Gottesfriede und Treuga Dei
im Spiegel zeitgenössischer Rechtspraxis und Dichtung
in Frankreich und Spanien
Thomas Gergen
Europäische Rechtsgeschichte und Kirchenrecht
Die rechtshistorisch bedeutsamste Wirkung der hochmittelalterlichen Friedensbewegung lag in der „Kriminalisierung des Strafrechts“, denn das Delikt
wurde nicht mehr als Eingriff in die
Rechte eines anderen betrachtet, der
mit Buße zu sühnen war, sondern als
Bruch des Friedens, der mit peinlicher
Strafe, also mit Leibes- oder Lebensstrafe vergolten werden musste. Hier
setzte das DFG-Forschungsprojekt „Die
Entstehung der Strafe im Hochmittelalter“ an, das in Saarbrücken von
Professor Dr. Elmar Wadle durchgeführt wurde und an dem der Autor beteiligt war.
Hervorzuheben waren dabei der kirchliche Ursprung der Gottesfrieden und
die von den Erzbischöfen und Bischöfen
geforderte und geförderte Verbreitung
der Grundregeln zum Schutz der Kirchen, ihrer Leute und Güter sowie die
Ausbreitung und Anreicherung dieser
Gebote um weitere Friedensräume und
Friedenszeiten einschließlich ihrer Zu-
Wenn man heute das Wort „Treuga“ hört, denkt man zunächst an den aus der
Antike stammenden Frieden zur Zeit der Olympischen Spiele, während derer
keine Kriegshandlungen vorgenommen werden durften oder an Waffenstillstände, die zwischen einzelnen Konfessionen oder Nationen ausgehandelt
werden, wie etwa der Friede von Ulster in Nordirland oder die Treuga (Tregua)
zwischen baskischen Separatisten (ETA) und dem spanischen Staat. Zu allen
Zeiten hat es also Waffenstillstände gegeben, die für eine gewisse Zeit vereinbart
und entweder eingehalten oder gebrochen wurden.
Auch im Mittelalter, insbesondere seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts,
gab es solche Waffenstillstände, die sich - für die damalige Zeit üblich - an
kirchlichen Hochfesten wie etwa Weihnachten, Ostern und gewissen anderen
Hochfesten von Heiligen orientierten. Wer an diesen Tagen eine Fehde ausfocht,
wurde besonders hart bestraft. Aus dieser Reglementierung ergibt sich, dass die
Fehde nicht ganz abgeschafft wurde, sondern auf gewisse Tage verteilt und damit
in gewissem Umfang legitimiert wurde. Die Vorläufer der Treuga Dei waren die
Gottesfrieden (Pax Dei), wobei die Frieden für das Bistum Lüttich (1082) und der
Kölner Gottesfrieden (1083) die ersten auf deutschem Boden waren.
sammenhänge mit den Vorschriften karolingischer Kapitularien und zeitgenössischer Beschlüsse von Konzilien und
Synoden. All dies legt den Gedanken
einer großräumigen Rechtsangleichung
nahe. Zum anderen wird der praktische
Niederschlag der Friedensregeln, so
etwa in der kirchlichen Bußpraxis und in
der Verbreitung bestimmter Institutionen thematisiert, bevor dann noch
künftige Forschungsdesiderate beschrieben werden.
Großräumige Rechtsangleichung
Abb. 1: “Gerechtigkeit und Friede küssen sich” (Psalm 85/84, Vers 11). Darstellung an der Kirche Notre-Dame-la-Grande, Westfassade, Poitiers
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Die Beschäftigung mit den Gottes- und
Landfrieden in Deutschland führte zu
deren Wurzeln, die im französischen
Aquitanien liegen. Im Jahr 975 ergriff
Bischof Guido von Le-Puy eine erste
friedensstiftende Maßnahme, indem er
alle Angehörigen seiner Diözese, milites
und rustici, darauf verpflichtete, den
Frieden zu respektieren, keine Kirchen
zu überfallen und die Güter der pauperes (d.h. der sozial und wirtschaftlich
Abhängigen in der mittelalterlichen Gesellschaft) zu respektieren sowie die
Opfer zu entschädigen. Auf den Widerstand hin ließ der Bischof seine Truppen
kommen und die Anwesenden den
Frieden vor Gott schwören. Während
Le-Puy eine konkrete Friedensmaßnahme darstellt, formulierten die in Charroux versammelten Bischöfe im Jahre
989 abstrakte Friedensregeln. Die Bestätigung dieser Regeln auf dem Konzil
15
von Poitiers (1000-14), das nicht vom
Erzbischof von Bordeaux, sondern vom
Grafen von Poitiers und Herzog von
Aquitanien Wilhelm dem Großen einberufen wurde, sowie die Wiederholung verwandter Normierungen auf
den Konzilien von Limoges (994), LePuy (994), Beauvais (1023) etc. legten
die Vermutung nahe, dass die Friedensregeln eine möglichst große Verbreitung in den Diözesen entfalten sollten. Für die zeitlich vorgelagerten Kapitularien etwa ist erwiesen, dass sie öfters wiederholt wurden, um ihnen zur
Befolgung zu verhelfen. Eine solche
Tendenz dürfte auch den Gottesfrieden, die an den karolingischen Friedensbegriff anknüpften, inhärent gewesen sein.
Zu dem Gesichtspunkt der Wiederholung gesellt sich ferner der der räumlichen Geltung. Die Forschungen von
Dietmar Willoweit1), der von einem
durch die Versammlungen geschaffenen “befriedeten Binnenraum” spricht,
sowie die Studien über die geographische Verbreitung der Friedensregeln,
die Hans-Werner Götz2) vorlegte, führten zur Untersuchung, ob die Gottesfrieden eine gewisse Rechtsharmonisierung bzw. Normvereinheitlichung in
gedachten oder existierenden Territorien und juristisch-administrativen Einheiten (Diözesen und Grafschaften)
nach sich zogen. Obwohl es sich dabei
um einen sehr modernen Begriff handelt, der uns aus dem internationalen
Recht bzw. Europarecht geläufig ist,
kennt auch die Rechtsgeschichte Belege
für das Bestreben, Recht anzugleichen
oder sogar zu vereinheitlichen. Die berühmte Klage des Bischofs Agobard von
Lyon in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts zeigt z.B., dass der Wille, einheitliches Recht für möglichst viele Personen zu schaffen, auch im Mittelalter
vorhanden war. Eine solche Sichtweise
ist zwar für die Gottesfrieden denkbar,
doch nicht uneingeschränkt gültig; die
Serie von Texten über die Frieden spiegelt eher eine „Bestätigung“ von gewissen schon existierenden Bestimmungen wider, die im 11. und 12. Jahrhundert nach und nach angeglichen und je
nach Gebiet und Bedarf verfeinert wur-
Abb. 2: Übersicht über Bistümer, Erzbistümer und Abteien im mittelalterlichen
Frankreich.
16
den. Gerade unter diesem von der historischen Forschung noch wenig beachteten Aspekt waren die Gottesfrieden unter die Lupe zu nehmen. Abstrakte Voraussetzung dafür war, dass
es einen Bekundungsakt des geltenden
Rechts gab, das bestätigt und in mehreren verschiedenen Rechtseinheiten (Diözesen und Grafschaften) angewendet
wurde3).
Die Regeln, die die Bischöfe 989 in
Charroux (vgl. Abb. 2) aufstellten, sind
als Normen zu qualifizieren, und sollten
durch die Bischöfe kraft ihrer Autorität
in den jeweiligen Diözesen umgesetzt
werden. Es ging dabei um die Normen
gegen Usurpation von Kirchengütern,
gegen die Plünderer von pauperes sowie gegen den Überfall von Klerikern.
Allen drei Kanones ist gemein, dass bei
Zuwiderhandlung das Anathem ausgesprochen werden sollte, d.h. die in die
feierliche Form der maledictio (Verfluchung) gekleidete Exkommunikation,
den gänzlichen Ausschluss aus der
kirchlichen Gemeinschaft4).
Charroux stellt eine Bestätigung früheren Rechtes dar, denn die gleichen
Rechtsinhalte sind karolingischen Kapitularien, den Volksrechten und den
Konzilien jener Zeit nachgebildet; dies
zeigen die parallelen Bestimmungen der
Konzilien von Orléans von 511 bis 549,
Tours 567, Mâcon 585, Paris 614,
Quierzy 857, Ver-sur-Launette 884
und Metz 893, die gleiche Tatbestände
aufweisen. Wenn die Autoren der Frieden vor allem auf die Kapitularien rekurrierten, dann wird nicht nur der konservative Charakter des Anliegens deutlich, sondern obendrein eine ordnungsund - modern gesprochen - eine polizeirechtliche Tendenz, denn die Kapitularien griffen nach ihrem Selbstverständnis nicht oder nur sehr vorsichtig
in den Bereich eigentlichen „Rechts“
ein. Sie waren Verwaltungsordnung,
Gebotsrecht im Bereich unmittelbarer
Zuständigkeit des Herrschers oder der
ihm verbundenen Kirche, Vorläufer der
frühneuzeitlichen „guten Polizey“5).
Neuere Studien zur Regionalgeschichte
Aquitaniens haben ergeben, dass die
Grafen von Poitiers bzw. Herzöge von
Aquitanien, in Sonderheit Wilhelm der
Große, einer karolingischen Herrschaftstradition folgten. Sie strebten
mit ihrer Politik eine enge Zusammenarbeit mit der Kirche an, was sich insbesondere in der Suche nach Frieden,
Gerechtigkeit und Einheit im vorgre-
Universität des Saarlandes
gorianischen Reformzeitalter manifestiert6). Herausgestellt wurde daneben, dass es sich bei der Friedensbewegung um eine Intensivierung früherer,
vor allen Dingen karolingischer Normmodelle handelt, welche die aquitanischen Fürsten offenbar zurückwünschten. Die Gegenwart Wilhelms des Großen beim Friedenskonzil von Poitiers
(1000-14) beweist den Schulterschluss
von geistlicher und weltlicher Gewalt.
Der Königsfriede Ludwigs VII. von
Frankreich im Jahre 1155, der auf eine
Dauer von zehn Jahren ausgelegt war,
markiert für Frankreich das Ende der
Bewegung, bevor die Friedensbestimmungen ganz in weltliches Recht
übergingen.
Aber zurück zum Anfang der Friedensbewegung, denn Charroux bestätigte
nicht nur Kapitularien, sondern ebenfalls ähnlich lautende Bestimmungen
der Bußbücher, die wiederum auf iroschottischer Tradition fußten und im
Abendland weithin in Umlauf waren.
Nachfolgende Konzilien bekräftigen
und perpetuieren zudem die früheren.
Das Konzil von Poitiers (1000-14), wo
dieselben Bischöfe wie in Charroux
auftraten (vgl. Abb. 3), erinnert nämlich
in seiner Präambel sehr deutlich an das
Konzil von Charroux: sicut in concilio
Karrofense constitutum est7). Das Konzil von Bourges aus dem Jahre 1038
fügt sich explizit in die Tradition dieser
Konzilien ein, indem es 50 Jahre zurückgeht und zugleich auf Charroux rekurriert: a quinto decimo anno et supra
hac lege constringit. Als Mittel der
Bestätigung der Gottesfriedensregeln
begegnen uns einmal die Eidesleistung
in Gegenwart von Reliquien und die
Benutzung von rhetorischen Topoi, von
denen die Friedenstexte übersät sind.
Schließlich waren noch Beweise dafür
zu sammeln, dass die Friedensnormen
in bestimmten territorial orientierten
Rechtseinheiten Geltung entfalten soll-
Abb. 3: Die rechtsgeographische Dimension der Konzilien von Charroux und
Poitiers auf Grund der Beteiligung der Bischöfe.
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ten. Dafür spricht die maßgebliche Beteiligung der Bischöfe, die in ihren Diözesen die iurisdictio, d.h. die Regierungsgewalt und insbesondere die
Straf- und Disziplinargewalt über Laien
und Geistliche ausübten und deren
Kompetenz durch die jeweiligen Diözesangrenzen bestimmt war. Dass der
Erzbischof von Bordeaux die Bischöfe
seiner Erzdiözese gerade in Charroux
zur Provinzialsynode zusammenrief, lag
sicherlich an der zentralen Rolle, die die
aufgrund ihrer wertvollen Reliquien
und Privilegien prestigereiche Abtei seit
der Karolingerzeit spielte.
Im Beschluss der Provinzialsynode
schimmert einerseits die hohe Bedeutung des Regelungsanliegens durch,
denn obwohl jeder Bischof kraft seiner
iurisdictio diese Regelungen hätte allein
treffen können, fassten die anwesenden Prälaten einen Synodalbeschluss.
Die Synode war nach mittelalterlichem
Kirchenrecht und der gängigen Rechtspraxis als das höhere, zur Verwaltung
der Strafgewalt berufene kirchliche Organ dazu befugt, die Rechte des niederen auszuüben, so dass dieser Beschluss
gleichsam als Sammelbeschluss für die
vertretenen Bistümer gewertet werden
kann. Darüber hinaus oblag dem Erzbischof in der streng herausgebildeten
kirchlichen Hierarchie die Appellationsinstanz über die Urteile seiner Bischöfe.
Auf der anderen Seite gab es die Regel,
dass die Verhängung eines Anathems
nicht einem einzelnen Bischof zustand,
sondern lediglich dem Metropoliten gemeinsam mit der Provinzialsynode8).
Dabei war der Metropolit immer auch
Erzbischof, jedoch nicht umgekehrt. Die
erwähnte Anathem-Regel aus der Karolingerzeit war allerdings eher eine
Ausnahme und nicht zwingend anwendbar, da sie weder im ganzen karolingischen Reich noch dauerhaft in Geltung gewesen war9). Daher war unerheblich, dass Erzbischof Gumbaldus
von Bordeaux nicht auch Metropolit
war. Da beim Konzil von Charroux alle
Bistümer vertreten waren, versammelte
sich die Provinzialsynode vollzählig und
konnte die Normen für alle betroffenen
Diözesen dekretieren: Nos ergo in Dei
nomine specialiter congregati decrevimus. Nicht zuletzt konnten wir in diesem Zusammenhang zu Tage fördern,
dass Gumbaldus nicht nur als Bischof
von Bordeaux, sondern auch als Bischof
von Agen zeichnete, da er dieses
Bistum zu seiner Zeit mitverwaltete10).
17
Das große Engagement für den Frieden
ist zudem durch zahlreiche Äußerungen
der geistlichen Elite des Mittelalters belegt. Gelehrte wie Hinkmar von Reims
und Odilo von Cluny oder auch Adémar von Chabannes und Yvo von
Chartres setzten sich damit in Gebet
und Geschichtsschreibung auseinander
und ergriffen uneingeschränkt für ihn
Partei. Bischof Oleguer von Tarragona
(1069-1137) schließlich, ein Schüler des
Reformordens von Saint-Ruf, mischte
in dreifacher Weise in der Friedensbewegung mit, nämlich als Bischof von
Barcelona, Erzbischof von Tarragona
sowie als Berater bzw. „Kanonikerjurist“ und rechte Hand von Ramón Berenguer III., dem Grafen von Barcelona.
Der Bischof von Barcelona fuhr zum
Konzil von Reims, das 1119 die Treuga
Dei bestätigte. Als nach Abschluss der
„Reconquista“ erster Erzbischof von
Tarragona nahm Oleguer sodann an
den Konzilien von Clermont (1130) und
Barcelona (1131) teil, die beide die Friedensnormen noch einmal einschärften.
Nicht nur in Schriftform, auch in der Bildenden Kunst schlug sich die Friedensbewegung nieder, so z.B. in der Buchmalerei oder an Kapitellen. Ein Kapitell
von Saint-Benoît-sur-Loire (vgl. Abb. 4)
zeigt gegen Ende des 11. Jahrhunderts
eine Wunderdarstellung: Ein seine
Hände erhebender Bauer, den ein miles
beraubt und der beim Kloster Schutz
gesucht hat, freut sich über die wiedergefundene Freiheit dank eines einzigen
Blickes von Sankt Benedikt (SaintBenoît). Dies weist auf die schon in
karolingischer Zeit präsente Aufgabe
der Kirche hin, die pauperes und deren
Vermögen zu schützen. Die Darstellung
macht plastisch, wie sich die Kirche, hier
insbesondere die Klöster, den Aufgaben
der Friedensbewegung im 11. und 12.
Jahrhundert stellten. Das Bild fügt sich
also gut zu den bereits oben erwähnten
Normen der französischen Konzilien
zum Schutze der pauperes.
Niederschlag der Friedensregeln in der
kirchlichen Bußpraxis
Die einheitliche Bestrafung mit dem
Anathem ungeachtet der Herkunft der
Zuwiderhandelnden und der Gültigkeit
in den jeweiligen Diözesen bezeugt
letztlich, dass sich die Normgeber nicht
mehr am Grundsatz der Personalität
und der damit verbundenen Vielfalt der
Gesetze11) orientierten, sondern dass
sich der Territorialitätsgedanke durch-
18
Abb. 4: Die Friedensbewegung in der Bildenden Kunst (11. Jhd.)
zusetzen begann. Das Hauptmotiv lag
wohl darin, dass die Normschöpfer einheitlich gegen die Missstände ankämpfen wollten und es mithin keine Rolle
mehr spielen sollte, wer diese tatsächlich verursacht hatte. Der ordre public,
wie wir heute sagen würden, stand auf
dem Spiel und gebot unter Aufgabe der
Vielfalt der Gesetze eine Verbreitung
desselben Gedankenguts in möglichst
vielen Diözesen und Grafschaften.
Evident ist gleichermaßen, dass die Fehde nicht ganz abgeschafft werden
sollte, was von einem Tag auf den anderen auch nicht möglich war; man
konnte die Friedensgebote lediglich auf
bestimmte Zeiten und Orte beschränken. Diese Rolle übernahm ab den 40er
Jahren des 11. Jahrhunderts die Treuga
Dei, die sich in Mitteleuropa schnell
ausbreitete. Ferner sollte die bestehende Ordnung in drei Stände (milites, clerici sowie laboratores) nicht umgestoßen werden, so dass die verkündeten
Normen, die die Friedenswahrung anstrebten, zugleich dem Erhalt der damaligen Ständeordnung dienten; jeder
einzelne Stand sollte seine Aufgaben
ungestört erfüllen können. Während einige von „feudaler Revolution“ sprechen, nimmt Hans-Werner Goetz zurecht eine „Umordnung“ statt einer
„Unordnung“ der damaligen Gesellschaft an12). Auf die Erhaltung dieser
Ordnung pochten verschiedene Zeitgenossen, darunter Adalbert von Laon
und Gerhard von Cambrai, worauf
Georges Duby zu Recht seine These
von der Sicherung der Stabilität in der
Maison de Dieu gestützt hat, die es zu
stabilisieren galt.
Adalbert von Laon zeichnete das Bild
einer „verkehrten“ Welt, in der der
Bauer König wird, der Bischof Bauer
und der Mönch Ritter. Dieser aus den
Fugen geratenen Welt, wo die Gesetze
zugrunde gingen, setzt Adalbert gewissermaßen in Nostalgie zur Karolingerzeit eine dreifunktionale Welt entgegen. In dieser hat Gott jedem exakte
Funktionen zugeordnet, nämlich entweder die Aufgabe zu beten, zu kämpfen bzw. die Erde zu bearbeiten (milites, clerici sowie laboratores). Der
Universität des Saarlandes
König hat nach Adalbert die Aufgabe,
die gesellschaftliche Balance im Gleichgewicht zu halten und damit den gesellschaftlichen Frieden zu garantieren.
Als die Treuga Dei sich zu entwickeln
beginnt, nimmt Gerhard von Cambrai
die Idee der dreifunktionalen Gesellschaft auf. In seiner Vision von einem
perfekten Frieden, der ein wahres Abbild des „himmlischen Jerusalems“ darstellt, lassen die milites für immer die
Waffen fallen13). Damit diese streng
dreigliedrige
Gesellschaftsordnung
nicht umkippte, sollten die Gottesfriedensregeln die Übergriffe der milites
verhindern, um die beiden anderen
Stände zu schützen.
Im Gottesfrieden scheinen zwar die
rechtlichen Aspekte zu dominieren,
doch fließen in einer Zeit der „Offenheit“ des Rechts allgemeine Verhaltensregeln und theologisch fundierte
Praxis zusammen14). Dies kann man an
der Rolle des Eides und der zeremoniellen Gegenwart der Reliquien recht gut
erkennen. Die Eidesleistung und der
Schwur, vor Gott in Zukunft die Friedensregeln zu beachten, verbinden
Mensch und Gott auf enge Weise und
spiegeln den Ernst der Normierung wider. Für die Zeit des 11. und beginnenden 12. Jahrhunderts, also vor Entfaltung der Kanonistik ist es zwar noch
sehr schwierig, zwischen Buße und
Strafrecht zu unterscheiden15). Ein anderer Zusammenhang spiegelt sich indessen in der Bußdisziplin der Kirche
wider und in ihrem „Angebot“, nach
begangener Sünde unter Bußleistung
wieder in ihren Schoß zurückzukehren
und vor Gott geläutert dazustehen. So
taucht gerade in den Gottesfrieden die
Möglichkeit auf, die Schuld abzuwerfen, um danach für die Zukunft einen
erneuten Friedeschwur einzugehen und
zu beeiden.
Die Idee, dass die Sünde die Abwesenheit oder das Fehlen des Guten darstellt
und mithin eine Abkehr von Gott bedingt, ist augustinisch. Seine Definition,
dass die Sünde ein Wort, eine Handlung oder ein Wunsch ist, die dem göttlichen Gesetz widersprechen, durchzieht die gesamte mittelalterliche Theologie und kann auch im Zusammenhang mit den Gottesfrieden ausgemacht werden. Der Mensch, der sich allerdings von Gott entfernt hat, kann
aber deswegen wieder zu ihm und seiner Kirche zurückfinden, weil er als
Gottes Ebenbild infolge der Mensch-
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Dr. Thomas GERGEN, Ass.iur., Maître en Droit, MA, DEA
Civilisation Médiévale hat von 1991 bis 1998 deutsches,
französisches und spanisches Recht sowie Romanistik und
Geschichte in Saarbrücken, Poitiers, Barcelona, Salamanca,
Durham und Lissabon studiert. 1998 wurde er als Übersetzer
und Dolmetscher für die Gerichte des Saarlandes und die
saarländische Notarkammer mit den Sprachen Französisch
und Spanisch vereidigt. Zudem unterrichtete er deutsches
Recht an der Rechtsanwaltskammer in Poitiers.
In den Beiheften zur Zeitschrift für Romanische Philologie (Bd. 302) veröffentlichte er im Jahre 2000 seine Dissertation "Sprachengesetzgebung in Katalonien", mit der er 1998 von den Professoren Hans-Jörg Neuschäfer und Max Pfister zum Doktor der Philosophie promoviert worden war. Während seines juristischen Vorbereitungsdienstes war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht bei Professor Dr. Elmar Wadle, unter dessen Betreuung er seine juristische Dissertation mit dem
Thema "Juristische Praxis der Pax und Treuga Dei seit dem Konzil von Charroux
(989-1250)" verfasste, die in Kürze in der “Rechtshistorischen Reihe” publiziert
wird.
Seit Abschluss des Assessorexamens arbeitet er bei Professor Wadle an seinen
Habilitationsprojekten, die in erster Linie über Nachdruckprivilegien im Süddeutschland des 19. Jahrhunderts handeln. Ferner forscht Gergen über Entstehungsgeschichte und Rezeption des französischen Code civil von 1804 sowie im
geltenden deutschen wie französischen Privatrecht.
Er ist Autor zahlreicher Beiträge für die Zeitschrift der Savigny-Stiftung für
Rechtsgeschichte (ZRG), Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (ZNR), Juristische Schulung (JuS), Zeitschrift der deutsch-spanischen Juristenvereinigung,
Cuadernos de Historia del Derecho (Jahrbücher für Rechtsgeschichte) der Universidad Complutense in Madrid, sodann für die Revista de Llengua i Dret (Zeitschrift für Sprache und Recht) der katalanischen Verwaltungshochschule in Barcelona, den Cahiers de Civilisation Médiévale des Centre d´Études Supérieures de
Civilisation Médiévale in Poitiers sowie Lusorama (Zeitschrift für Lusitanistik) und
Zeitschrift für Katalanistik (ZfK).
werdung Jesu Christi gesehen wird. Der
Mensch ist zur Zusammenarbeit mit
Gott berufen, bei deren Scheitern Sünde entsteht. Die Sünde kann jedoch
durch die Buße gesühnt und ausgemerzt werden. Die Schuldhaftigkeit
des Menschen leitet Augustinus aus der
Erbsünde her, nach der alle Abkömmlinge Adams aufgrund dessen erstem
Fehltritt (Erbsünde) sich versündigen
können. Durch die Taufe erhält der
Mensch dann die Gnade Gottes, mit
deren Hilfe die Sünde getilgt werden
kann16).
Dieser Zusammenhang von Sünde und
Schuld wird an einigen Urkundenbeispielen deutlich. Von besonderem Interesse ist eine Urkunde, in der es um
die Lösung eines Konfliktes zwischen
Wilhelm V. der Auvergne und der Abtei
von Charroux geht. Der Graf, der um
die Mitte des 11. Jahrhunderts an diese
Abtei eine Schenkung pro remissione
peccatorum nostrorum macht, will für
seine Missetaten in angemessener Form
Buße tun. Der Graf empfindet und äu-
ßert tiefe Schuld (et meam considerans
culpam). Man kann dies so auffassen,
dass er sich mit der Abtei wieder versöhnen wollte, weil er und seine Vorfahren diese beraubt und mehrfach geschädigt hatten. Die Urkunde enthält
vorab den allgemeinen Satz, dass sicher
ist, dass Zerstörer von Kirchenraum
auch Störer der Kirche Gottes sind (certum est quia violatoris sanctuarii sunt
dissipatores ecclesiarum Dei)17). Die
Usurpatoren von Kirchengut sollten
„von ganzem Herzen“ büßen und Wiedergutmachung leisten (et earum raptores substantiarum ... nunquam profecto nisi resipuerint ac toto corde poenitendeo omnipotenti Deo satisfecerint in superna Christi recipientur
ecclesia). Sollten sie dies allerdings nicht
tun, dann würde eine maledictio (Verfluchung) erfolgen und sie würden „in
äußerste Dunkelheit fallen“, was einer
ewigen Verdammnis entspricht. Es fällt
auf, dass eine solche maledictio auf
dem Friedenskonzil 1031 vom Bischof
von Limoges ausgesprochen wurde.
Aber bereits in Charroux und Poitiers
19
hatten die Bischöfe den Friedebrechern
das Anathem als Kirchenstrafe angedroht.
nachweisen können, und zwar in
Poitiers 1026 und 1036, in Charroux
1028 sowie in Limoges 1031.
Anhand der erwähnten Urkunde kann
man zum einen den Zusammenhang
von Schuld, Sünde und Vergehen beobachten, die den Tatbestand der
Usurpation von Kirchengütern, der auf
den regionalen Konzilien thematisiert
wurde, erfüllten, und zum anderen die
praktische Anwendung und Rolle der
Gottesfriedensnormen nachweisen.
Anhand dieses Falles kann also die Anwendung der abstrakt formulierten
Friedenskonzilien auf einen konkreten
Konfliktfall nachgezeichnet werden, bei
dem es zu keinem Gerichtsverfahren
gekommen und der mithin mit den
„Spielregeln der Politik“ gelöst worden
war. Wir können daraus ebenso folgern, dass die Regeln der Gottesfriedenstradition in die Kartularienpraxis
Einzug gehalten hatten. Sie wurden
zwar nicht explizit (Wort für Wort, Satz
für Satz) erwähnt; dies bedeutet jedoch
nicht, dass sie nicht angewandt wurden, denn auch das römische Recht
oder das Gewohnheitsrecht wurden
nicht eigens genannt, wenn man sich
auf sie stützte. Im 10. bis 12. Jahrhundert spielten Überlieferung, Herkommen und Gewohnheit die dominierende Rolle, das schriftlich aufgezeichnete Recht eine untergeordnete. Die
„Gemengelagen von Rechtsgewohnheit, verschriftlichtem und nichtschriftlichem Juristenrecht, Rechtsaufzeichnung, obrigkeitlichem Gesetz und
Gewohnheitsrecht“ verschob sich zusehends zugunsten der Schriftlichkeit,
und das mittelalterliche schriftlose
Recht war im Ganzen gesehen „Überzeugungsrecht“18). Da das örtliche Gewohnheitsrecht („coutumes de Charroux“) erst auf 1177 datiert wird, ist es
sogar eher wahrscheinlich, dass die
Friedensregeln, die noch immer in den
Köpfen der Menschen vorhanden
waren, im 11. Jahrhundert für die Lösung einschlägiger Konflikte bemüht
wurden und eine Rechtslücke schließen
konnten.
Nicht nur die zeitliche und örtliche Nähe der Urkunde zu den Frieden in der
Umgebung von Charroux (989), LePuy (994), Poitiers (1000-14) und
Limoges (994, 1028, 1031) sprechen
für die Verwobenheit mit den Gottesfrieden, auch eine inhaltliche Analyse
kann diese These bekräftigen. Wie der
erste Kanon des Konzils von Charroux
ausführt, wird gegen die Räuber von
Kirchen und Angreifern von Klerikern,
die keine Waffen tragen, das Anathem
verhängt, sollten sie keine Wiedergutmachung leisten. Die zuwiderhandelnden Friedebrecher sollten schließlich an
der Schwelle der Kirche zurückbleiben
(a liminibus sanctae Dei Ecclesiae habeatur extraneus). Diese Formulierung,
die schon aus der Karolingerzeit bekannt ist, verdeutlicht, dass es sich nicht
nur um eine Sünde (peccatum), sondern darüber hinausgehend um ein Delikt (crimen) handelt, das die gänzliche
Abtrennung von der Gemeinschaft der
Gläubigen zur Folge hat (Anathem).
Der einfache Sünder dagegen wird nur
von den Sakramenten ausgeschlossen,
verbleibt aber in der Gemeinschaft, die
für seine Rückkehr beten soll. Wilhelm
V. der Auvergne, der den Tatbestand
der Usurpation von Kirchengut gemäß
den Kanones des Konzils von Charroux
erfüllt hatte, nahm das Angebot zur
Wiedergutmachung (satisfactio) wahr,
damit kein Anathem gegen ihn ausgesprochen werden sollte.
In der Urkunde sind überdies zwei
wichtige Personen namentlich erwähnt;
dies verleiht ihr zusätzliche Bedeutung,
denn beide spielten für die Friedensbewegung eine außerordentliche Rolle. Es
sind dies Leo IX., der eine aktive Position beim elsässischen Frieden von
1094/95 (pax alsatiensis), seiner Herkunftsregion, einnahm; als zweite Persönlichkeit begegnet uns der Bischof
von Poitiers Isembert I., den wir bis
1047 auf allen Gottesfriedenskonzilien
20
Diese Zusammenhänge lassen sich
ebenso aufzeigen an Hand zweier Auseinandersetzungen mit der Familie von
Rochemeaux, die in der zweiten Hälfte
des 11. Jahrhunderts von ihr usurpiertes
Gut an die Abtei von Charroux
restituierte, um zu ihr und der Gemeinschaft der Gläubigen zurückzufinden; zwecks Aussöhnung vollzogen
einige Familienangehörige als Bußleistung eine entsprechende Schenkung
an die Abtei19).
Sichtbare Ausformung der
Friedensbemühungen
Auf der Suche nach Spuren von Institutionen der Friedensbewegung fallen so-
fort die im Süden Frankreichs und in
Katalonien verbreiteten Schutzräume
auf. Dabei handelt es sich um „heilig“
erklärte Zonen, die im allgemeinen als
30-Schritt-Zone um eine Kirche auftreten und sacraria (katalanisch: sagrera)
genannt werden. Sie sind als architektonisch sichtbare Ausformungen der
Friedensbemühungen anzusehen und
ergänzen insoweit das Bild der praktischen Bestätigung der Friedensnormen in der mittelalterlichen Gesellschaft. Nach außen und für illiteratae
erkennbar sollte sein, welche Bereiche
für sie unantastbar waren und keine eigenmächtigen Eingriffe duldeten. Die
rechtliche Bedeutung ist groß, da diese
Friedenszonen stets Gegenstand der
katalanischen Friedenskonzilien waren,
wobei das erste 1027 in Toulouges bei
Elne (vgl. Abb. 2 unten) abgehalten
wurde20). Schon das Vokabular dieser
Friedenszonen, die in den Konzilien und
im späteren Gewohnheitsrecht Kataloniens (Usatges de Barcelona) vorkommen, ist auffällig. Es gibt eine echte
„Texttradition“ der Formeln von pax et
treuga (katalanisch pau e treva) und der
30-Schritt-Zone, die man zum ersten
Mal auf dem 12. Konzil von Toledo im
Jahre 681 ausfindig machen kann und
die für Schutz suchende Flüchtige einen
Sicherheitsbereich um die Kirche festlegte. Die Kirche sanktionierte die Verletzung des Asyls mit Exkommunikation
und der Androhung einer Strafe durch
den König. Die Texttradition führt über
die katalanischen Konzilstexte (sacraria)
bis in das Gesetzbuch von Barcelona
(Usatges) hinein (12./13. Jh.). Die Attribute von pax und treuga sind Ecksteine
beim Aufbau der noch jungen Grafschaft von Barcelona und Kataloniens
und bezeichnen allgemeinen Frieden.
Bemerkenswert ist, dass die Usatges de
Barcelona nicht nur die Paarformel pax
et treuga beinhalten, sondern ebenfalls
die beiden Attribute jeweils allein21). So
wie die Usatges von der vergangenen
Konzilstradition Kataloniens geerbt haben, hat auch Eike von Repgow bei der
Verfassung des Sachsenspiegels auf vor
seiner Zeit liegende Friedensbestimmungen rekurriert und mithin überliefertes Recht wiedergegeben (vgl. Landrecht II, 66 und 69)22).
Die Betrachtung der französischen und
katalanischen Frieden für den Zeitraum
von drei Jahrhunderten (11.-13. Jh.)
bestätigte die grundlegende rechtliche
Bedeutung der Friedensbewegung von
den frühen Gottesfrieden bis hin zu den
Universität des Saarlandes
Landfrieden und dem Gewohnheitsrecht. Für Deutschland wurden prominente Fälle für die praktische Bedeutung einzelner Friedenstexte geliefert;
die Ermordung des Bischofs Godrich
von Laon oder des Erzbischofs Engelbert I. von Köln repräsentieren beste
Fälle für die Annahme, dass Landfriedenstexte bei der Bestrafung der
Mörder zur Anwendung kamen, etwa
das Rädern für Engelberts Mörder23).
Ebenso ist der Überfall auf Bischof Lambert von Arras (1093-1115) ein geeignetes Beispiel, um zu zeigen, dass Landfriedensbestimmungen in der rechtlichen Praxis der damaligen Zeit herangezogen werden konnten. Lamberts
Korrespondenz ist von Begriffen der
Friedensbewegung stark durchsetzt, etwa den Friedensstatuten, in denen die
Atrien um die Kirchen durch die Pax Dei
geschützt wurden. In seinen Briefen
setzt er sich gleichermaßen für die Verurteilung beraubter Pilger aus seiner
Diözese ein und wendet dabei die statuta pacis an. Diese Friedensregeln
wurden 1091 auf dem Konzil von
Soissons proklamiert. Im Jahre 1095
wird Lambert, als er sich auf dem Wege
zum Konzil von Clermont (1095) befand, selbst Opfer einer Aggression, als
er von Guarnerius von Pont, dem Bruder des Bischofs von Troyes, gefangen
genommen und mehrere Tage in
Gewahrsam gehalten wurde. Diese Episode wird innerhalb seines Reiseberichtes detailreich geschildert. Interessanterweise finden sich in Lamberts Notizen just die Bestimmungen
des Konzils von Clermont, die von
Übergriffen gegen Geistliche handeln,
in Sonderheit die Gefangennahme von
Bischöfen, so als ob Lambert selbst einen verwandten Fall bzw. eine kirchenrechtliche Grundlage für seinen eigenen
Fall gesucht hätte. Kanon 32 sieht nämlich für denjenigen, der einen Bischof
gefangen hält, die ewige Infamie (Ehrlosigkeit, Schmach, Schande) sowie die
Ablegung seiner Waffen vor. Diese
Norm folgt der Bestimmung nach, die
die Rechtsfolgen des Raubes der Güter
nach dem Tod des Bischofs regelt und
mit dem Anathem bestraft; hier handelt
es sich um Strafen, die einen sozialen
Abstieg in der Gesellschaft bedeuteten.
Das Beispiel des Bischofs Lambert von
Arras zeigt, dass sein Schriftverkehr
nicht nur vom Friedensvokabular
durchdrungen ist, sondern er dieses
auch in die Rechtspraxis umsetzen
wollte24).
magazin forschung 2/2003
Forschungsdesiderate:
Die Friedensbewegung in der Literatur
Künftige Untersuchungen dürften unseren Befund der Friedensrechtspraxis
nur noch verstärken; als wichtiges Desiderat sei erwähnt die Erforschung des
wissenschaftlichen Umgangs mit der
Treuga Dei und den Friedensvereinbarungen seit dem Aufkommen der
Rechtsschulen bzw. der Gründung der
Rechtsfakultäten und dem damit verbundenen Einfluss des römischen wie
des gelehrten Rechtes. Es interessieren
nicht nur einzelne Rechtsinstitute, etwa
die Zeugenregelungen (idoneitas als
Voraussetzung für das Ablegen eines
Zeugnisses) im Prozess, sondern auch
das Auffinden bislang unveröffentlichter Friedenstexte. Schließlich bleibt
noch aufgegeben, entsprechende Entwicklungen auf der Iberischen Halbinsel
zu ergründen.
Wünschenswert wäre auch eine einschlägige Analyse erzählender Quellen,
so wie dies Wolfgang Sellert für das
Buch III des in der ersten Hälfte des 12.
Jahrhunderts, also in der Stauferzeit
entstandenen Tierepos Ysengrimus beispielhaft vorgeführt hat. Aus der Rede
des Wolfs ergibt sich, dass er sich nicht
einmal scheute, den Frieden am
Osterfest, also an einem der laut Sachsenspiegel unter besonderen Friedensschutz gestellten „Heiligen Tage“ zu
verletzen, falls damit Vorteile für ihn
verbunden wären25).
Auch im Ritterepos El Cantar de Mio
Cid gibt es Anzeichen für die Kenntnis
und die Einbeziehung der Friedensgebote in die damalige Rechtspraxis. Von
der gesamten spanischen mittelalterlichen Heldenepik ist der Cid in fast
vollständiger Form überliefert. Trotz der
einzelnen Datierungsprobleme kann
man sagen, dass der Cid in rudimentärer Form über längere Zeit mündlich
tradiert wurde, ehe ihn ein begabter
und in Rechtsfragen versierter Autor
um 1200 in seine strukturierte Form
brachte und niederschrieb; sehr wahrscheinlich ist dies der im Schlussvers
genannte Per Abad gewesen, der in
den Rechtsfragen der Zeit gut unterrichtet war. Der Cid stand in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts im
Dienst von König Alfons VI. von Kastilien, der die 1094 vom Cid eroberte
Stadt Valencia gegen die Almoraviden
nicht halten konnte und sie 1102 völlig
niederbrennen ließ. Der Cid kämpfte im
Maurengebiet, raubte Ortschaften aus
und zwang diese zu Tributzahlungen.
Er scheute sich auch nicht, in das Territorium des christlichen Grafen von Barcelona einzudringen und diesen sogar
gefangen zu setzen. Gerade in dieser
Invasion des Cid auf das Gebiet des
Grafen von Barcelona ausgangs des 11.
Jahrhunderts kann ein Landfriedensbruch gesehen werden: „Die Kunde
von ihm ging nach allen Himmelsrichtungen. Die Nachricht gelangte auch
zum Grafen von Barcelona, dass mein
Cid Ruy Diaz sein ganzes Land durchzog. Das verdross ihn gar sehr, und er
fasste es als schwere Beleidigung
auf.“26) Da der Cid Straßen und Wege
in der Grafschaft Barcelona verunsicherte, war der usatge 62 berührt, denn
diese Regel, die zur „Gran Constitució“
des Grafen Ramón Berenguer I. von
Barcelona (um 1060) zählte, schützte
die Sicherheit von Straßen und öffentlichen Wegen27). Aus der gleichen Epoche wie der Cid und ebenso aus dem
Genre des altspanischen Ritterepos
stammt der Cantar de los siete Infantes
de Lara, der die Auseinandersetzungen
und die Fehde zweier kastilischer Familien enthält28), in deren Verlauf die
sieben Infanten getötet und die abgeschlagenen Köpfe ihrem Vater nach
Córdoba gebracht wurden. Dort hielt
sich als Flüchtling und Gast des arabischen Herrschers al-Mansur der Vater
der Infanten auf, dessen Sohn, den er
mit einer Muslimin gezeugt hatte, dieses unmenschliche Verbrechen rächen
sollte29).
Die letztgenannten Texte sind natürlich
nur eine Auswahl der in Frage kommenden Literatur. Sie bieten indessen
reichlich Material für künftige Analysen
unter dem Aspekt der Friedensbewegung, die sich auf der iberischen
Halbinsel zusehends ausbreiten konnte.
Verweise und Erläuterungen
1) Dietmar Willoweit, Die Sanktionen für
Friedensbruch und der Kölner Gottesfriede
von 1083. Ein Beitrag zum Sinn der Strafe in
der Frühzeit der deutschen Friedensbewegung, in: Ellen Schlüchter/Klaus Laubenthal
(Hg.), Recht und Kriminalität. Festschrift für
Hermann Krause, Köln 1990, S. 44.
2) Hans-Werner Goetz, La paix de Dieu en
France autour de l´an Mil: fondements et
objectifs, diffusion et participants, in: Michel
Parisse/Xavier Barral i Altet (Hg.), Le Roi de
France et son royaume autour de l´an mil,
Paris 1992, S. 142-145.
21
3) Thomas Gergen, Le concile de Charroux
et la paix de Dieu: Un pas vers l’unification
du droit pénal au Moyen Age?, in: Bulletin
de la Société des antiquaires de l´Ouest et
des Musées de Poitiers (B.S.A.O.), Poitiers
1998, S. 1-58; dem folgend: Rolf Grosse,
Der Friede in Frankreich bis zur Mitte des 12.
Jahrhunderts, in: Franz-Reiner Erkens/ Hartmut Wolff (Hg.), Von Sacerdotium und
Regnum, Geistliche und weltliche Gewalt im
frühen und hohen Mittelalter. Festschrift für
Egon Boshof zum 65. Geburtstag, Köln/
Weimar/Wien 2000, S. 86-87.
4) Paul Hinschius, System des katholischen
Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf
Deutschland, Berlin 1878-1893, ND Graz
1959, Bd. IV, S. 749-750 und 801.
5) Gerhard Dilcher, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches
Problem, in: Gerhard Dilcher/Heiner Lück/
Reiner Schulze/Elmar Wadle/Dietmar Willoweit/Udo Wolter (Hg.), Gewohnheitsrecht
und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter
(Schriften zur Europäischen Rechts- u. Verfassungsgeschichte 6), Berlin 1992, S. 26.
6) Cécile Treffort, Le comte de Poitiers duc
d’Aquitaine, et l’Église aux alentours de l’an
mil (970-1030), in: Cahiers de Civilisation
Médiévale 43 (2000), S. 395-445.
7) Giovanni Domenico Mansi (Hg.), Sacrorum conciliorum nova et amplissima
collectio, Florenz/Venedig 1759-1798, ND
Paris 1899-1927, ND Graz 1961 ff., XIX,
265-268; Ludwig Huberti, Studien zur
Rechtsgeschichte der Gottesfrieden und
Landfrieden, Ansbach 1892, S. 135 ff.;
Roger Bonnaud-Delamare, Les institutions
de paix en Aquitaine au XIe siècle, in:
Recueils de la Société Jean Bodin, Bd. XIV,
Brüssel 1962, S. 437 ff.; Hartmut Hoffmann,
Gottesfriede und Treuga Dei (Schriften der
MGH 20), Stuttgart 1964, ND 1986, S. 31
ff.
8) So das Konzil von Meaux aus dem Jahre
845: „nec absque metropolitani cognitione
et provincialium episcoporum iuditio
quemlibet anathematizandum esse permittimus“ (c. 56), siehe Giovanni Domenico
Mansi (Hg.), Sacrorum conciliorum nova et
amplissima collectio, Florenz/Venedig 17591798, ND Paris 1899-1927, ND Graz 1961
ff., XIX, 265-268, XIV, 832.
Burdegalensis, subscripsi, qui et Aginnensis
episcopus“.
11) Olivier Guillot/Yves Sassier, Pouvoirs et
institutions dans la France médiévale. Des
origines à l´époque médiévale, Bd. 1, 3.
Aufl., Paris 1999, S. 81-82.
12) Hans-Werner Goetz, Die Gottesfriedensbewegung im Licht neuerer Forschungen, in: Arno Buschmann/Elmar Wadle
(Hg.), Landfrieden, Anspruch und Wirklichkeit (Rechts- und Staatswissenschaftliche
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98), Paderborn 2002, S. 31-54.
13) Guillot/Sassier, Pouvoirs (Fn. 11), S. 217.
14) Wolter, Die „consuetudo“, in: Dilcher/
Lück/Schulze/Wadle/Weitzel/Wolter (Hg.),
Gewohnheitsrecht (Fn. 5), S. 87-116, insbes.
S. 101.
15) Daniela Müller, Schuld – Geständnis –
Buße. Zur theologischen Wurzel von Grundbegriffen des mittelalterlichen Strafprozessrechts, in: Hans Schlosser/Rolf Sprandel/
Dietmar Willoweit (Hg.), Herrschaftliches
Strafen seit dem Hochmittelalter. Formen
und Entwicklungsstufen (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen, 5),
Köln/Weimar/Wien 2002, S. 418-420; Stefan Kuttner, Kanonistische Schuldlehre von
Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX.,
Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, 1935, S. 3.
21) Thomas Gergen, Pax et treuga dans Romanistik et Germanistik, in: Günter Holtus/
Johannes Kramer (Hg.), Miscellanea in honorem Max Pfister septuagenarii oblata Bd.
II (Beiträge zur Romanistik 7), Darmstadt
2002, S. 311-320.
22) Thomas Gergen, Paix éternelle et paix
temporelle. Tradition de la paix et de la trêve
de Dieu dans les compilations du droit
coutumier territorial, in: Cahiers de Civilisation Médiévale 45 (2002), S. 165-172.
23) Reinhold Kaiser, Mord im Dom. Von der
Vertreibung zur Ermordung des Bischofs im
frühen und hohen Mittelalter, ZRG (KA) 110
(1993), S. 95-134, hier S. 127; Elmar Wadle,
Landfriedensrecht in der Praxis, in: Buschmann/Wadle (Hg.), Landfrieden (Fn. 12), S.
89-92.
24) Thomas Gergen, Gottesfrieden und
Gewalt gegen Bischöfe. Überlegungen zu
den Rechtsgrundlagen des Sanktionensystems, in: Natalie Fryde/Dirk Reitz (Hg.),
Bischofsmord im Mittelalter. Murder of
Bishops (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 191, Kolloquium 21.-24. September 2000), Göttingen
2003, S. 83-97.
16) M. Lambert, Péché, in: Dictionnaire du
Moyen Age, Claude Gauvard et al. (Hg.), 2.
Auflage, Paris 2002, S. 1061-1062.
25) Wolfgang Sellert, Das Verfahren gegen
den Wolf aus der Sicht des Rechtshistorikers,
in: Ulrich Mölk (Hg.), Literatur und Recht.
Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in
die Gegenwart (im Auftrag der Akademie
der Wissenschaften), Göttingen 1996, S. 5780.
17) Thomas Gergen, Et meam considerans
culpam ...- La paix de Dieu comme source
juridique pour la résolution des conflits, in:
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376-380.
26) Übersetzung der Laisses 55 und 56 (v.
957-966) übernommen von Hans-Jörg Neuschäfer, El Cantar de Mío Cid (Klassische
Texte des Romanischen Mittelalters), München 1964, S. 90-91.
18) Dilcher, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit (Fn. 5), S. 53-55 und 63; Jürgen
Weitzel, Gewohnheitsrecht und fränkischdeutsches Gerichtsverfahren, in: Dilcher/
Lück/Schulze/Wadle/Weitzel/Wolter (Hg.),
Gewohnheitsrecht (Fn. 5), S. 79.
27) Gener Gonzalvo i Bou, La Pau i Treva a
Catalunya. Origen de les Corts Catalanes,
Barcelona 1986, S. 105.
9) Hinschius, System (Fn. 4), Bd. V, S. 278.
19) Thomas Gergen, The Peace of God and
its Legal Practice in the Eleventh Century, in:
Cuadernos de Historia del Derecho, Bd. 9,
Madrid 2002, S. 11-27.
10) Pierre Delalande (Hg.), Conciliorum
antiquorum Galliae a Jac. Sirmondo, S.J.,
editorum supplementa nunc prodeunt,
opera et studio Petri Delalande, Paris 1666,
S. 328: „Ego Gumbaldus, archiepiscopus
20) Thomas Gergen, Droit canonique et protection des „cercles de paix“ - Le vocabulaire de la protection, droit, in: La protection
spirituelle au moyen âge (XIIIe-XIVe siècle),
Cahiers de Recherches Médiévales, Bd. 8,
22
Orléans 2001, S. 135-142.
28) Thomas Gergen, Zur mittelalterlichen
Gottes- und Landfriedensbewegung in Katalonien. Ein Forschungsbericht, in: Mitteilungen des Deutschen Katalanistenverbandes 40 (2001), S. 54-62.
29) Manfred Tietz, Die frühen Werke der
spanischen Literatur, in: Hans-Jörg Neuschäfer (Hg.), Spanische Literaturgeschichte,
Stuttgart 1997, S. 30.
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