoxé, nur aus Frauen bestehend, assoziiert mit Filhos
de Gandhi
Filho-de-santo
(port.) Sohn des Heiligen: Bezeichnung für männliche Initiierte.
Filhos de Gandhi
„die Söhne Gandhis“
folhiões
Narren
Fon
Westafrikanische Ethnie in der Volksrepublik Benin (Dahomey).
Forças Armadas
brasilianisches Militärarmee.
Forró
Musik- und Tanzrichtung aus dem Nordosten Brasiliens
ginga
Hüftschwung; der wiegende Grundschritt der capoeira
Grupo Famíliar do
Espiritismo
familiäre spiritistische Gruppe
308
Gurunsi
Ethnische Gruppe in Burhima Faso und Nordghana.
Hausa
afrikanische Ethnie in Nord-Nigeria, Tschad, Niger, Sudan. und
Obervolta.
Ialorixá
(yorub.) „Mutter des Heiligen“, Synonym mãe-de-santo
iaô
(yorub.) „Tochter des Heiligen“, Synonym filha-de-santo
Ifá
mythische Gestalt aus den Welterschaffungsmythen der Yoruba;
Synonym: Orunmila
Ifé
(yorub.) heilige Stadt der Yoruba.
Igreja Universal do
Reino de Deus
Name von einer der brasilianischen evangelischen Pfingstkirchen
Ijexá
(Yorub.) ein ehemaliges Yoruba-Königreich in Westafrika.
Ilê Aiyê
(yorub.) „Haus der Welt“; der erste bloco afro Salvadors
Indústria de espetáculo e do lazer
Vergnügungs- und Freizeitindustrie
irmandade
(port.) Schwesternschaft der katholischen Kirche.
Irmandade da Boa
Morte
(port.) Schwesternschaft in Cachoeira.
Irmãs de bolsa
Novizinnen der irmandade Boa Morte
Iroko
(yorub.) orixá, Sohn von Nanã Buruku und Oxalá.
Irradiação
Ausstrahlung
jeito de ser baiano
baianisches Verhaltensweisen
jogo-de-búzios
(port.) Kaurimuschel-Divinationsverfahren
jurema
spezielles Getränk mit Kräutern und Tierblut bei caboclo-Festen
Kabinda
Stadt in Angola
Kardecismo
Kardezismus
Kardek, Allan
Begründer des spiritistischen Kardezismus.
Kaurimuschelorakel
Orakel aus dem Candomblé, Umbanda und Macumba. Mit Hilfe
von 16 Kaurimuscheln wird die Zukunft gedeutet.
Ketu
(yorub.) Name eines Yoruba-Königreich im heutigen Benin; Bezeichnung für eine nação.
Kongo
Zentralafrikanische Ethnie in der Republik Kongo.
Korin Efán
baianischer afoxé, hervorgegangen aus den Filhos de Gandhi
Kru(mans)
Kom, nach Nigeria zurückgekehrte ehemalige Sklaven.
lavagem
Kirchtreppwaschung
Lavagem do Bonfim
lavagem zu Ehren des Hl. Bonfim
Lenda
(port.) Legende
309
Liberdade
(port.: Freiheit) und Stadtteil in Salvador
linha verde
die grüne Küstenlinie nördlich von Salvador
Macedo
religiöser Machthaber der Igreja Universal do Reino de Deus
machismo
Verhaltensweisen der bras. Machos, Männer; männliches Imponiergehabe
maculelê
afro-brasilianischer Stocktanz, der der capoeira verwandt ist.
Macumba
Afro-brasilianische Religion aus den 30er Jahren in den urbanen
Ballungszentren des Südens Brasiliens; auch Schimpfwort für
Religionen der Schwarzen Brasiliens und Begriff der für
"schwarze Magie" verwendet wird.
Mãe Meninha de
Gantois
Eigennamen einer Priesterin des candomblés
mãe pequena
(port.) Kleine Mutter; bras. Bezeichnung für die zweitwichtigste
Person der Hierarchie des Candomblés, der Assistentin der
mãe-de-santo.
mãe-de-santo
(port.) Mutter des Heiligen; Ialorixá (yorub.); Kultleiterin, Oberhaupt der candomblé-Gemeinschaft.
magia negra
„schwarze Magie“
Malê
islamisierten Sklaven, die 1835 in Salvador einen der größten Sklavenaufstände initiierten
malícia
Verschlagenheit, Schläue, Gerissenheit, gehört zum Repertoire eines guten capoeirista
Mandinga
Westafrikanische Sprachgruppe in Mali.
marianismo
„Mütterlichkeit“
matanças
(port.), Opfer, die im Morgengrauen eines Festtages den orixás,
oder am späten Nachmittag den caboclos dargeboten werden
Matriz
Kirche in Cachoeira
Medium
Priester, Priesterin, Kultangehörige, die mit Geistern kommunizieren, bzw. sie empfangen.
Mercado modelo
ehemaliger Sklavenmarkt in Salvador, heutiger Touristenbazar
Mestre Bimba
Gründer des capoeira regional.
Mestre Pastinha
Gründer des capoeira angola.
Mestres
Meister des capoeira.
Minas Gerais
bras. Bundesland
Mirim
Kinder-Gruppe
missa de corpo presente
Totenmesse
Momo
Karnevalskönig
310
Movimento Negro
(port.) Bewegung der Schwarzen Brasiliens gegen Rassismus, Unterdrückung und zur Förderung ihrer eigenen Kultur afrikanischen Ursprungs. Seit den 70er Jahren in den Großstädten verbreitet.
Muqueca
baianisches Fischgericht
nação, nações
(port.) Nation (ethnische Gruppe); Begriff für die Bezeichnung und
Zuordnung der ehemaligen Sklaven nach ihrer Ursprungsethnie, ebenfalls beim candomblé zur Unterscheidung verwendet.
Nagô
(yorub.) diskriminierender Name der Jeje für ihre Nachbarn, die
Yoruba; wird synonym für die Yorubasprache verwendet.
Stammesgruppe; Bezeichnung in Brasilien für die sudanesischen Yoruba.
Nanã Buruku
(yorub.) älteste orixá der Gewässer.(kath. Heilige: St. Anna).
Negritude
„Schwarzsein“
Nossa Senhora
d´Ajuda
katholische Heilige, nach der die erste Kapelle in Cachoeira benannt ist.
Nossa Senhora da
Boa Morte
baianische Heilige und Gründerin der irmandade Boa Morte
Nossa Senhora da
Glória
baianische Heilige
Nosso Senhor do
Bonfim
baianischer Heiliger (wird mit Jesus gleichgesetzt), Schutzheiliger
von Salvador.
Obá
(yorub.) orixá; Bruder von Oxóssi und Ossâim.
Obrigação
(Plural: obrigações)
(port.) Verpflichtung; Bezeichnung für verschiedene rituelle
Pflichten, welche die Mitglieder der candomblé-Familien gegenüber den orixás haben.
Odudua
(yorub.) orixá, der die Welt erschuf, während Oxalá schlief.
Ogã de atabaque
(yorub./port.) "Chef der sakralen rum-Trommel", der den Ritualablauf dominant beeinflußt.
Ogã, ogas
(yorub.) Titulierung eines männlichen Mitglieds einer candombléGemeinschaft. Ein ogã hat verschiedene vorgeschriebene Aufgaben und Verpflichtungen in der Gemeinschaft zu erfüllen.
Ogum
(yorub.) orixá des Eisens und des Kriegs.
Ogun
Ogum
Olodum
Höchste Gottheit des candomblés
Olodumaré
Olorum, Olodum.
Olorum
(yorub.) Synonyme: Olorun, Olodumaré, Olodum; Höchster Gott
des candomblé-Pantheon.
Omolu
(yorub.) orixá der Krankheiten, insbesondere der Pocken. Herr-
311
scher über Gesundheit und Krankheit.
Ondina
Stadtteil in Salvador
Oraniã
(yorub.) orixá, Bruder von Yemanjá.
Ordenações filipinas
Gesetz von 1603, das die Besitzrechte an Sklaven regelte
Orisanla
(yorub.) orixá, der die Menschen erschuf. Hierbei handelt es sich
um einen Yoruba-Mythos; in Brasilien gilt heute einzig Oxalá
als der Erschaffer der Welt.
Orixá
(yorub.) Vermittelnde Gottheit zwischen den Menschen und dem
höchsten Gott Olorum. Deifizierte Ahnen, die in der Natur und
im Ritual verehrt werden. Der candomblé besitzt heute ca. 16
orixás, welche die Naturkräfte repräsentieren. Während der
Trance ergreifen sie von bestimmten Medien die ihre Nachfahren sind, Besitz.
orixá d`atrás
der „hintere“ orixá
orixá da frente
der „vordere“ orixá
orixá-Kult
Komplexe candomblé-Praxis zur Ehrung der orixás.
Orun
Der Himmel
Orunmilá
(yorub.) orixá; Exmann von Oxum.
Ossâim
(yorub.) orixá der Heilpflanzen. (kath. Heiliger: St. Benedikt).
Oxaguiã
Name des jungen, kämpferischen Oxalás.
Oxalá
(yorub.) orixá des Friedens und der Schöpfung; Vater der anderen
orixás. (kath. Heiliger: Nosso Senhor do Bonfim).
Oxalufã
(yorub.) Name des alten friedlichen Oxalás.
Oxóssi
(yorub.) orixá der Jagd (kath. Heiliger: St. Georg).
Oxum
(yorub.) orixá des Süßwassers. Göttin des Reichtums und der
Schönheit. (kath. Heilige: Nossa Senhora das Candeias).
Oxumaré
(yorub.) orixá der Schlangen und des Regenbogens.
Oyó
(yorub.) Stadt in Afrika
padê
(yorub.) Zusammentreffen; Zeremonie und Opfer für Exú, die jedem candomblé-Ritual vorausgeht, um einen glücklichen Ablauf der Feierlichkeiten zu gewähren.
Padre
Pater
Pagode
bras. Tanz- Musik-Stil ursprünglich aus Rio de Janeiro
pai pequeno
(port.) Kleiner Vater; Bezeichnung für den Assistenten und Vertreter des pai-de-santo.
pai-de-santo
(port.) Vater des Heiligen; babalorixá (yorub.) Bezeichnung für
den candomblé-Kultleiter.
Palmares
Ort der Sklavenwiderstandsbewegung (Quiombo) mit dem Führer
312
Zumbi.
Pandeiro
(port.) Tamburin
paralelismo religioso
religiöse Ähnlichkeit
Pará
Bundesland von Brasilien
passes
(port.) Bezeichnung für Weihungen, Handauflegen im Kardezismus und Umbanda.
Paulistas
Einwohner São Paulos
Pelourinho
Stadtteil Salvadors
Pelô
Abkürzung für Pelourinho
Pentecostais
(port.) protestantische Pfingstkirche, ursprünglich aus den Vereinigten Staaten stammend.
Peri-Peri
Stadtteil Salvadors in der Peripherie.
Peul
Ethnische Gruppe, die vom Senegal bis in die Republik Sudan verbreitet ist.
pipoca
Popcorn
Praça Castro Alves
Platz in Salvador
Praça da Sé
Platz in Salvador
preto velho
(port.) Ahnengeist der ehemaligen schwarzen Sklaven.
Procissão do enterro
Beerdigungsprozession
Projeto Axé
(port./yorub.) Projekt zur Unterstützung der Straßenkinder in Salvador da Bahia.
Quadrilhas
folk. Juni-Tanz
Quilombo
(wahrscheinlich mbundu) Verstecke, Siedlungen der entflohenen
Sklaven im Urwald. Hier gründeten sie Dörfer nach afrikanischem Vorbild.
quimbanda
Bras. Bezeichnung für "Schwarze Magie". quimbanda wird als Gegenpol zu umbanda – "weiße Magie", manchmal auch zum
candomblé, dargestellt.
rasteira
capoeira-Technik, bei der dem Gegner ein Bein weggezogen wird
Reais
bras. Währung
reclusão
(port.) Phase der Abgeschiedenheit in der Initiationshütte; Reklusion.
Recôncavo
Hinterland von Salvador
resistençia negra
„schwarzer Widerstand“
Rio Vermelho
Stadtteil in Salvador
Rivail, D. Hippolyte
Léon
Bürgerlicher Name von Allan Kardek.
313
Roda
(port.) Kreis; Bei den candomblé-Tänzen wird im Kreis mit speziellen Bewegungen und Liedern getanzt.
Roda de capoeira
(port.) Kreis der capoeira.
rum
(jeje) Die größte der drei Faßtrommeln.
salário mínimo
bras. Mindestlohn
samba
(bras.) bestimmte rhythmische Tanzart mit kleinen schnellen
Schritten aus dem zentralafrikanischen Raum stammend.
Samba-de-roda
(port.)Samba im Kreis; spezielle Form des Sambatanzens bei verschiedenen Ritualen.
samba-reggae
Samba mit Reggae-Elementen kombiniert
Santa Ifigênia
Schutzheilige der Schwarzen
Santa Rosaria dos
Pretos
Schutzheilige der Schwarzen
santo
(port.) Heiliger; Im candomblé Synonym für orixá.
São Benedito
schwarzer Schutzheiliger
São Felix
Schwesterstadt von Cachoeira im Recôncavo
São João
katholischer Heiliger
segurança
„Sicherheitspersonal“ beim Karneval
Senac
Restaurant in Salvador
Senhor do Bonfim
Schutzheiliger Salvadors
Senzalas
Sklavenbehausungen
sertão
Hinterland im Nordosten Brasiliens, gekennzeichnet durch lange
Dürreperioden
sessões de passes
Kardezistische Sitzungen, in denen Heilungsrituale vollzogen werden.
Shopping Barra
Einkaufszentrum in Barra, Salvador
Solar de União
Restaurant in Salvador
subúrbio
Stadtperipherie
Telenovelas
bras. Fernsehserien (Seifenopern)
terreiro
(port.) Landstück; Kultstätte der afro-brasilianischen Religionen.
Timbalada
Name einer Karnevalsvereinigung
tomar rum
(port. und jeje) rum nehmen; sich nach der dominanten Trommel
richten, damit der gerufene orixá erscheint.
Trabalho
(port.) Arbeit; Bezeichnung für verschiedene kultische Handlungen.
Trios elétricos
Musikwagen aus dem Karneval
314
Tupinambá
brasilianische Ethnie an der Küste Brasiliens, die von den Eroberern Brasiliens fast gänzlich ausgerottet wurden..
umbanda
(bras.) Brasilianische Religion, die kardezistisch/spiritistische sowie afrikanische Elemente enthält.
umbanda-Medien
Priester und Priesterinnen der Umbanda, die während der umbanda-Kulte mit den Geistwesen kommunizieren.
umbandistas
(bras.) Anhänger der Umbanda.
virar no santo
(port.) sich im Heiligen drehen; Zeit der Inkorporation eines orixás.
voudou
(Fon, verwandt mit yorub.) Afrikanische Religion, von der candomblé abstammt. Voudou-Götter sind den orixás ähnelnde
Gottheiten. Elemente auf.
Xangô
Orixá des Donners und des Blitzes. Im Nordosten Brasiliens (und
in der Karibik) werden die afro-brasilianischen Kulte nach ihm
benannt.
xirê
(yorub.) Fest; erster Teil eines öffentlichen candomblé-Festes.
Yansã
(yorub.) orixá des Donners und des Blitzes (kath. Heilige: St. Barbara).
Yemanjá
(yorub.) orixá des Meeres; Mutter von den meisten orixás.
Yoruba
(yorub.) afrikanische Ethnie in Südwest-Nigeria, Benin und Togo.
Die größte ethnische Gruppe der ehemaligen Sklaven, vor allem in Bahia, gehört zur Ethnie der Yoruba.
zona norte
Nordstadt
Zumbi
Führer der Sklavenbefreiungsbewegung in Palmares.
315
baiano · 3, 5, 146, 157, 160, 161, 162,
INDEX
163, 164, 201, 287
A
abará · 286
Bangala · 29, 287
Bantu · 56, 57, 97, 287, 288
abolição · 286
Barco · 287
abrasileiramento · 24, 286
Acarajé · 286
Barra · 134, 209, 212, 287, 296
barracão · 76, 83, 287
afoxé · 197, 204, 205, 214, 226, 286,
290, 291
barracas · 199, 210, 287
Barroquinha · 187, 287
Aganyu · 65, 286
batuque · 52, 287
Agni · 29, 277, 286
bazar de caridade · 115, 287
agogô · 286
berimbau · 195, 287
Ambundu · 29, 286
Ara Ketu · 257, 258, 286
Bloco de trio · 287
blocos afro · 4, 5, 205, 206, 209, 212,
Ashanti · 286
213, 215, 218, 253, 256, 287
Assembléias de Deus · 106, 286
atabaque · 79, 83, 286
boa aparençia · 226, 287
Boa Morte · 82, 164, 184, 187, 188,
axé · 70, 76, 81, 83, 286
189, 190, 191, 193, 194, 195, 196,
ayé · 286
197, 198, 263, 287, 291, 293
bori · 77, 287
B
babá · 265, 286
babalorixá · 77, 286, 294
Bahia de Todos os Santos · 52, 203,
282, 286
baiana · 160, 286
Bornu · 29, 287
bossa nova · 204, 287
Branqueamento · 40, 287
bumba meu boi · 192, 287
buscando patrão · 114, 287
Baianidade · 255, 286
316
C
caboclo · 56, 74, 75, 79, 83, 84, 104,
199, 287
Caça gringas · 287
caça gringos · 145, 146, 159, 287
cachaça · 71, 204, 210, 212, 287
Cachoeira · 27, 164, 184, 185, 186,
Cantiga · 288
Canudos · 288
capoeira · 5, 6, 54, 139, 140, 228, 229,
230, 231, 233, 234, 246, 253, 287,
288, 290, 292, 296
Capoeira angola · 230, 288
Capoeira da rua · 230, 288
188, 190, 193, 194, 195, 196, 197,
Capoeira regional · 288
198, 263, 287, 291, 292, 293, 296
Capoeirista · 288
cafézinho · 287
caridade · 104, 120
caipira · 198, 287
Caridade · 118, 288
Campo Grande · 209, 212, 288
Casa grande · 269, 288
candombé · 56, 288
catimbó · 52, 288
candomblé · 5, 8, 9, 10, 11, 15, 16, 49,
Cauri · 288
52, 53, 54, 55, 56, 57, 59, 60, 75, 78,
80, 81, 83, 85, 86, 89, 91, 92, 95, 97,
cavalho · 102, 288
101, 102, 103, 104, 106, 109, 110,
caxixí · 82, 288
119, 120, 123, 125, 126, 127, 128,
ceia branca · 191, 288
133, 136, 184, 187, 188, 189, 192,
193, 197, 200, 201, 202, 204, 205,
216, 222, 223, 224, 226, 237, 239,
cerveja · 205, 210, 212, 288
Chapa Diamantina · 190, 288
240, 242, 243, 247, 255, 256, 259,
Chico Xavier · 110, 112, 121, 272, 288
264, 267, 270, 274, 282, 286, 288,
classe alta · 254, 288
293, 294, 295, 296, 297
Candomblé de angola · 288
candomblé de caboclo · 288
Candomblé jeje-nagô · 288
Candomblé nagô-ketu · 288
classe baixa · 232, 288
classe média · 232, 239, 289
Congregação Crista · 289
consulta · 289
Cordas · 289
candomblé-terreiro · 10, 187, 288
317
cordel · 289
Ere · 289
Crente · 289
escola-de-samba · 290
Curar · 289
espaço negro · 230, 290
Curuzú · 215, 289
espírito · 278, 290
D
Estado de santo · 290
Euá · 59, 290
dança · 289
Ewe · 29, 53, 290
dando barravento · 289
dar passes · 289
Exú · 58, 59, 63, 70, 71, 76, 81, 82, 85,
101, 102, 205, 251, 289, 290, 294
Defumação · 289
F
Degregado · 289
Dembo · 29, 289
Família-de-santo · 290
Dendê-Öl · 191, 204, 286, 289
Fantasias · 290
Don Pedro II. · 289
Fanti · 53, 290
dono da cabeça · 289
favela · 130, 264, 265, 290
donos da terra · 51, 52, 74, 289
fazenda · 290
Fazer o santo (feitura) · 290
E
ebó · 289
Federação Espírita Brasileira · 109,
290
Egba · 29, 289
feijoada · 192, 290
egun · 289
feitores · 30, 290
Egun-Kult · 289
filha-de-santo · 77, 78, 82, 89, 90, 93,
eguns · 62, 72, 76, 205, 289
236, 243, 290, 291
ekede · 289
Filhas de Oxum · 214, 290
Elegbara · 58, 289, 290
Filho-de-santo · 290
encontro · 80, 289
Filhos de Gandhi · 197, 213, 214, 290,
engenho · 289
291
318
folhiões · 290
Irmandade da Boa Morte · 291
Fon · 29, 290, 297
Irmãs de bolsa · 291
Forças Armadas · 229, 290
Iroko · 59, 291
Forró · 290
Irradiação · 291
G
J
ginga · 228, 290
jeito de ser baiano · 217, 291
Grupo Famíliar do Espiritismo · 108,
jogo-de-búzios · 77, 84, 85, 86, 91, 291
291
jurema · 83, 291
Gurunsi · 29, 291
K
H
Hausa · 29, 53, 291
Kabinda · 29, 291
Kardecismo · 266, 274, 291
I
Ialorixá · 291, 292
iaô · 291
Ifá · 58, 291
Ifé · 58, 65, 291
Igreja Universal do Reino de Deus ·
Kardek, Allan · 291
Kaurimuschelorakel · 60, 85, 248, 291
Ketu · 29, 54, 56, 66, 282, 291
Kongo · 28, 29, 53, 291
Korin Efán · 214, 291
Kru(mans) · 291
126, 291, 292
Ijexá · 54, 279, 291
Ilê Aiyê · 195, 215, 226, 252, 253, 257,
258, 291
Indústria de espetáculo e do lazer · 291
irmandade · 82, 184, 185, 188, 189,
265, 291, 293
L
lavagem · 275, 291
Lavagem do Bonfim · 203, 291
Lenda · 292
Liberdade · 35, 37, 215, 257, 289, 292
linha verde · 134, 292
irmandade da Boa Morte · 189
319
M
Mirim · 206, 292
Macedo · 126, 292
missa de corpo presente · 191, 292
machismo · 72, 87, 292
Momo · 202, 209, 293
maculelê · 5, 54, 246, 292
Movimento Negro · 14, 89, 157, 236,
macumba · 57, 97, 98, 100
Macumba · 97, 98, 134, 265, 271, 291,
237, 293
Muqueca · 293
292
Mãe Meninha de Gantois · 75, 292
mãe pequena · 77, 84, 292
mãe-de-santo · 76, 77, 81, 82, 83, 85,
86, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 193, 194,
N
nação · 55, 59, 80
nação, nações · 293
Nagô · 29, 30, 54, 56, 57, 102, 288, 293
203, 237, 238, 239, 240, 241, 242,
Nanã Buruku · 63, 69, 73, 74, 291, 293
243, 244, 291, 292
Negritude · 293
magia negra · 239, 292
Nossa Senhora d´Ajuda · 195, 293
Malê · 53, 292
Nossa Senhora da Boa Morte · 184,
malícia · 228, 292
187, 188, 191, 293
Mandinga · 29, 292
Nossa Senhora da Glória · 192, 293
marianismo · 87, 292
Nosso Senhor do Bonfim · 203, 293, 294
matanças · 80, 292
Matriz · 191, 292
Medium · 71, 82, 102, 112, 194, 288,
292
Mercado modelo · 292
Mestre Bimba · 229, 288, 292
Mestre Pastinha · 229, 292
Mestres · 292
Minas Gerais · 33, 190, 292
O
Obá · 59, 293
Odudua · 59, 64, 293
Ogã de atabaque · 293
Ogã, ogas · 293
Ogum · 59, 63, 66, 67, 71, 72, 84, 293
Ogun · 58, 293
Olodum · 59, 206, 207, 208, 213, 218,
252, 253, 257, 258, 280, 293
320
Olodumaré · 57, 58, 62, 293
Oxumaré · 59, 63, 73, 294
Olorum · 57, 58, 59, 62, 64, 70, 102,
Oyó · 68, 294
293, 294
P
Omolu · 59, 63, 69, 70, 192, 193, 203,
294
padê · 80, 81, 82, 205, 294
Ondina · 209, 212, 294
Padre · 294
Oraniã · 59, 294
Pagode · 204, 294
Ordenações filipinas · 294
pai pequeno · 84, 294
Orisanla · 58, 294
pai-de-santo · 10, 77, 81, 194, 294
orixá · 51, 56, 60, 61, 62, 64, 66, 67, 72,
Palmares · 34, 295, 297
74, 78, 81, 82, 83, 84, 86, 88, 191,
192, 198, 202, 203, 204, 205
Orixá · 267, 282, 294, 297
orixá d`atrás · 294
orixá da frente · 61, 294
orixá-Kult · 294
pandeiro · 192
Pandeiro · 222, 295
Pará · 287, 295
paralelismo religioso · 52, 295
passes · 103, 111, 112, 115, 116, 117,
295
Orun · 57, 58, 294
Paulistas · 161, 295
Orunmilá · 67, 294
Pelô · 161, 295
Ossâim · 63, 72, 73, 276, 293, 294
Pelourinho · 128, 129, 130, 134, 146,
Oxaguiã · 64, 294
Oxalá · 58, 59, 63, 64, 69, 71, 73, 99,
191, 203, 247, 281, 286, 291, 293,
294
Oxalufã · 64, 294
Oxóssi · 59, 63, 66, 67, 75, 203, 293,
294
Oxum · 59, 63, 67, 68, 93, 128, 192,
193, 202, 214, 239, 290, 294
206, 213, 233, 257, 259, 295
Pentecostais · 105, 106, 267, 281, 295
Peri-Peri · 88, 295
Peul · 29, 295
pipoca · 69, 295
Praça Castro Alves · 209, 212, 295
Praça da Sé · 214, 295
preto velho · 102, 295
321
Procissão do enterro · 295
Santa Ifigênia · 191, 296
Projeto Axé · 39, 295
Santa Rosaria dos Pretos · 124, 296
Q
santo · 81, 83, 194, 238, 296
São Benedito · 63, 191, 296
Quadrilhas · 295
São Felix · 27, 185, 194, 296
Quilombo · 272, 295
quimbanda · 97, 104, 295
R
São João · 198, 296
segurança · 211, 296
Senac · 246, 296
rasteira · 228, 295
Senhor do Bonfim · 64, 296
Reais · 85, 88, 295
Senzalas · 296
reclusão · 295
sertão · 104, 105, 296
recôncavo · 34, 194
sessões de passes · 115, 296
Recôncavo · 229, 287, 295, 296
Shopping Barra · 161, 162, 249, 296
resistençia negra · 55, 295
Solar de União · 246, 296
Rio Vermelho · 65, 198, 199, 211, 295
subúrbio · 230, 296
Rivail, D. Hippolyte Léon · 295
roda · 84, 188, 192, 197
Roda · 296
T
Telenovelas · 254, 296
terreiro · 16, 75, 76, 77, 78, 79, 81, 82,
Roda de capoeira · 296
rum · 79, 83, 286, 296
84, 85, 88, 89, 93, 103, 187, 193, 194,
200, 226, 237, 238, 240, 241, 243,
256, 281, 296
S
salário mínimo · 39, 206, 247, 296
samba · 5, 54, 133, 134, 192, 204, 210,
222, 223, 225, 296
Samba-de-roda · 296
samba-reggae · 204, 223, 296
Timbalada · 213, 258, 296
tomar rum · 296
trabalho · 274
Trabalho · 280, 296
Trios elétricos · 198, 297
322
Tupinambá · 275, 297
xirê · 297
U
umbanda · 5, 16, 53, 97, 99, 100, 101,
102, 103, 104, 109, 114, 118, 295,
297
Y
Yansã · 59, 63, 66, 71, 72, 82, 84, 89,
90, 128, 192, 193, 203, 251, 290, 297
Yemanjá · 59, 63, 65, 66, 67, 68, 69, 70,
umbanda-Medien · 101, 103, 110, 297
71, 73, 126, 128, 161, 198, 199, 200,
umbandistas · 297
201, 203, 286, 294, 297
Yoruba · 29, 30, 52, 53, 57, 62, 78, 226,
V
virar no santo · 297
voudou · 54, 129, 297
263, 266, 268, 273, 277, 282, 288,
291, 293, 297
Z
X
zona norte · 133, 297
Xangô · 51, 59, 63, 66, 68, 71, 94, 247,
Zumbi · 34, 295, 297
251, 262, 269, 297
323
Download

Favelas, Festas und Candomblé